Erschienen in Ausgabe: No 118 (12/2015) | Letzte Änderung: 02.03.16 |
von Berthold Wald
Europa und die Philosophie – wer
ist berufener sich damit zu befassen als das „Europäische Institut für
Philosophie und Theologie“. Ich muß allerdings gestehen, daß ich ein wachsendes
Unbehagen verspürt habe, je mehr ich über das Thema dieser Tagung nachgedacht
habe. Was ist denn konkret gemeint und was bereits mitgedacht und vorausgesetzt
in dem Appell: „Europa eine Seele geben!“ Die Betonung liegt ja wohl auf „geben“,
daher das Ausrufezeichen, und die nahegelegte These wäre dann: „Dazu braucht es
die Philosophie“! – Auch wenn der Untertitel vorsichtigerweise als Frage formuliert
ist, scheint mir damit doch etwas behauptet zu sein: „Das künftige Europa
braucht – auch – die Philosophie“. Dazu gleich mehr. Was Europa vor allem zu
brauchen scheint, ist die Akzeptanz seiner Bürger. Kommissionspräsident Jean
Claude Juncker hat am Mittwoch dieser Woche die neu gewählte EU-Kommission als "Kommission
der letzten Chance"bezeichnet und hinzugefügt: Entweder gelinge
es, die Bürger wieder für das europäische Projekt zu gewinnen, "oder wir
scheitern“. In Pressemeldung war dann zu lesen:
„An dieser Stelle wird es im
Europaparlament still. Von Heiterkeit ist im Straßburger Rund ist plötzlich
keine Spur mehr.“[1]
Konkreter formuliert sollte
es also darum gehen, die Bürger wieder für ein inzwischen seelenloses „Projekt Europa“
zu gewinnen – und das mit Hilfe der Philosophie? Meine Schwierigkeit, das Thema
philosophisch anzupacken, rührt schon daher, daß beide Schlüsselbegriffe –
„Europa“ und „Philosophie“ – mehrdeutig sind. Über welches Europa reden wir hier und über welche Philosophie?
Und wie
sollten wir über Europa reden: feierlich – politisch – visionär oder doch
eher diagnostisch – philosophisch – nüchtern?
„Europa“ steht heute für
vieles: den gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum, die gemeinsame
Friedenssicherung, einen zunehmenden Multikulturalismus und – erinnern wir uns –
mit „Europa“ war einmal zu Zeiten von Adenauer, Schuman und De Gásperi (terminologisch
nicht ganz deckungsgleich) das „christliche Abendland“ gemeint. Kaum anders
steht es mit der Philosophie – welcherPhilosophie? Ich
verzichte auf eine Liste heterogener akademischer Selbstkennzeichnungen. Es
genügt bereits eine einzige folgenreiche Unterscheidung, die Unterscheidung von
Glaube und Vernunft, um einen tiefen Graben zwischen den Philosophien deutlich
zu machen. Für die einen markiert diese Unterscheidung eine unüberwindliche
Trennungslinie zwischen unvereinbaren Konzeptionen von Philosophie. Philosophie
will und soll autonom sein und hat dazu den Wahrheitsanspruch des religiösen Glaubens
zu ignorieren, wenn nicht gar zu destruieren. Für die anderen wäre es geradezu
unphilosophisch, den Erkenntnisanspruch der Philosophie zu beschränken auf das,
was die Vernunft von sich her erkennen kann. Sie argumentieren nicht mit der
Autonomie der Vernunft, sondern mit dem Erkenntnisverlangen des Menschen. Was
will denn der Philosophierende wissen? Er will die Wahrheit über das Ganze
kennen: über das Sein und das Gute wie über das Leid und das Böse. Wem es
wirklich um das Ganze geht, der wird nicht davon absehen wollen, was der
religiöse Glaube darüber zu sagen hat.[2]
Es sind also Probleme mit den
Schlüsselbegriffen „Europa“ und „Philosophie“, die mich darin hindern, direkt
auf mein Thema loszusteuern. Den ersten Teil meines Vortrags werde ich darauf
verwenden, für
mich selbst Klarheit in die Fragestellung zu bringen. Wenn Philosophie
das Wunder vollbringen soll, Europa eine Seele zu geben, dann verlangt eine so
außergewöhnliche Therapie nicht allein eine schonungslose Diagnose des „Patienten
Europa“. Ich meine sogar, daß der bedauernswerte Zustand Europas zu einem nicht
unerheblichen Teil bestimmten einflußreichen philosophischen Strömungen in der
„westerncivilisation“ zuzuschreiben
ist. Im zweiten Teil will ich dann die positive Rolle der Philosophie ins Auge
fassen und zu zeigen versuchen, unter welcher Voraussetzung die anamnetische
Vernunft für Europa therapeutisch von Nutzen sein kann.
I.Europa und
die Philosophie – eine Tragödie
Also, worum geht es, wenn von
der „Seele“ Europas die Rede ist, und was hat die Philosophie damit zu tun, daß
Europa seine Seele verloren hat? Zunächst: „Europa eine Seele geben!“, das soll
ja wohl heißen, das gegenwärtige Europa der Wirtschaft und Politik hat keine Seele
– noch
keine oder keine Seele mehr.
