Erschienen in Ausgabe: No 119 (01/2016) | Letzte Änderung: 07.01.16 |
von Robert Lembke
Die Flüchtlinge sind da. Aber man sieht sie kaum. Es gibt
Meldungen, die sich widersprechen. Von begeisterter Hilfe und Anteilnahme in
München, ausgerechnet München! Von brennenden Flüchtlingsunterkünften, von
Lagern und Menschenmassen, die Zäune niederreißen, irgendwo auf der
„Balkanroute“, mitten im neuen und alten Europa. Was bedeutet das alles?
Statt abzuwarten und den Neuankömmlingen eine Chance zu geben, sehen viele in
den Flüchtlingen den Anfang vom Ende. Glaubt man den düsteren Prophezeiungen,
von denen Internet und Gazetten voll sind, steht es nicht gut um Europa. Und
wenn selbst des Alarmismus unverdächtige, seriöse Denker wie Wolfgang Streeck
den Untergang des Römischen Reiches zum Vergleich heranziehen, sind es wohl
mehr als nur Unkenrufe. Also: Wie steht es um „uns“, um „Europa“? Wer so fragt,
muss zunächst klären, wovon er redet. Wo liegt Europa? Wo fängt es an, wo hört
es auf? Geht es um die Europäische Union der 28, um eine nicht näher
bezeichnete historische Landschaft oder, ein bisschen verstiegener, das Erbe,
den Geist, die so genannte europäische Kultur?
Von der Antwort auf diese Frage hängt mehr ab, als man denkt. Schnell hat man
als marktgläubiger Technokrat auf das falsche Pferd gesetzt und verrennt sich,
Stichwort Ukraine oder zuvor schon Georgien. Im Wahn der universalen
Vermittlung sieht man Chancen, wo keine sind und vergisst, wer man ist oder
wenigstens sein könnte.
Doch der Reihe nach. Wir leben in einer Zeit, in der „alle Ideen sich blamiert
haben“ (Karl Mannheim). Das furchtbare 20. Jahrhundert hat sie, wohlgemerkt
durch kräftiges Ausagieren, allesamt hinweggefegt. Geblieben ist uns nur eine,
Condorcets leerer Fortschrittsglaube an Wohlstand und Weltfrieden durch mehr
Handel und zunehmende Verflechtung der Menschen und Völker untereinander. Doch
während bei uns kräftig gegen TTIP aufbegehrt wird, haben die Nordamerikaner
mit TPP schon den nächsten Coup gelandet. Der pazifische Raum, seit Langem zum
Mittelmeer des 21. Jahrhunderts ausgerufen, hat damit ein Argument mehr, was
„live long and prosper“ angeht. Amerikanische Beobachter, die sich im hippen
Berlin ein schönes Leben machen („wie New York vor 30 Jahren!“), haben sich
denn auch, immerzu „german angst, german angst“ rufend, nicht lange bitten
lassen, in den Abgesang auf das veränderungsmüde Europa einzustimmen. (Eric T.
Hansen, „Euer Ende ist nah“, ZEIT vom 08.10.2015, S. 12).
Wahr ist, Europas geopolitische Lage könnte ungünstiger kaum sein. Die drei
schwerwiegendsten Probleme liegen direkt vor der Haustür: Afrika mit seinen failing
states, seiner Unterentwicklung und Überbevölkerung, der mehr als tragische
Nahost-Konflikt und vor allem die vollkommen destabilisierte arabische Welt,
die, nicht zuletzt durch unser Zutun (der todgeweihte „arabische Frühling“), in
die Phase ihrer Selbstzerfleischung und einen möglicherweise hundertjährigen
Krieg eingetreten ist.
Als wäre das nicht genug, ist da noch ein weiteres, nicht eben harmloses
Problem: Russland. Die Entwicklung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gibt
wenig Anlass zur Hoffnung. Die Russen sind gefährlich, weil sie nicht mehr viel
zu verlieren haben. Da hilft auch kein von Helmut Schmidt angeführtes Heer von
Russlandverstehern, die Gefahr ist ganz real. Wie es um den östlichen Nachbarn
auf der Seite des Lebens steht, kann man bei der aktuellen
Literaturnobelpreisträgerin nachlesen, deren Bücher in Russland natürlich
verboten sind.
