Erschienen in Ausgabe: No 119 (01/2016) | Letzte Änderung: 01.04.16 |
von Ingo Friedrich
The
European: Erneut hat der Islamische Terror in Paris zugeschlagen. Welche
Bedeutung hat dies für Europa?
Friedrich:
Der Anschlag hat Europa ins Herz getroffen. Er wird
natürlich den Graben zwischen Islam und Europa vergrößern. Um so wichtiger ist,
dass alle Islamvertreter in Europa unmißverständlich jeglicher Gewalt mit
islamistischer Begründung entgegentreten. Auch Imane mit nicht akzeptablen
Äußerungen müssen sofort gestoppt werden, um weitere Mißleitungen von
Jugendlichen zu verhindern.
The
European: Wie kann sich Europa gegenüber diesen perfiden Mördern schützen, was
unternimmt Europa gegen die Terrorbekämpfung?
Friedrich: Die Außengrenzen der EU müssen strikt kontrolliert
werden. Jeder Einreisende muss sich ausweisen, muss registriert werden, muss sich
korrekt verhalten. Wer sich unkorrekt verhält, muss sofort ausgewiesen werden.
Ansonsten müssen alle Sicherheitsorgane gestärkt werden, um ihre Aufgabe in der
bedrohten neuen Situation wahrzunehmen.
The
European: Wie steht es gerade um Europa?
Friedrich:
Nicht so gut.
Bei der Flüchtlingskrise sagen viele Beobachter, dass Europa bei der Verteilung
von Flüchtlingen versagt hat. In Wirklichkeit ist es aber so, dass Europa dazu
noch gar keine Kompetenzen hat. Die Nationalstaaten lehnen es bisher ab, die
Kontingente aufzunehmen. Andererseits steht Europa in der Verantwortung, die
Außengrenzen anders zu sichern als bisher. Ich glaube, es führt kein Weg daran
vorbei, dass wir die Außengrenzen der Europäischen Union, sei es in
Griechenland, sei es in Italien, sichern müssen, so wie es Spanien bereits
macht.
The
European: Haben
Sie Angst, dass Europa vor dieser Herausforderung zerbricht?
Friedrich:
Europa wird
daran nicht zerbrechen, aber es gibt Risse, es gibt Flügelbildungen. Eine
schöne Entwicklung ist es sicher nicht. DieHerausforderung durch die Flüchtlinge ist offenbar so gigantisch, dass
die europäischen Organe bisher nicht so antworten können, wie wir uns das
erwarten. Die Zusammenarbeit aller nationalen Sicherheits- und Polizeiorgane
muss intensiviert werden.
The
European: Wie wird die Rolle der Bundeskanzlerin in Brüssel wahrgenommen?
Friedrich:
Der Bundeskanzlerin
macht man den Vorwurf, dass sie durch ihre Äußerung, die Grenzen ein paar Tage aufzumachen,
gewisse Erwartungen geweckt hat. Damit bietet sie natürlich eine
Angriffsfläche. Und alle können jetzt darauf hinweisen, es sei die
Bundeskanzlerin gewesen, die diesen Flüchtlingsstrom in Richtung Deutschland
ausgelöst hat. Der wäre aber meiner Meinung nach genauso gelaufen, auch ohne
diese Äußerung. Durch eine konkrete Politik muss nun eine Reduzierung der
Zuwanderung erreicht werden.
The
European: Die Schweiz wählte konservativ,
Polen und Ungarn sowieso. Haben Sie Angst vor einem Rechtsruck?
Friedrich: Ich würde es weniger als Rechtsruck,
eher als Signal eines nationalen Egoismus betrachten. Da gibt es eine
historische Parallele: Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation war es
nämlich ähnlich. Eine schwache Zentralgewalt, damals der Kaiser, stand den harten
und nachhaltig kämpfenden Kurfürsten gegenüber. Hier sehe ich eine gewisse Parallele
zwischen dem Europa von 800 nach Christus bis 1806 und demheutigen Europa – dies alles geht aber zu
Lasten eines gemeinsamen europäischen Agierens auf globaler Ebene.
The
European: Wird derzeit über eine Lösung bei der Flüchtlingsfrage
diskutiert, die von allen EU-Mitgliedern akzeptiert werden kann?