Wenn Politiker wie Jacques
Delors davon sprechen, Europa eine Seele zu geben, dann ist mit Europa das
„gemeinsame Haus Europa“ gemeint – ein noch offenkundig seelenloses Artefakt
von Wirtschaft und Politik. Meine Schwierigkeit beginnt schon hier zu
verstehen, wie Wirtschaftsräume und Friedenszonen als Artefakte der Politik nachträglich
beseelt und in den Herzen der Bürger zum Leben erweckt werden können. Es macht
streng genommen keinen Sinn, von der Seele eines solchen Europa zu sprechen,
das in Brüssel und in den Hauptstädten Europas entworfen und administrativ durchgesetzt
wird. Ein Kunstprodukt kann nicht belebt werden. Nur ein Organismus kann leben, und er lebt, wenn
in ihm die Seele von Anfang an wirksam ist und nicht zu guter Letzt bloß von
außen hinzugefügt werden soll. Die Seele ist immer das Erste, sowohl dem Rang
wie der Zeit nach. Die Seele ist Prinzip und Wirklichkeit eines Organismus, der
in Zusammensetzung und Struktur die Möglichkeit hat zu leben. Das ist, wie Sie
gemerkt haben, so halberlei ein Aristoteles-Zitat aus seinem Buch „Über die
Seele“.[3]
So verhielt es sich jedenfalls
mit dem Europa, das es vor der
Konstitution der Europäischen Union schon gab. Es war kein Kunstprodukt,
sondern ein aus den Überzeugungen der Menschen lebender Organismus, beseelt vom
Christentum, welches die Erbschaft Jerusalems und Athens in sich aufgenommen
und an die Aufklärung weitergegeben hatte. Wie steht es heute um diese
Überzeugungen, vor allem aus Sicht der Politiker, die dieses Erbe zu erhalten und
fruchtbar zu machen hätten? Erinnern wir uns nur an die Diskussion um die
Präambel zu einer europäischen Verfassung. Von Entwurf zu Entwurf wurde die Bedeutung
des Christentums für Europa immer weiter abgeschwächt, bis nicht einmal mehr der
Name „christlich“ darin zu finden war.[4] Ich
zitiere aus der letzten und seither gültigen Fassung der Präambel die
einschlägige Passage:
„Schöpfend aus dem kulturellen,
religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen
und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit
und Rechtsstaatlichkeit als universelle Rechte entwickelt haben, […].[5]
Das Christentum kommt als
identitätsstiftende Kraft Europas darin nicht vor. Mehr noch: auch das
verschwommen an seine Stelle getretene „kulturelle, religiöse und humanistische
Erbe“ ist für das künftige Europa nur noch deklamatorisch von Bedeutung. David
Engels, ein an der Freien Universität Brüssel lehrender Historiker, kommentiert
diese Passage denn auch so:
„Offensichtlich zieht die
Europäische Union es […] vor, ihre spezifische kulturelle, religiöse und
humanistische Identität in die geschichtliche Vergangenheit abzuschieben und
gleichsam zu Krücken des Fortschritts zu machen, die, wie der Telegraph oder
das Phonogramm, ihren Wert als Wegbereiter der nachfolgenden Erfindungen hatten“.[6]
Das namentlich nicht genannte
Christentum soll nur noch zur Vorgeschichte eines Europa gehören, das nun darum
bemüht sein muß, sich eine neue Identität, eine „Seele“ zu geben. Doch, wie
David Engels zu Recht hinzufügt:
„Eine Identität ‚konstruiert’
man nicht, indem man lediglich einige ebenso universalistische wie
unpersönliche Gedanken auswählt und durch die verschiedensten Medien verkünden
lässt, daß das frische Gedankenkonglomerat nunmehr das neue Fundament eines
eigentlich Jahrhunderte alten Gemeinwesens zu bilden habe.“[7]
Ob man nun von
„universalistischen Gedanken“ oder philosophisch von „universalistischen
Werten“ spricht, tut nichts zur Sache. Auch ein als Wertegemeinschaft
konzipiertes neues Europa ist eine nicht lebensfähige, seelenlose Fiktion. Ein
letztes Mal dazu David Engels:
„Heute […] hat der Abbau von
Tradition und Glaube und die Schaffung der humanistischen Ersatzreligion [ich
ergänze: der Appell an „Werte“] nur einen schalen Verfassungspatriotismus
hinterlassen, der die entstehende gefühlsmäßige Leere nicht im Geringsten
auszufüllen im Stande ist.“[8]
Gestatten Sie mir, an diesem
Punkt noch konkreter zu werden. Wenn von Europa als einer postchristlichen und
postreligiösen „Wertegemeinschaft“ die Rede ist: Welche „Werte“ sind hier
eigentlich gemeint? Man kann die Ambivalenz des „Wertefundaments“ leicht
erkennen, wenn man sich anschaut, wie die in der europäischen Verfassung
garantierten grundlegenden und unveräußerlichen Rechte des Menschen durch das
Brüsseler Parlament und den europäischen Gerichtshof ausbuchstabiert werden. Im
Streit um den sogenannten Estrela-Bericht und die ignorante Mißachtung der Petition
einer europäischen Bürgerintiative wurde klar, daß eine Mehrheit im europäischen
Parlament quer durch die Fraktionen die Abtreibung zum menschrechtlich
gesicherten Grundrecht machen will und flankierend dazu europaweit eine dazu
passende Sexualerziehung zu etablieren sucht.[9] Ziel ist
die Neudefinition von Ehe und Familie und das Mittel dazu die „Entgrenzung“ der
Sexualität durch die Verbreitung der feministischen Leitidee von der sozialen
Konstruktion des Geschlechts. Erwartet wird von den Bürgern nicht bloß
Toleranz, sondern die Akzeptanz der neuen „Werte“, die notfalls durch Gesetze
gegen Homophobie erzwungen werden soll. Was sich da im Namen solcher Werte
abspielt, ist eine Revolution von oben, die wenig Rücksicht auf die
Überzeugungen der Bürger nimmt und die im Gegenteil dazu beitragen wird,
antieuropäische Ressentiments in und außerhalb Europas zu verstärken. Wer die
Geschichte der aus den USA nach Europa importierten Agenda zur Durchsetzung der
neuen „Werte“ und Freiheitsrechte wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe und
Euthanasie im Detail kennen lernen will, mitsamt den daran beteiligten EU-Politikern
und Intellektuellen, dem sei das Buch des ehemaligen slowakischen Außenministers
Vladimír Palko empfohlen. Sein Titel „Die Löwen kommen“ spielt an auf die
Verfolgungen der Christen in der Antike. Mit dem Untertitel will Palko
Aufmerksamkeit für die Frage wecken, „warum Europa und Amerika auf eine neue
Tyrannei zusteuern“.[10]
Es gibt also einigen Grund, der
von Brüssel progagierten Idee eines neuen Europa mit Skepsis zu begegnen. Der
tiefere Grund meiner Skepsis ist aber noch vorpolitisch. Nicht die Politiker
sind für mich das Hauptproblem, sondern eine hinter ihrem Rücken wirksame philosophische
Grundhaltung zur Wirklichkeit. Wozu uns der im Titel unserer Tagung in
Erinnerung gebrachte politische Imperativ auffordert, „Europa eine Seele geben!“
– daraus wird nichts und kann auch nichts werden, solange diese diffuse
Philosophie das politische Denken und Handeln bestimmt. Und was da im Konkreten
zu beseelen ist, soll davon ablenken, daß Europa bereits eine Seele hat. Diese
Seele ist ziemlich geschwächt, und das nicht erst seit heute und auch nicht durch
die Schuld der Politiker allein. Europa leidet heute an einem erheblichen
Verlust seines Wirklichkeitssinns, weil es schon länger an Amnesie, an
Gedächtnisverlust gelitten hat, was den Wirklichkeitsverlust zur Folge hatte.
Schuld daran ist auch die Philosophie, eine bestimmte Art von Philosophie jedenfalls, die
kaum vorsehbare Konsequenzen hat und die weiterhin das Denken sehr vieler
Menschen auch ohne eigene Kenntnis dieser Philosophie bestimmt.