Fakt ist jedoch: Die Rohstoffe würden uns guttun. Darum die Vorsicht gegenüber
Russland und die Nachsicht mit Putin, wenn er wieder einmal die Muskeln spielen
lässt. Tatsache ist auch: Kulturell gesehen gehört Russland zu Europa, mit
Christentum, Puschkin und Dostojewski, Strawinsky und Rachmaninoff. Doch wie
von hier nach dort kommen? Die russische Seele ist tief, wie die deutsche es
einst war. Anders als die „verspätete Nation“ hat sie den Liberalismus niemals
auch nur umarmt, und wir können nicht einmarschieren und haben auch sonst wenig
Mittel, eine russische reeducation herbeizuführen, ein Entseelung im Sinne des
Zivilisierungsprogramms des Liberalismus, wie sie Deutschland zu weiten Teilen
erfolgreich abgeschlossen zu haben scheint.
Zurück zu den Flüchtlingsströmen, die nach Europa schwappen. In einem an
brutaler Einseitigkeit nicht zu überbietenden Pamphlet von 2008 („Finis
Germaniae?“) sagt Gunnar Heinsohn, entschlackter Nachfahre Spenglers und, bei
aller Differenz der Mittel, mit diesem einig in der Affirmation von Macht sowie
im Herbeisehnen des Untergangs des machtunfähigen Europas, den bemerkenswerten
Satz: „Diese Gebiete [Afrika und der Nahe Osten, R.L.] können rein quantitativ
die von Deutschland bis 2050 benötigte Zusatzbevölkerung bereitstellen.“
Also, vielleicht denkt Merkel weiter als die meisten: Natürlich wird sie die
Massen von Emigranten nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit aufnehmen, und
ihr Vertrauen in die Integrationsfähigkeit und Stabilität der europäischen
Gesellschaften muss man fast schon wieder bewundern. Abgesehen davon aber
herrscht gähnende Leere, die Klagen über sich durchlavierende, gesichtslose
Politiker sind Legion, Politik im eigentlichen Sinne von Gestaltung ist kaum zu
sehen. Deutschland propagiert und fördert heute im Namen Europas dieselbe Leere
und Kulturvergessenheit, gegen die es einst welthistorisch aufgestanden war.
Das hat unter anderen Agamben klar gesehen und benannt.
Was ist sonst noch erkennbar außer Austeritätspolitik und technokratischem
Optimierungswillen? Alle Perspektiven und Handlungsoptionen basieren auf
Deutschlands anhaltendem ökonomischen Erfolg. Dessen Dauer aber ist, siehe
oben, durch nichts garantiert: Wenn zum Beispiel Industrie 4.0 failliert und
die deutsche Autoindustrie von selbstfahrenden Billigautos aus den USA und
China allmählich in die Knie gezwungen wird – was dann?
Europa hat noch gar nicht begonnen
Eigentlich ist bestürzend, wie wenig sich Europa nach seinem Untergang in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts um sich selbst gekümmert hat. Was einst als
Montanunion begann, war nie mehr als ein loser Verbund im Schlepptau der
unseligen NATO, zusammengehalten von ein paar Wirtschaftsinteressen. Will sich
Europa im globalen Kampf um Einfluss und Wohlstand erfolgreich behaupten, muss
es darüber hinausgehen, es muss sich, so abgedroschen das klingt, auf seine
kulturellen Wurzeln besinnen.
Aber das ist nur der erste Schritt. Es geht nicht um einen Rückgang auf tote
Inhalte, sondern darum, aus den verstreuten Trümmern und Bruchstücken, die in
der Ebene, auf den Bergen und Inseln liegen, etwas Neues zu schaffen: Europa,
was es ist und wofür es steht, abgesehen von Binnenkonjunktur und Haushaltsstabilität.