Friedrich: Das ist sehr schwer, denn Staaten wie zum Beispiel Polen
sind bisher überhaupt nicht daran gewöhnt, islamische Bürger aufzunehmen. Sie
werden sich deshalb leider weigern, diese Aufnahme zu akzeptieren. Andererseits
werden auch diese Länder auf Dauer nicht darum herumkommen, einem europäischen
Gesamtkonzept zustimmen zu müssen. Denn die Polen oder andere osteuropäische
Staaten, auch Dänemark, brauchen ihrerseits die europäische Solidarität, sodass
sie auf Dauer einen gewissen Solidaritätsbeitrag – auch bezüglich der
Flüchtlinge – leisten werden müssen.
The
European: Sie sprechen oft vom „europäischen Menschen, was haben wir denn darunter zu verstehen?
Friedrich: Der europäische Mensch ist
natürlich nicht gescheiter als andere Menschen, aber ich will damit zum
Ausdruck bringen, dass wir, wenn das Projekt Europa erfolgreich bleiben soll, dieses
Europa auch vom Herzen her anders beurteilen müssen. Dazu würde gehören, dass
neben der regionalen und der nationalen Identität ein europäisches Empfinden,
eine europäische Identität dazukommt. Und diese additive europäische Identität
habe ich mit dem „europäischen Menschen“ versucht zu beschreiben.
The
European: Nun isoliert sich Deutschland vom
Kurs anderer EU-Staaten mit seiner Politik der Willkommenskultur. Wie wird sich
die Position der Bundesrepublik innerhalb der EU vom jetzigen Standpunkt aus
entwickeln?
Friedrich:
Deutschland hat als
wirtschaftlich erfolgreiches (von der Bevölkerungszahl und von der
Wirtschaftskraft her größtem europäischen Staat) Land immer eine besondere
Rolle gespielt, die bisher auch gut angenommen worden ist. In der jetzigen Phase
ist es sehr schwer, eine Brücke zwischen der notwendigen und erwünschten
Führungsrolle Deutschlands und gleichzeitig der Akzeptanz der Sensibilitäten
und unterschiedlichen Erfahrungshorizonte der anderen Nationalstaaten zu bauen.
Diese Brücke zu schlagen, ist kompliziert. Ich bin mir aber sicher, wenn sich Frankreich,
Italien und Deutschland auf eine gemeinsame Agenda verständigen, hat dies eine zentrale
Bedeutung für die weitere Entwicklung Europas
The
European: Nun gibt es in Bayern einen Sonderweg
von Herrn Horst Seehofer! Wie wird denn dieses Eigeninteresse bzw.
Partikularinteresse innerhalb der Bundesrepublik in Europa wahrgenommen?
Friedrich:
Die europäischen
Partner machen keinen so großen Unterschied zwischen Deutschland und Bayern. Natürlich
weiß man in Brüssel und Straßburg, dass die meisten Flüchtlinge an der
bayrischen Grenze ankommen, Bayern besonders betroffen ist und deswegen
besonders berechtigt ist, eine Lösung einzufordern. Es herrscht Konsens
darüber, dass Lager an der bayerischen-österreichischen Grenze nicht sehr
sinnvoll erscheinen. Aber wenn die europäische Union es nicht schafft, an den
Außengrenzen solche Transitzonen zu installieren, dann werden die
Nationalstaaten handeln müssen. Wir kennen gigantische Flüchtlingseinrichtungen
aus Palästina, Zeltstädte mit über 100.000 Menschen, die über Jahre mehr oder
weniger schlecht oder recht funktionieren. Solche Aktivitäten an den
Außengrenzen der europäischen Union sind wahrscheinlich unvermeidbar.
The
European: Es wird derzeit über Merkels
Nachfolge spekuliert. Ist es auch ein Thema in der europäischen Union? Also
Schäuble als möglicher Kandidat?
Friedrich:
Nein, die
Europäer denken und erwarten, dass Frau Merkel, trotz dieser zeitweiligen
Schwierigkeiten und zeitweiligen Unstimmigkeiten, Kanzlerin bleibt.
The
European: Wo sehen sie die großen
Herausforderungen auf finanzieller, politischer und gesellschaftlicher Ebene
für die Europäische Union?
Friedrich:
Ich glaube, die
größten Herausforderungen sind im Bereich der mentalen und der Informationsebene
bei den Bürgern zu sehen. Die Veränderungen, denen wir gegenüberstehen, sind so
dramatisch übergreifend, dass die Erwartungen, die wir an die Bürger hinsichtlich
der Akzeptanz und dem Erlernen dieser neuen Komplexitäten stellen, sehr
anspruchsvoll sind. Ich sehe die größten Herausforderungen beim Informieren der
Bürger: Was bedeutet heute Digitalisierung, was bedeutet heute Globalisierung
mit offenen Grenzen, was bedeutet es, dass unkalkulierbare Bewegungen in
Afghanistan unmittelbare Auswirkungen auf Deutschland haben? Dies alles zu
verstehen und in einen Gesamtkontext einzuordnen, ist die größte
Herausforderung.