Ich will zur Verdeutlichung dieser
philosophischen Grundströmung mit einer kleinen Geschichte beginnen, die sich
in Franz Rosenzweigs erst posthum veröffentlichten „Büchlein vom gesunden und
kranken
Menschenverstand“ findet.[11] Wir
begleiten einen berühmten Philosophen auf Krankenbesuch bei einem Patienten,
von dessen Erkrankung wir die Ursache zuvor schon kennen: Das Vertrauen in den
gesunden Menschenverstand ist ihm in dem Moment abhanden gekommen, als er „ins
Philosophieren geraten“[12] ist. Und
wir ahnen schon, daß es eben jener gleiche philosophische Wunderdoktor ist, der
das Virus dieser Erkrankung in Umlauf gebracht hat. Worin besteht diese
Krankheit? – Hören wir zu, was der Patient dem Arzt berichtet:
„Gestern noch war er fröhlich
und unbefangen seines Weges gegangen, hatte die Frucht vom Baume, die ihm seine
Augen wiesen, gebrochen, hatte mit dem Begegnenden Gruß und Rede getauscht. Und
plötzlich war er irre geworden an allem.“ […]
„Er fühlte sich wie gelähmt.
Die Starrheit des Staunens hatte ihn befallen. Seine Hände mochten nicht mehr
zugreifen, denn wer gab ihnen das Recht des Griffs, seine Füße mochten nicht
mehr ausschreiten, denn wer verbürgte Boden ihrem Tritt. Und so mochten seine
Ohren nicht mehr hören, denn wer war der andere, auf den sie hätten hören
sollen, – sein Mund [mochte] nicht mehr reden, denn lohnte es sich ins Leere zu
schöpfen?“[13]
Aber statt dem armen Mann das
Zutrauen in die Wirklichkeit und seinen gesunden Menschenverstand zurückzugeben,
sucht ihn der philosophische Wunderdoktor ganz von seinem Vertrauen in die
Wirklichkeit abzubringen und erklärt den Wirklichkeitsverlust zur notwendigen
Vorbedingung einer dauerhaften und endgültigen Heilung. Hören wir dem Gespräch
zwischen Arzt und Patient weiter zu:
„Ihr Ziel ist Ihnen ungewiß
geworden, nicht wahr? Tut nichts, handeln Sie nur so, als ob es Ihnen gewiß
wäre.“ „Ja aber, es ist mir doch eben nicht mehr gewiß.“ „Tut nichts, tut
nichts, mein Freund – als ob! Reden sie sich nur kräftig ein, daß es ihnen
gewiß wäre, kräftigen Sie Ihre Als-Ob-Muskulatur durch tägliche, stündliche
Übungen, so werden Sie den Erfolg schon spüren.“[14]
Doch der Patient ist noch
tiefer verunsichert als vom Arzt gedacht. Er bezweifelt auch, ob ihm auf diese
Weise zu helfen ist, woraufhin der Arzt ihm nur die Verdoppelung des „als ob“
anraten kann:
„Tun Sie eben ganz einfach,
als ob Sie täten!“ „Als ob ich so täte, als ob ich tue? Herr“ – „ Keine
Widerrede! Als ob, als ob. Doppelt hält besser.“[15]
Da auch das doppelte „als ob“
das Wirklichkeitsvertrauen des Patienten nicht wiederherzustellen vermag, empfiehlt
ihm der Arzt die Verdreifachung des „als-ob“ – zur Kompensation eines
Wirklichkeitsverlusts, der nun auch die Realität des Subjekts einschließt. Der
Arzt erklärt:
„Dreifach erst schließt sich
der Ring. Seien Sie sich selber ungewiß! Ich bin es auch. Nur tun Sie so, als
ob Sie selber täten. Als ob Sie täten, als ob Sie tun. Gott, Welt, Sie selber
schlingen sich so in ein Alsob. Es gibt ein einzig Sein, das
Sein-als-ob. In ihm ist alles untergebracht.“[16]
Und nachdem auch dieser
ärztliche Rat nichts zu helfen scheint, wagt der Kranke eine letzte
verzweifelte Frage:
„Genügt es nicht, wenn ich so
tue, als ob ich mich heilen lassen möchte?“ „Unverschämtheit! Meinen Sie, ich
sei hier, damit Sie Ihren Spaß mit mir treiben?“[17]
Der Arzt ist empört und der
Kranke verstummt. Doch, wer ist der Arzt, der als Wunderdoktor auftritt für
eine Erkrankung, die er selbst in Umlauf gebracht hat? Rosenzweigs satirische
Erzählung nimmt Hans Vaihingers „Philosophie des ‚als ob’“ aufs Korn, eine im Jahr
1911 erschienene Aktualisierung des philosophischen Idealismus. Vaihinger ist
Neukantianer und sieht im „als-ob“ die Klammer zwischen der theoretischen und der
praktischen Philosophie Immanuel Kants. Was sich in der „Kritik der reinen
Vernunft“ als unerkennbar und ungewiß erweist – die Dinge an sich, Gott,
Freiheit, Unsterblichkeit – wird nur zur Gewissheit durch das Bedürfnis der
praktischen Vernunft. Diese nötigt uns, zur Sinnstiftung im Ungewissen an Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit zu glauben.[18] Und in
der Tat findet sich bei Kant diese Denkfigur, die Rosenzweig ironisiert: Auch
wenn wir den aus dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand gewebten
Erscheinungszusammenhang niemals auf eine dahinter liegende Wirklichkeit
durchblicken können – wir sollen in praktischer Hinsicht so leben und handeln,
als ob uns die Existenz dieser Wirklichkeit gewiß wäre. Den Grund unserer
Gewissheit werden wir nicht in den Dingen finden können, sondern allein in uns
selbst: im unabweisbar praktischen Bedürfnis unserer Vernunft nach Orientierung
und Sinn.