Eine gelebte europäische Kultur herrscht höchstens bei den sichtbaren und
unsichtbaren Eliten, und auch dort mehr in der Inszenierung, als dann etwas
davon extrahieren und tangibel machen könnte. Regietheater, Opern- und
Kulturfestivals oder Kunstszenen, das sind elitäre Kreise, die keinen
nennenswerten Einfluss auf das Ganze haben. Ansonsten ist da leider nicht viel.
Was verbindet uns, abgesehen vom Interrail-Ticket, dem Erasmus-Programm und dem
Eurovision Song Contest? Vielleicht noch der Fußball. Abstrakte Ideen wie
Gewaltenteilung, Menschenrechte und Pressefreiheit werden das Volk aber nicht
ergreifen, einfach weil sie einen zu hohen Bildungsstand voraussetzen. Deswegen
die Regression der Nichtprivilegierten auf Nationalstolz und Fremdenfeindlichkeit,
diesem Zerrbild einer Kultur, die uns fehlt. Was auch fehlt: eine gemeinsame
Sprache. Ein riesiger, nicht zu unterschätzender Nachteil. Bekanntlich basierte
die Einheit der Griechen, als wie immer schwach und brüchig sie zeitweilig sich
erwies, auf der Abgrenzung zu den Barbaren, die eben kein Griechisch, sondern
etwas sprachen, das wie „bar bar“ klang.
Die Etablierung einer neuen, Völker verbindenden Sprache ist keine kleine
Sache. Idealerweise hätte man damit 1951 angefangen und nicht erst 2016. Doch
besser spät als nie. Wie wäre es mit dem Italienischen, wegen der Nähe zu
Latein, bekanntlich ja lingua franca des europäischen Mittelalters? (Jetzt, wo
so viele Flüchtlinge kommen mit ihrer immer noch nach „bar bar“ klingenden
Sprache, könnte man also gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.) Sie
verwiese zugleich auf einen möglichen Identitätskern Europas – our damn USP –,
der eben nicht in der Aufklärung liegt, sondern im Humanismus.
Die Ideen des 18. Jahrhunderts sind zunächst von Briten und Franzosen, dann vor
allem von den Amerikanern ausagiert und verwirklicht worden. Ihre Einseitigkeit
und Leere bedroht uns in Form einer verhängnisvollen Dialektik der Aufklärung,
die einmal mehr „alles Ständische und Stehende verdampft“. Die unsichtbare Hand
ist zur Fuchtel des Todes geworden, und sie greift allerorten gerne zu. Sie qua
Marktgläubigkeit als normatives Prinzip von Politik zu installieren, hat zu
einem nie gekannten Maß von Verantwortungslosigkeit und Unkontrollierbarkeit
geführt. „Nimm du ihn, ich hab ihn sicher“, heißt es beim Fußball, bevor das
nächste dumme Gegentor fällt. Im Verein mit der planetaren Technik erklären wir
uns allenthalben einverstanden mit dem „integralen Unfall“ (Paul Virilio), der
als andere Seite des verordneten Hedonismus des Westens den Zynismus der
Zivilisation vollendet.
Europa wird sich, behaupten auch andere, nur selbst behaupten können, wenn es
sich diesem Zynismus entgegenstellt. Deutschland, vom Tourismusmarketing
apostrophiert als „Land der Dichter und Denker“, in Wahrheit eher ein Land von
sprachlosen Machern und Maschinenbauern, ist dazu nicht das ungeeignetste.
Europa muss sich erklären, und Deutschland muss lernen, es zu führen.
Einstweilen sind wir noch der Hegemon, der nur leiten, aber nicht führen will.
Sehr verständlich. Es hat mir unserem Hang zur Selbstgenügsamkeit zu tun, mit
Fichtes „Geschlossenem Handelsstaat“, und natürlich mit der Geschichte: „dass
Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“ (Adorno).
Aber es hilft nichts: Deutschland muss nach vorne gehen, weg von der
Technokratie, hin zur europäischen Kultur, gemeinsam mit Skandinaviern,
Osteuropäern, Franzosen, Spaniern, Portugiesen, Italienern, Griechen und –
Engländern? Denn Kulturvergessenheit und moralische Verwahrlosung – das Problem
haben alle, von Südkorea und China über England und Amerika bis nach Brasilien.