Finanziell
und wirtschaftlich sehe ich die Herausforderung derzeit als bewältigbar an. Was
darüber hinaus eine große Problematik sein wird, ist der kulturelle Aspekt.
Hier dürfen wir nicht von den mühsam gelernten Grundwerten Europas abweichen:
der Trennung von Staat und Kirche, der Religionsfreiheit, der Gleichberechtigung
von Mann und Frau. Hinzukommt: Für nicht grundlegende Religionsregeln gilt der Grundsatz:
Landesrecht bricht Religionsrecht. Diese vier zentralen Grundsätze dürfen an
keiner Stelle tangiert, geschweige denn abgeschwächt werden. Dies durchzusetzen,
wird die zweite ganz große Herausforderung sein.
The
European: Europa ist als Wert- und
Wirtschaftsgemeinschaft autonom. Aber inwieweit sind wir dann doch abhängig von
Amerikanern und Russen?
Friedrich: Das globale Spiel wird sehr
eng, weil die Welt kleiner geworden ist. Es gab einmal ein Bild, dass die drei,
USA, Russland und Europa, wie ein Schmetterling sein würden. Europa, der Körper
des Schmetterlings, in der Mitte, Amerika der Flügel links, und Russland der Flügel
rechts. Es gibt heute die Notwendigkeit eines Zusammenspiels, einer
Zusammenarbeit. Wir sehen das in allen Teilen der Welt, sei es in Syrien, sei
es in der Ukraine. So schwer es uns fällt, wir müssen mit diesen beiden anderen
Giganten zusammenarbeiten. Was wahrscheinlich aber das Wichtigste ist, dass wir
als Europäer – in entsprechender Zusammenarbeit der 28 Staaten –es lernen müssen, in einer ähnlichen Liga spielen
zu können wie die anderen beiden. Nur so
können wir als werdende Supermacht wahrgenommen werden und in dieser Rolle auch
unsere Meinungen für die globale Stabilisierung –neben den Amerikanern und Russen – einbringen.
The
European: Nationales und europäisches Denken stehen sich oft isoliert
gegenüber. Wird es nicht für die europäische Idee immer schwieriger, wenn immer weniger Leute Interesse für dieses Europa bekunden und sich
mehr auf ihr nationalstaatliches Denken fokussieren?
Friedrich: Es ist eine sehr schwierige Sache, dass die Bürger
durch zu wenig Information, aber auch durch mangelnde personelle europäische Identifizierungsmöglichkeiten,
zu wenig wissen, welche unschätzbaren Vorteile die Zusammenarbeit der
europäischen Staaten mit sich bringt. Vielleicht haben wir Europäer auch „einen
gewissen Fehler“ begangen. Wir haben vor lauter Sorge, das „Kind Europa“ könnte
Schaden erleiden, immer nur die Vorteile betont. Wir hätten vielleicht
glaubwürdiger auftreten können, wenn wir auch gesagt hätten, dass jede
Zusammenarbeit auch Nachteile hat, so wie jedes Medikament auch ungewollte
Nebenwirkungen hat, ja sogar wie jede Ehe auch Nachteile mit sich bringt. So
ist es unvermeidbar, dass die europäische Zusammenarbeit auch Probleme mit sich
bringt. Die Realität Europas bedeutet: ja, es gibt auch Nachteile, aber die
Vorteile der Zusammenarbeit überwiegen deutlich.
The
European: Derzeit werden die Flüchtlingszahlen permanent nach oben korrigiert. Eine Aufnahmekapazitätsgrenze, eine konkrete Zahl, wird dabei nicht
genannt. Wo würde diese Ihrer Meinung nach liegen? Wie viel Flüchtlinge
verträgt Europa?