Doch kann der Mensch so leben
– ohne Wahrheit, ohne erkennenden Zugang zu den wirklichen Dingen und zu sich
selbst? Rosenzweigs Satire endet mit dem Verstummen des Kranken. Robert
Spaemann erinnert in seinen „Gedanken zur Regensburger Vorlesung“ von Papst
Benedikt an ein reales Schicksal im Umkreis dieses philosophisch legitimierten
Wirklichkeitsverlusts:
„Einer der größten deutschen
Dichter, Heinrich von Kleist, hat sich getötet, weil er Kant in diesem Sinn
verstanden und ihm geglaubt hat: der Mensch ist in sich gefangen. Er hat keinen
Zugang zur Wirklichkeit. Aber solange er Mensch ist, kann er auf einen solchen
Zugang nicht verzichten. Ohne ihn lohnt es sich nicht zu leben, meinte Kleist.“[19]
Diese extrem spannungsreiche,
um nicht zu sagen in sich widersprüchliche Selbsterniedrigung bei
gleichzeitiger Selbsterhöhung des Menschen ist von erheblicher Tragweite für das
Denken nach Kant geworden. Gemeinsames Kennzeichen in allen Verzweigungen
dieser Einstellung, die explizit oder implizit bei Kant seinen Ausgang nimmt,
ist mit einem Wort von Eric Voegelin die „Realitätsfinsternis“ – das Verschwinden
der Realität – the eclipse of reality, wie der englischen Originaltitel des
nachgelassenen Fragments lautet.[20] In
sachlicher Nähe zu diesem Fragment steht auch ein weiterer Text von Voegelin mit
dem Titel „Drama of Humanity“.[21]
Wie kommt es zur
Verfinsterung und zum Verlust der Realität? Voegelins Antwort findet sich
gleich im ersten Satz der kleinen Schrift:
„Durch einen Akt der
Imagination kann der Mensch sich zu einem Selbst schrumpfen, das dazu ‚verdammt
ist, frei zu sein.‘ [frei meint hier: ohne Stütze durch die Wirklichkeit – daher
ist der Mensch zur Freiheit verdammt – die Anführungszeichen deuten an, daß
sich Voegelin mit dieser Formulierung auf Sartre bezieht]. Die Kontraktion
seines Menschseins zu einem in seine Selbstheit eingekerkerten Selbst ist das
Charakteristikum des sogenannten modernen Menschen.“[22]
Als hätte Voegelin
Rosenzweigs Satire vor Augen gehabt, beschreibt er die „Krankheit“ des modernen
Menschen verblüffend ähnlich so:
„Der Mensch, der an der
Kontraktion leidet, beabsichtigt jedoch nicht, das Gefängnis seiner Selbstheit
zu verlassen, […]. Vielmehr wird er seine Imagination noch mehr anspornen und
das imaginäre Selbst mit einer imaginären Realität umgeben [also einer Realität
unter dem Vorzeichen des „als ob“].“[23]
Diese imaginierte oder
entworfene Realität nennt Voegelin auch „zweite Realität“, da sie ja die Stelle
der „ersten Realität“ einnehmen soll. Doch bei dem Versuch, die „erste Realität“
als die Realität der gemeinsamen Erfahrung, auszublenden, wird es zwangsläufig,
so Voegelin weiter, „zu Friktionen zwischen dem geschrumpften Selbst und der
Realität kommen.“[24] Aber
nicht nur das: man darf Voegelin weiterdenkend annehmen, daß sich die Brüche
nicht nur individuell zwischen dem Selbst und der Realität ergeben, sondern – als
gesellschaftliche Friktionen – auch im Zusammenleben der Menschen. Die
Imaginatoren, welche die gemeinsame Realität verfinstern, sind „häufig Männer
mit ungewöhnlichen intellektuellen Kräften, sehr großem Wissen und
psychologischem Scharfsinn“.[25] Doch
ebenso gut sind
„die großen Entwerfer zweiter
Realitäten […] gesellschaftliche Kräfte, [welche] die rationale Verständigung
über einen unstrittigen Punkt in rauschende Zustimmung zur Deformation des
Menschseins verwandeln können.“[26]
Folgen wir der Spur dieses
Denkens bis unmittelbar in die Gegenwart hinein, um klarer zu sehen, daß nicht
jede Philosophie „europatauglich“ ist. Wir verstehen dann auch, weshalb die
politischen Konstrukteure und Imaginatoren eines „neuen Europa“, gerade wenn
sie von der Seele Europas als „Wertegemeinschaft“ reden, dies vor allem tun zur
Vertiefung der Kluft zwischen erster und zweiter Realität. Sie verschärfen
damit vorsätzlich den Konflikt zwischen sogenannten „rückständigen“ und
„fortschrittlichen“ Kräften in Europa – der „Fall“ Rocco Buttiglione hat das
erstmals in aller Deutlichkeit gezeigt – und sie tragen diesen Konflikt in die
nationalen Gesellschaften hinein, gegenwärtig als Debatte um eine nur
biologisch verstandene Sexualität versus soziale Zuschreibung des Geschlechts
(Sex und Gender). Ich beginne noch einmal mit einem Zitat zur Philosophie Kants,
das ich dem einleitenden Kapitel von Paul Boghossians Buch „Angst vor der
Wahrheit“[27]
entnehme.
„Immanuel Kant hat
bekanntlich verneint, dass die Welt, insoweit wir sie erkennen können,
unabhängig von den Begriffen sein kann, mit denen wir sie erfassen.“[28]
Aussagen über die
Wirklichkeit sagen uns also nichts darüber, wie die Dinge „an sich“ sind,
sondern nur darüber, wie sie in Abhängigkeit von unseren Begriffen erscheinen.
Angenommen, Kant hätte damit Recht, dann liegt es nahe mit Kant zu fragen, was denn
unsere Begriffe konstituiert, wenn das nicht die Wirklichkeit „an sich“ sein kann. In
der Gegenwartsphilosophie finden sich dazu zwei über Kant hinausgehende Antworttypen,
die jenseits der akademischen Philosophie Einfluß auf die gebildete
Öffentlichkeit genommen haben. Die bekannteste Antwort hat zuerst Ludwig
Wittgenstein mit seiner Sprachspieltheorie gegeben. Sie besagt, daß Sprache und
Denken wie Kuchenförmchen funktionieren. Mit Hilfe solcher Förmchen stechen wir
ein Stück aus der noch ungeformten Teigmasse aus. Größe und Gestalt dieses
Stückchens – denken Sie an Weihnachtsplätzchen – wird nicht von der
Beschaffenheit des Teigs, sondern allein von der Gestalt des Förmchens bestimmt.
Ganz ähnlich verhält es sich mit unserer Verständigung über die Welt. Sprachliche
Konventionen sind hier die Förmchen, die darüber entscheiden, wie wir die Welt
sehen.
Eine jüngere vor allem in
Amerika verbreitete Theorie ist von Wittgensteins Auffassung motiviert, geht
aber noch einen Schritt weiter. Ich zitiere Richard Rorty, der dem
Konstruktivismus – so heißt diese Theorie – in der amerikanischen wie in der
kontinentalen Philosophie zum Durchbruch verholfen hat. Rorty schreibt:
„Autoren wie Goodman, Putnam
und ich selbst – […] [denken, dass] es kein beschreibungsunabhängiges So-Sein
der Welt, kein So-Sein unter keiner Beschreibung gibt.“[29]
Wittgensteins
Sprachspielmodell des Weltverstehens ist diesen Autoren noch zu statisch und zu
eng. Die Beschreibungsabhängigkeit unseres Wissens von der Wirklichkeit beruht für
Rorty nicht allein auf vorgegebenen Sprachspielen, sondern auf der sozialen
Konstruktion unserer Begriffe. Als sozial konstruiert gelten ihm nicht bloß die
Beschreibungen der Welt, sondern auch die Tatsachen selbst. Ein solcher Tatsachenkonstruktivismus
läßt definitiv keinen Raum mehr für die Beschreibungsabhängigkeit der Realität.
