Erschienen in Ausgabe: No 119 (01/2016) | Letzte Änderung: 04.01.16 |
von Frank Ulrich Montgomery
Deutschland steht im Herbst 2015 ganz im Zeichen der
Flüchtlingskrise. Experten des Bundes rechnen bis Jahresende mit mehr als einer
Million Menschen, die in Deutschland Asyl begehren könnten. Die Lage in vielen
Erstaufnahmeeinrichtungen und Registrierungsstellen ist bestenfalls angespannt,
oftmals sogar chaotisch. Das betrifft nicht zuletzt auch die medizinische
Versorgung der Flüchtlinge. Sowohl aus medizinischer wie auch aus rein
menschlicher Sicht ist klar: Kranken Kindern ist ein Winter in Zelten nicht
zuzumuten. So schnell wie möglich müssen leerstehende Immobiliengenutzt werden,
damit diese Menschen in feste, gut beheizbare Behausungen kommen. Das
Engagement der Ärzteschaft für die Flüchtlinge ist enorm. In Berlin
beispielsweise haben sich so viele Ärzte für die ehrenamtliche Hilfe gemeldet,
dass der personelle Bedarf mittlerweile mehr als gedeckt ist. Deutschlandweit
rücken Mediziner im Ruhestand an, um sich vor Ort einzubringen. Niedergelassene
und Klinikärzte schieben nach Dienstschluss unentgeltlich Überstunden in
Erstaufnahmeeinrichtungen. Krankenhäuser stellen ärztliches und pflegerisches
Personal ab. Und in mehreren Städten hat die Ärzteschaft Notfallpraxen eigens
für Flüchtlinge auf den Weg gebracht. Eine Dauerlösung kann dies jedoch nicht
sein. Die Politik ist gefordert. Sie muss endlich für geeignete rechtliche
Rahmenbedingungen bei der gesundheitlichen Versorgung der Flüchtlinge sorgen.
Mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz gehen Bund und Länder dabei einen
Schritt in die richtige Richtung. Krankenkassen sollen künftig verpflichtet
werden, die Krankenbehandlung für Empfänger von Gesundheitsleistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz zu übernehmen und eine Gesundheitskarte an
Asylbegehrende auszugeben, wenn sie durch die zuständige Behörde dazu
aufgefordert werden. Nun ist es wichtig, dass die Karte auch flächendeckend
eingeführt wird.
In Bremen und Hamburg gibt es diese Karte bereits. In weiteren13 Bundesländern
sind die Pläne für die Einführung mehr oder weniger weit fortgeschritten.
Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben die Einführung bereits
angekündigt. Auch in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern wird sie kommen.
Brandenburg will im Frühjahr 2016 so weit sein. Die Baden-Württembergische
Landesregierung hat Eckpunkte für die Einführung der Gesundheitskarte
ausgearbeitet. In Niedersachsen liegt der Entwurf einer Rahmenvereinbarung mit
den Kassen vor. In Rheinland-Pfalz befindet sich eine solche Vereinbarung in
Vorbereitung. Im Saarland und in Sachsen-Anhalt laufen die Verhandlungen.
Hessen, Thüringen und Sachsen prüfen das Vorhaben derzeit noch. Warum lehnt
Bayern als einziges Bundesland die Gesundheitskarte für Flüchtlinge strikt ab –
trotz der guten Erfahrungen in Hamburg und Bremen? Die Menschen flüchten nicht
zu uns wegen der Krankenversorgung sondern weg von Hunger, Krieg, Leid und
Tod.Und der von Kritikern befürchtete Ausgabenanstieg ist ebenfalls
ausgeblieben. Im Gegenteil: Indem die Kassen mit der Abrechnung beauftragt
werden, sparen die Kommunen Personal und teure Software. Hamburg konnte dadurch
zuletzt rund 1,6 Millionen Euro pro Jahr einsparen, darunter die Kosten für 14
Sachbearbeiter.
Schlicht unethisch ist es, die Behandlungen von Flüchtlingen weiterhin auf
akute Erkrankungen und Schmerzzustände zu beschränken. Auch Asylbegehrenden
steht aus ärztlicher Sicht der volle Leistungskatalog der Gesetzlichen
Krankenversicherung zu. Es darf in Deutschland keine Patienten zweiter Klasse
geben.
Das gilt genauso beim Einsatz von Flüchtlingen mit medizinischer Ausbildung in der
Gesundheitsversorgung in den Aufnahmeeinrichtungen. Im Sinne des
Patientenschutzes gilt es zu vermeiden, dass ein Personenkreis ohne
ausreichende Kompetenzprüfung per Gesetz zu Quasi-Ärzten erklärt wird. Wir
haben Regeln, wie man eine ärztliche Qualifikation nachweist. Diese müssen auch
in Anbetracht der aktuellen Herausforderung weiterhin gelten.
Ungleichbehandlung droht auch bei der psychologischen und psychotherapeutischen
Behandlung von Flüchtlingen. Die Bundesregierung möchte durch eine Änderung der
Zulassungsverordnung die Möglichkeit schaffen, geeignete Ärzte, psychologische
Psychotherapeuten und psycho-soziale Zentren für die ambulante
psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung von Flüchtlingen zu
ermächtigen. Diese Regelung sollte sich auf die Behandlung aller Flüchtlinge
mit psychischen Erkrankungen beziehen und nicht, wie derzeit vorgesehen, nur
auf diejenigen unter ihnen, die schwere Formen psychischer, physischer oder
sexueller Gewalt erlitten haben. Ob ein Flüchtling eine Psychotherapie
benötigt, muss von unabhängigen und qualifizierten Gutachtern geprüft werden.
Bisher fällen solche Entscheidungen viel zu häufig Sachbearbeiter in den
Sozialbehörden oder fachfremde Gutachter. Falls eine Psychotherapie indiziert
ist, muss außerdem der Einsatz von Dolmetschern finanziert werden. Das ist in
der Asylrechtsreform leider nicht vorgesehen. Die Bundesärztekammer hat
gemeinsam mit der Bundespsychotherapeutenkammer Eckpunkte für ein Modellprojekt
zurpsychotherapeutischen Versorgung von Flüchtlingen erarbeitet. Das
Modellprojekt greift damit auch eine Forderung der Integrations- und
Gesundheitsministerkonferenz auf.
Unterdessen ruft die gesundheitliche Versorgung der Flüchtlinge auch die
EU-Kommission auf den Plan. Sie stellt den am stärksten betroffenen
Mitgliedsstaaten im Rahmen der finanziellen Soforthilfe für die Aufnahme der
Flüchtlinge und die medizinische Hilfe 73 Millionen Euro bereit. Außerdem will
sie einen Vorschlag unterbreiten, das Budget für 2015 um weitere 100 Millionen
Euro aufzustocken. Darüber hinaus haben alle Mitgliedsstaaten die Möglichkeit,
Hilfe über den EU-Zivilschutz-Mechanismus zu beantragen. Die Kommission
kündigte außerdem eine Liste der dringendsten ärztlichen Kontrollen an, die
insbesondere bei Kindern, Frauen, Schwangeren und alten Menschen vorgenommen
werden sollten.
Unsere Gesellschaft steht vor einer großen Herausforderung. Wir Ärzte sind
bereit, unseren Beitrag zu leisten und eine optimale gesundheitliche Versorgung
sicherzustellen – für alle Menschen. Dazu braucht es aber auch den politischen
Willen. Dann schaffen wir das!
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