Friedrich:
Das ist die
Frage aller Fragen. Diese kann aber im Augenblick noch nicht wirklich definiert
werden. Definieren lässt sich aber, von welchen Kautelendie
Obergrenze abhängt! Es hängt davon ab, welche Aufnahmekapazität die Nationalstaaten
neben Deutschland zur Verfügung stellen. Was sind diese bereit aufzunehmen? Das
ist eine sehr zentrale Aufgabe. Zweitens welche Aufnahmekapazitäten gibt es in
den Ländern, die zwischen Deutschland und der Außengrenze liegen, welche sind
dort realistisch? Und der dritte Aspekt ist, dass die Dimensionen der heutigen Flüchtlingszahlen
in dieser Größenordnung auf Dauer nicht bewältigbar sind. Es muss alles gemacht
werden, dass die Zahl der 2016 zu erwartenden Flüchtlinge deutlich unter der von
2015 liegt. Wenn wir aktuell von einer Millionen reden, dann sehe ich im
nächsten Jahr höchstens eine Aufnahmekapazität in halbierter Größe.
The
European: Kann in Europa das bisher fast
immer praktizierte Einstimmigkeitserfordernis bei strittigen Entscheidungen
beibehalten werden?
Friedrich: Einmal
ist ja das Einstimmigkeitserfordernis bei der Durchsetzung der kleineren Anzahl
von 120.000 Flüchtlingen durchbrochen worden. Da ist mit Mehrheit entscheiden
worden. Ein funktionsfähiges, staatsähnliches Gebilde kann auf Dauer nicht mit
Einstimmigkeit optimal funktionieren. Denn damit würden wir immer gegenüber den
anderen Giganten – China, Russland und Amerika – zurückfallen. Wir müssen bereit
sein, zu akzeptieren, dass es – so selten wie möglich – auch zu Entscheidungen
mit Mehrheiten kommt, zumal es in den Verträgen so vorgesehen ist.
The
European: Sprechen wir über die Zukunft Europas – wie sieht Europa in 20 Jahren
aus?
Friedrich: Ich erwarte mir trotz aller Probleme eine größere
Staatsähnlichkeit der europäischen Entwicklung. Die Themen werden immer mehr die Tendenz haben,
national allein nicht mehr lösbar zu sein. Und wenn sie national nicht mehr
gelöst werden können, dann muss es europäisch gemacht werden. Ich erwarte aber,
dass es, um es drastischer zu sagen, noch mehr kracht, blitzt und donnert als
bisher, dass europäische Entscheidungen häufiger als heute mit Nachtsitzungen
und unter dramatischen Bedingungen zustande kommen. Die Fakten sind einfach so:
Auch die Schweiz und Norwegen übernehmen ohne Murren permanent Gesetze aus
Europa. Sie haben dabei aber das Gefühl, sie seien souverän, was sie praktisch
gar nicht mehr sind.
The
European: Grexit oder Brexit. Dieses große
Thema, das seit Monaten Europa aufgerüttelt und zu heftigen Streitigkeiten
unter Staatspräsidenten und Wirtschaftsministern geführt hat, ist ja
mittlerweile durch die Flüchtlingskrise überlagert, verdrängt und aus dem
medialen Diskus fast verschwunden. Wie sieht denn da die Zukunft Griechenlands
ihrer Meinung nach aus?
Friedrich: Brexit wäre schlimmer als
Grexit. Die Wahrscheinlichkeit ist aber, dass die Griechen dableiben – trotz
mangelnder Reformbereitschaft, und dass die Engländer knapp entscheiden werden.
Die Realität wird dann jedoch insofern abgefedert,dass selbst bei einem Brexit, beim Austritt
der Briten, ein jahrelanger Scheidungsprozess anstehen wird. Es würde ja nicht
von heute auf morgen ein Bruch entstehen. Es würde genauso wie bei einem Beitritt
das Ausfädeln in verschiedenen Verträgen behandelt werden müssen, wo man
versucht, alles wieder auseinander zu dröseln,
sei es beim Binnenmarkt oder bei anderen Verträgen.
Ein
Austritt wäre kein Paukenschlag, sondern würde sich auch in der Realität als
langsamer Prozess darstellen. Wenn die Engländer feststellen, was es bedeutet:
nach drei, vier Jahren, eventuell sogar bevor es dann zum echten Bruch führen
würde, wäre sogar ein Zurück in die EU möglich. Ich erwarte bei England eher
eine langfristige Diskussion.
The
European: Was wäre eigentlich so schlimm wenn
Griechenland aus der Europäischen Union austritt?
Friedrich: Das wäre nicht so schlimm. Die
Wahrscheinlichkeit ist aber gering. Brexit wäre schlimmer als Grexit.
Fragen:
Stefan Groß
Der Text findet sich im neuen "The European"
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