Es gibt keine „Dinge an sich“. Nicht bloß unserer Begriffe, sondern auch
sogenannte „Tatsachen“ wie Berge, Giraffen, der Heliozentrismus und
selbstverständlich auch Mann und Frau, Ehe und Familie – sind sozial konstruiert.
Dieser grundlegenden
Veränderung im Bereich unserer theoretischen Einstellung zur Welt sollte dann
aus Sicht jener Philosophen konsequenterweise eine ebenso grundlegende Veränderung
unserer praktischen Überzeugungen folgen. Wir alle, und zuerst die politisch
Verantwortlichen, sollten im Geist dieser konstruktivistischen Philosophie alles
daran setzen, „Konstruktionen aufzudecken […], wo niemand sie [bisher] erwartet
hätte, also da, wo sich etwas konstitutiv Soziales als etwas Natürliches
maskieren konnte.“[30] Wenn
jedoch alles Natürliche „demaskiert“ werden kann als „sozial konstruiert“, dann
gibt es grundsätzlich keine ethische Norm, die nicht veränderbar wären. Darin
trifft sich der Konstruktivismus mit dem Naturalismus. Anders als
Konstruktivisten bestreiten Naturalisten zwar nicht, daß es
beschreibungsunabhängige natürliche Tatsachen gibt. Naturlisten sind ja zumeist
Physikalisten, denen eine ziemlich naive Vorstellung wissenschaftlicher
Objektivität zu eigen ist. Sie bestreiten aber, daß Tatsachen sittlich relevant
sein können. Gemeinsam ist dem Konstruktivismus und dem Naturalismus die
Überzeugung, daß nicht die Wahrheit, sondern die Nützlichkeit für unsere
Bedürfnisse darüber entscheidet, was wir tun oder lassen sollten.
Diese verbreitete Einstellung
zur Wahrheitsfrage ist unter dem Stichwort „postmoderner Relativismus“ besser
bekannt. Seine Anziehungskraft im politischen Diskurs beruht vor allem darauf,
daß der Relativismus als Gleichwertigkeitsdoktrin daherkommt. Doch ist er darum
keineswegs neutral. Im Gegenteil: Der Relativist sucht jede exklusive, auf
Wahrheit insistierende Einstellung zur Welt auszumerzen. Relativistische Gleichwertigkeitstheorien
wirken auf viele Zeitgenossen so attraktiv, weil sie dem Schutz von
Minderheiten zu dienen scheinen. In Umkehrung des biblischen Worts heißt es nun,
daß Wahrheit nicht frei macht, sondern Angst macht, und zwar denen, die anders
denken. In den USA begann der Aufstieg des Relativismus in der postkolonialen
Ära. In Europa wird die Akzeptanz der Gleichwertigkeitsdoktrin gefördert durch den
wachsenden Säkularismus und die Zunahme religiöser Vielfalt, während das Christentum
zur selben Zeit an Bedeutung verliert. Das multikulturelle Europa soll, mit
Rorty gesprochen, „eine Kultur ohne Zentrum“ sein, – frei vom Einfluß des Christentums
und ebenso frei von normativen Ansprüchen der Wirklichkeit an die menschliche
Vernunft.
Ich schließe diesen ersten
Punkt über „Europa und die Philosophie – eine Tragödie“ mit einem Vorblick auf
das Kommende, sofern es als Möglichkeit in dem heute Gegebenen angelegt ist und
zu seiner Korrektur der anamnetischen Vernunft bedarf. Wie ich zu zeigen
versucht habe, ist die undeklarierte Philosophie des neuen Europa die
Philosophie des „als -ob“, die den Wirklichkeitsverlust dogmatisch voraussetzt.
Auf der nächsten Stufe der Entwicklung prägen die Dogmen des Konstruktivismus und
Relativismus das kollektive Bewusstsein. Sie reden uns ein, daß uns dieser
Verlust endlich frei sein läßt, die Wirklichkeit nach unseren Vorstellungen zu
entwerfen und unsere „Orientierungen“ frei zu wählen: intellektuell wie
sexuell. Derzeit stehen wir an der Schwelle zu Stufe drei. Das programmatische
Wort „Europa eine Seele geben!“ läßt nichts Gutes erwarten für alle diejenigen,
die noch am Anspruch der Wirklichkeit festhalten und von dorther die Ordnung
des Lebens zu bestimmen suchen. Sie haben mit Sanktionen zu rechnen bis hin zum
Berufsverbot, wenn sie sich nicht dem Dogma der Gleichwertigkeit aller
Orientierungen zu unterwerfen bereit sind. Auf der vierten und letzten Stufe
der Neugründung Europas folgt die politische Entmachtung eines unaufgeklärten
Christentums als letzter Ordnungsmacht in Europa. Diese ist in Ansätzen schon
erkennbar.[31]
Sie wird von außen angetrieben durch Medien, Gerichte und Parlamente,
neuerdings von innen unterstützt durch einen Prozeß synodaler Selbstaufklärung.
II. Anamnetische Vernunft
- Rückbesinnung auf die Grundlagen der europäischen Kultur
Wir
sollten also besser nicht auf die Imaginatoren und Entwerfer eines neuen Europa
hören. Ihre Philosophie will uns aufklären über uns selbst und unsere Rolle bei
der Konstruktion der Realität. Das klingt nach Freiheit und Emanzipation von
undurchschauten Zwängen. Doch eine solche Philosophie schneidet uns ab vom
Licht der Wahrheit, ohne das wir nicht bloß die Orientierung verlieren, sondern
auch die Freude daran zu leben – denken wir an Rosenzweig und Kleist: der
Kranke verstummt und der hochsensible Dichter nimmt sich das Leben. Ein Leben
ohne Wahrheit und Sinn ist anfällig für alle Arten von Pathologien und
selbstzerstörerischer Gewalt.
Ich
will nun abschließend einen Gegenwurf skizzieren, dessen Titel „anamnetische
Vernunft“ ich bei Jürgen Habermas und Johann Baptist Metz geborgt habe, während
ich mich für den Inhalt lieber an Josef Pieper halte. Diese erinnernde Vernunft
war einmal die Grundlage der europäischen Kultur und sie muß es auch in Zukunft
bleiben, wenn Europa seine Seele bewahren und die Menschen miteinander
verbinden soll, statt sie in selbstverfertigten zweiten Realitäten voneinander
zu trennen und gegeneinander aufzubringen. Was ist nun mit dem Ausdruck „anamnetische
Vernunft“ gemeint?
„Anamnesis“
bedeutetet Erinnerung. Wir kennen das Wort schon von Platon her, für den die
Erinnerung das Fundament unseres Erkennens und der Orientierung über den Sinn
der Welt ist. So erinnern uns die großen mythischen Erzählungen an das
Unvordenkliche der menschlichen Existenz im Ganzen:an die Entstehung der Welt aus der neidlosen
Güte des Vaters, die urgeschichtliche Versuchung und Bestrafung des Menschen, das
jedem Menschen bevorstehende Gericht nach seinem Tod und die endgültige
Scheidung zwischen ewiger Verdammnis und ewiger Glückseligkeit. – All das ist
zwar auch für Platon nicht schon philosophisch gewiß, wohl aber ein lebenswichtiger
Kontrapunkt zur Philosophie, wie Josef Pieper das in seiner Platondeutung
genannt hat.[32] Ohne
dieses Gegenüber einer geglaubten Wahrheit, ohne einen der Vernunft von sich
her zwar unerreichbaren, aber dennoch vernunftförmigen Sinn des Ganzen, verliert
das Philosophieren seine existentielle Relevanz. Pieper zitiert Karl Jaspers,
der
„das
unbarmherzigste, schonungsloseste Wort […] gesprochen [habe], um das geheime
Gebrechen einer Philosophie zu beschreiben, welche die Substanz der großen
Überlieferung fallengelassen habe; ihre Signatur sei, so sagt er, ein ‚leer
werdender Ernst‘.“[33]
Die
politisch-gesellschaftliche Dimension dieses „geheimen Gebrechens“ ist in einer
Kontroverse zwischen Johann Baptist Metz und Jürgen Habermas zum Tragen
gekommen. Wenn die europäische Kultur universaler Humanität auf der
anamnetischen Vernunft beruht, dann ist es naheliegend zu fragen, wie sich der
Anspruch der Vernunft und die Autorität des Glaubens zueinander verhalten. Ohne
näher auf diesen Streit um die biblische bzw. philosophische Legitimation der
anamnetischen Vernunft einzugehen: Im Kern geht es bei Metz und Habermas um die
Bedeutung des Christentums für Europa und seines Verhältnisses zur Philosophie.
Auslöser des Streits ist die von Metz gegen Josef Ratzinger gerichtete These, das
gegenwärtige Christentum sei Erbe einer halbierten Vernunft. Es sei darum
schwach, weil es für die Universalität seines Wahrheitsanspruchs auf die
Philosophie der Griechen gesetzt habe. Josef Ratzinger liefere dafür den Beleg,
wenn dieser in einem Beitrag zum Thema „Europa – verpflichtendes Erbe für die
Christen“, schreibt: „Das Christentum ist die in Jesus Christus vermittelte
Synthese zwischen dem Glauben Israels und dem griechischen Geist.“[34]
Metz setzt dagegen die These, daß es „ein originäres Denk- und Geistangebot für
das Christentum auch aus Israel [gibt].“[35]
Und dieses originäre Geistangebot sei als das geschichtliche Andenken Israels
wesenhaft anamnetisch und von der Überfremdung durch den Universalismus des griechischen
Geistes zu befreien.
Gegen
diese zu simple Sicht (Metz bietet ja nur eine neue Variante der altbekannten
Enthellenisierungsthese) meldet sich Habermas zu Wort mit seinem Beitrag
„Israel oder Athen. - Wem gehört die anamnetische Vernunft?“[36]
Der
für unser Thema „Europa und die Philosophie“ entscheidende Punkt bei Habermas
ist nun der, daß er die von Metz kritisierte Spannung zwischen dem Erbe Jerusalems
und dem Erbe Athens geradezu als schlechthin geschichtsbildende und für das
heutige Europa unverzichtbare Kraft ausweist. Ohne diese „kontrapunktische
Spannung“, um noch einmal den Ausdruck Josef Piepers zu verwenden, seien die
wesentlichen Elemente der europäischen Kultur und Rechtsverfassung nie
entstanden:
„Ich
meine den Begriff der subjektiven Freiheit und die Forderung des gleichen
Rechts für jeden – auch und gerade für den Fremden in seiner Eigenheit und
Andersheit. Ich meine den Begriff der Autonomie, einer Selbstbindung des
Willens aus moralischer Einsicht, die auf Verhältnisse reziproker Anerkennung
angewiesen ist.“[37]
Nur
die fortgesetzte Erinnerung an das gemeinsame Erbe Israels und Athens, an die
Symbiose von Glaube und Vernunft, vermöge die vormoralischen Grundlagen des
modernen europäischen Rechtsstaates im Bewußtsein der Öffentlichkeit lebendig zu
erhalten.
Dieser
Streit zwischen Metz und Habermas gehört so gewissermaßen zur Vorgeschichte des
berühmten Münchner Dialogs zwischen Jürgen Habermas und Josef Ratzinger über
die vormoralischen Grundlagen des modernen Rechtsstaats.[38]
Was für den modernen Rechtsstaat gilt, gilt auch für Europa. Beide
Institutionen sind ohne die Ressourcen des griechisch-jüdischen Erbes nicht
lebensfähig. Die Europa von allen anderen Kulturen unterscheidende Synthese von
Vernunft und Glaube ist der Boden, auf dem die Ideen der Würde des Menschen,
der Gewissensfreiheit und der universalen Menschenrechte gewachsen sind und auf
dem allein sie bewahrt werden können. Ein Exklusivismus gegeneinander gerichteter
Wahrheitsansprüche gefährdet dagegen den Bestand der europäischen Rechtskultur.
Habermas und Ratzinger stehen für die Überzeugung, daß die Bewahrung der
wechselseitigen Verwiesenheit von universaler Vernunft und christlichem Glauben
ein gemeinsames Anliegen von politischer Philosophie und christlicher Theologie
sein und bleiben sollte.
Der
politische Wille, Europa eine Seele zu geben, und dabei von seiner
philosophisch-theologischen Grundlegung abzusehen, scheint mir nicht zuletzt
die Folge eines wissenschaftsorientierten Fortschrittsglaubens zu sein. Dieser
beruht auf der naiven Annahme, daß sich die anamnetische Vernunft durch die szientistische
Vernunft ersetzen läßt. Was den politischen Konstrukteuren des neuen Europa dabei
offensichtlich entgeht, ist der Umstand, daß die anamnetische Vernunft
keineswegs nur zur Vorgeschichte Europas gehört. Vielmehr beruht die
sinnstiftende Identität Europas bis heute auf der produktiven Spannung von
Vernunft und Glaube, Wissenschaft und christlicher Religion, Staat und Kirche. Nach
den politischen Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts kann die Antwort auf
die Frage, wo sich Europa heute befindet und künftig befinden wird, nicht
einfach von der Entwicklungslogik rationaler Teilsysteme (Wissenschaft,
Technik, Wirtschaft) erwartet werden. Die „Seele“ Europas, durch welche es lebt
und sich von anderen Kulturen unterscheidet, also das unterscheidend
Abendländische, ist von Josef Pieper als
„theologisch
gegründete Weltlichkeit“[39]
bezeichnet worden. Zu der in und durch Europa selbstverständlich gewordenen „Weltlichkeit“
gehört eine bestimmte Weise der institutionellen Verfaßtheit des Lebens, die
auf das mittelalterliche Europa zurückgeht. In dieser Zeit sind Ordnungsmuster
der Welt geschaffen worden, die die Welt über Europa hinaus bis in die
Gegenwart hinein prägen: die Stadt, die Universität, das säkulare Recht, um nur
einige zu nennen. Es sind dies die fundamentalen Integrationsleistungen, worin
das Fremde sich mit dem Eigenen und das Neue sich mit dem Vertrauten verbindet.
Der Wille zur Integration setzt als Prinzip der europäischen Kultur die Bipolarität
und produktive Spannung von Vernunft und Glaube, Entdecken und Bewahren,
Fortschritt und Tradition voraus.[40]
Säkularismus und Szientismus dagegen ignorieren die anamnetische Dimension der
Vernunft und versuchen diese Spannung nach einer Seite hin aufzulösen. Am
Offensichtlichsten gerät dabei die Ambivalenz des Fortschritts aus dem Blick
und weniger offensichtlich etwas, was man die indirekte Sicherung grundlegender
Ziele menschlicher Existenz nennen könnte.
Daß
wissenschaftlich-technischer Fortschritt und sittlich-kultureller Fortschritt nicht
einfachhin zusammenfallen, ist glücklicherweise im öffentlichen Bewußtsein
präsent. Wir haben heute ein schärferes Bewusstsein für die Risiken und die
Kosten technologischer Veränderungen. Nicht bloß gegenüber dem Fortschrittsglauben
sind wir skeptischer geworden, sondern auch bei den Fortschritten im Einzelnen
wollen wir heute wissen, ob sie gesellschaftlich und ökologisch verantwortbar
sind. Es ist mit den Jahren ein Bewusstsein dafür gewachsen, daß Fortschritt
und Bewahrung zusammen gehören. Wir fragen heute eben nicht nur, was wir
technisch verbessern und verändern können, - wir fragen ebenso, was wir
bewahren und schützen sollten: die Umwelt, die Vielfalt der Arten, die
menschliche Natur, - was dann oftmals auch von Nichtglaubenden unter dem Titel
„Bewahrung der Schöpfung“ gefordert wird.
Doch
wie kann die für das Bewahren notwendige sittliche Einstellung selber vor
Erosion und Veränderung bewahrt und geschützt werden? Dazu einige abschließende
Bemerkungen zum Thema „Indirektheit“ der Sicherung grundlegender Ziele menschlicher
Existenz. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als könne man die unmittelbar
wichtigen Ziele der menschlichen Existenz durch Gesetze und politische
Maßnahmen direkt beeinflussen und sicherstellen: die Freiheit durch die
Erweiterung von Freiheitsräumen in Europa und das Glück seiner Bürger durch
sozialpolitische Verteilungsmaßnahmen. Nehmen wir noch die Sorge um den Frieden
und die Gesundheit hinzu, dann haben wir die wichtigsten Felder der
europäischen Politik im Blick. Es sind dies alles Güter, die nur nebenher erreichbar
sind, als „Zugabe“, sofern etwas anderes intendiert ist, ganz so, wie es im
Matthäus-Evangelium heißt: „Suchet zuerst das Reich Gottes und seine
Gerechtigkeit, und alles Andere wird euch hinzugegeben“. (Matth. 6,33) Wer
unmittelbar das Glück intendiert, wird mit Sicherheit nicht glücklich werden,
und ebenso ist die ängstliche Sorge um die Gesundheit oft genug die
tieferliegende Ursache der Erkrankung. Der zu allen Zeiten ersehnte und immer
neu gefährdete Frieden wird sich nur einstellen, wenn es den Mächtigen zuerst
um Gerechtigkeit und die Anerkennung des Anderen geht. Gleiches gilt für die
Freiheit. „Wer für die Realisierung der Freiheit kämpft, muß vor allem kämpfen
für inhaltlich bestimmte Werte (Wahrheit,
Gerechtigkeit, Menschenwürde und so fort).“[41]
Dem fügt Josef Pieper noch die zwar gewagte aber doch bedenkenswerte Behauptung
hinzu, „daß zu den Ideen, die der Realisierung der Freiheit im Wege sind,
gerade die Idee der Freiheit gehört.“[42]
Für
die zentrale Frage der neuzeitlichen Philosophie nach der Gewißheit der
menschlichen Erkenntnis gilt etwas Analoges. Das Verlangen nach Gewißheit steht
der Erkenntnis im Wege.[43]
Es kommt in gleichen Moment zur „Verfinsterung der Realität“ (Voegelin), als sich
vor das Vertrauen in die Wirklichkeit das Verlangen nach absoluter Gewißheit an
die erste Stelle setzt. Aber worauf beruhte das verlorene Vertrauen und wie läßt
es sich wiederherstellen, wenn es keine täuschungsfreie Gewißheit über die
Wirklichkeit geben kann? Robert Spaemann hat im Blick auf Friedrich Nietzsches
radikale Infragestellung jedes rein auf Erkenntnis abzielenden
Wirklichkeitsbezugs so geantwortet:
„Wo
das Urvertrauen in die Welt einmal erschüttert ist, da bedarf es seiner
ausdrücklichen Wiederherstellung durch das Vertrauen auf Gott.“[44]
Mir
scheint darin Piepers Grundgedanke von der „theologisch gegründeten
Weltlichkeit“ wiederaufgenommen, in der Überzeugung, daß es auch der
Philosophie für ein humanes Europa nur insoweit bedarf, als sie nicht die erste
Stelle einzunehmen sucht, sondern als anamnetische Vernunft im Licht des
christlichen Glauben steht. „Gott, rette die Vernunft!“ – so lautet der Titel
der bereits zitierten philosophischen Diskussion um die Regensburger Vorlesung
von Papst Benedikt XVI.[45]
Aber warum muß sich die Vernunft erst retten lassen, um als anamnetische Vernunft wirklich Vernunft sein zu können? Die beste und
kürzeste Antwort, die ich kenne, findet sich einem Buch des amerikanischen
Philosophen Alasdaire MacIntyre. Sie lautet folgendermaßen:
“What faith enables us to recognize is the
nature and influence of those convictions and biases as sources of error,
something to which we are otherwise apt to be blind. […] Reason therefore needs
Christian faith, if it is to do its own work well. Reason without Christian
faith is always reason informed by some other faith, characteristically an unacknowledged
faith, one that renders its adherents liable to error.”[46]
[1]
Tagesspiegel von Mittwoch, 22. Oktober 2014.
[2]
Paradigmatisch dafür ist das Werk von Josef Pieper. Vgl. insbesondere seine
„Schriften zum Philosophiebegriff“ (Hrsg. B. Wald), Hamburg 1995.
[3]
Vgl. Aristoteles, Über die Seele II,1; 412b 5.
[4]
Vgl. David Engels, Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der europäischen Union
und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen, Berlin/
München 2014, S. 175 ff.
[5]
Präambel des Vertrags von Lissabon; in: Amtsblatt der Europäischen Union C306,
17. Dezember 2007.
[6]
D. Engels, Auf dem Weg, S. 178 (Herv. B.W.).
[7]
Ebd., S. 25.
[8]
Ebd., S. 180.
[9]
Vgl. zur neuesten Entwicklung den Beitrag von Werner Münch, Die neue Ideologie
des Bösen (Die Tagespost, 5. März 2015, S. 9). Vgl. auch den aufschlußreichen
Bericht eines deutsch-türkischen! Online-Journals (DTJ – Online vom
10.12.2013).
[10]
Vladimír Palko, Die Löwen kommen. Warum Europa und Amerika auf eine neue
Tyrannei zu steuern, Kißlegg 2014.
[11]
Franz Rosenzweig, Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand,
Frankfurt am Main 1992 (erstmals 1964 im Joseph Melzer Verlag, Düsseldorf,
erschienen).
[12]
Ebd., S. 33.
[13]
Ebd., S. 34.
[14]
Ebd., S. 35.
[15]
Ebd.
[16]
Ebd., S. 36.
[17]
Ebd., S. 37.
[18]
Vgl. zu Kants Glauben an die Bedürfnisse der praktischen Vernunft den
ironischen Kommentar von Heinrich Heine in seiner für das französische Publikum
geschriebenen Abhandlung „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in
Deutschland, Drittes Buch; in: ders., Werke Band 4, Schriften über Deutschland
(Hrsg. H. Schanze), Frankfurt 1968, S. 120-165, 122f., 132.
[19]
Robert Spaemann, Gedanken zur Regensburger Vorlesung Papst Benedikts XVI.; in:
Gott, rette die Vernunft! (André Glucksmann u. a.), Augsburg 2008, S.
155.
[20]
Eric Voegelin, Realitätsfinternis, Berlin 2010.
[21]
Ebd., letzte Seite (nicht paginiert), Hinweis des Herausgebers Peter J. Opitz.
[22]
Ebd., S. 5.
[23]
Ebd., S. 6.
[24]
Ebd.,
[25]
Ebd., S. 50.
[26]
Ebd., S. 51.
[27]
Paul Boghossian, Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und
Konstruktivismus, Frankfurt a. M. ²2013.
[28]
Ebd., S. 15.
[29]
Richard Rorty, Wahrheit und Fortschritt, Frankfurt a. M. 2000, S. 128.
[30]
P. Boghossian, Angst vor der Wahrheit, S. 25
[31]
Die amerikanische Journalistin Dale O’Leary schließt ihr Buch „The Gender
Agenda. Redefining Equality“ (Lafayette, Louisiana 1997) mit einer Liste
programmatischer Ziele, die seit den UN-Weltfrauenkonferenzen in Kairo (1994)
und Beijing (1995) auf dem Weg über das Brüsseler Europaparlament Einfluß auf
die nationalen Parlamente nehmen werden. Der letzte Punkt lautet: „Discrediting all religions that oppose this
agenda.”
[32]
Vgl. Josef Pieper, Was heißt Philosophieren?; in: ders. Werke in acht Bänden
(hrsg. B. Wald), Bd. 3, Schriften zum Philosophiebegriff, Hamburg 1995, S. 59.
[33]
J. Pieper, Die mögliche Zukunft der Philosophie; in: Werke, Bd. 3, S. 322 f..
[34]
Josef Ratzinger, Europa – verpflichtendes Erbe für die Christen; in: Franz
König/ Karl Rahner (Hrsg.), Europa. Horizonte der Hoffnung, Graz u.a. 1983, S. 68.
[35]
Johann Baptist Metz, Anamnetische Vernunft. Anmerkungen eines Theologen zur
Krise der Geisteswissenschaften; in: Axel Honneth u.a. (Hrsg),
Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung (FS für Jürgen Habermas),
Frankfurt a. M. 1989, S. 734.
[36]
Jürgen Habermas, Israel oder Athen. Wem gehört die anamnetische Vernunft?
Johann Baptist Metz zur Einheit in der multikulturellen Vielfalt; in: ders.,
Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essay,
Frankfurt a. M. 1997.
[37]
Ebd., S. 103 f.
[38]
Jürgen Habermas, Josef Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft
und Religion, Freiburg 2005.
[39]
Vgl. dazu das letzte Kapitel in seinem Buch „Scholastik. Gestalten und Probleme
der mittelalterlichen Philosophie; in: Josef Pieper, Werke in acht Bänden
(Hrsg. B. Wald), Hamburg 2001, S. 426 ff.
[40]
Vgl. Berthold Wald, Theologisch gegründete Weltlichkeit. Bipolarität als
Grundlage europäischer Identität; in: H. Fechtrup, F. Schulze, Th. Sternberg
(Hrsg.), Europa auf der Suche nach sich selbst. Ein Symposion der Josef Pieper
Stiftung, Münster 2010, S. 39-45.
[41]
Josef Pieper, Religion und Freiheit; in: ders., Werke in acht Bänden (Hrsg. B.
Wald), Bd. 8,2 Miszellen, Register und Gesamtbibliographie, Hamburg 2008, S. 468.
[42]
Ebd.
[43]
Vgl. Josef Pieper, Über das Verlangen nach Gewißheit; in: ders., Werke Bd. 8,1,
Hamburg 2005, S. 115-121.
[44]
R. Spaemann, Gedanken zur Regensburger Vorlesung, S. 162.
[45] Vgl Anm. 18.
[46] Alsadaire MacIntyre, God,
philosophy, universities. A Selective History of the Catholic Philosophical
Tradition, London 2009, S. 152f.
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