Zugespitzt ließe sich sagen: Kultur ist nur noch dort, wo der Kapitalismus
nicht ganz gesiegt hat. Bei uns hat er nicht ganz gesiegt, geschweige denn im
Süden oder in – Russland.
Unterdessen aber ist Sinnstiftung zur leeren Formel wirtschaftsgläubiger
Kommunikationstheoretiker geworden, und das Ansinnen, Ordnung zu stiften,
klingt schon fast faschistisch. Dass ein linksliberal sozialisierter
Theoretiker wie Wolfgang Streeck den Zerfall kommen sieht und deshalb nach
Ordnung ruft – das ist eine jener weltgeschichtlichen Pointen, die man fast
nicht mehr versteht. Aber sie ist eben Teil des Problems: Die totale
Ökonomisierung eignet sich alle Inhalte an und besetzt nicht zuletzt die
Sprache. Kultur wird zu Content, zerstückelt und kommodifiziert im Namen einer
heillosen Selbstverwirklichung, die einzelnen glücklichen Individuen gelingen
mag, im Ganzen und Allgemeinen aber nur Farcen und Fehlschläge produziert.
Die Rolle des Weltgeistes scheint momentan unbesetzt. In Teilen ist er
übergegangen an die Technik und ihr nachgebildete Verfahren in allen Bereichen
– mit der Folge der oben beschriebenen Zivilisationsbrüche. Europa und
vielleicht Indien sind die einzigen Territorien, aus deren geistiger Tiefe sich
ein politischer Wille formieren kann, der noch einmal Anspruch auf Gestaltung
erhebt; von China ist diesbezüglich nicht viel zu erwarten; Maoismus und
Kulturrevolution haben eine noch größere Leere als im Westen hinterlassen; und
inwieweit der aufgewärmte Konfuzianismus mehr ist als eine
wirtschaftsfreundliche Ideologie, bleibt abzuwarten.
Unsere Freunde, die Franzosen, waren es, die mit ihrem Kulturprotektionismus
eine richtige Intention hatten, nur dass er eben nationalistisch begrenzt war
und gegen den Mainstream auf Dauer nicht ankam. Denn während das, was von der
europäischen Kultur übrig blieb, eine Sache von Eliten ist, herrscht ansonsten
weithin die amerikanisierte Populärkultur, unendlich potenziert durch die Internet-
und Smartphone-Revolution. Ihre Grenzen aber sind offenkundig– da können die
US-Serien ob ihrer handwerklichen Perfektion noch so sehr in den Himmel gelobt
werden: Es bleibt beste, affektversessene Unterhaltung nach bekannten Mustern,
dank der man sich am nächsten Tag wieder beschwingt in den Produktionsprozess
stürzt. Ihre existentielle Dimension ist nur simuliert, sie verraten uns nichts
darüber, wer wir sind und was wir tun sollen.
Europa hat noch gar nicht begonnen. Das europäische Projekt trägt alle Züge
einer halbherzig geplanten Liebhaberei, die immer mal wieder hervorgezogen
wird, wenn gerade nichts anderes zu tun ist. Und doch ist sie den Menschen vor
allem als jenes bürokratische Monstrum vor Augen, dessen Paralleluniversum aus
Beamten und Lobbyisten Unsummen an Steuergeldern verschlingt und als
Gegenleistung dem ihm unbekannten Bürger in dessen unachtsamen Momenten
schamlos auf die Finger haut. In BWL-Sprech in aller gebotenen Kürze: Es ist
kein gutes Produkt, und dann wird es auch noch schlecht gemanagt und verkauft.
Europa jedoch ist und bleibt der Kontinent mit der meisten Substanz, the
resourceful individual unter den Staaten und Territorien. Europa, das ist die
Freiheit des Einzelnen – „individuum est ineffabile“ (Goethe) –, die nicht vollends
um den Preis des Untergangs anderer Individuen erkauft wird. Europa wird nicht
untergehen, weil es nicht untergehen darf. Als letzte Bastion einer über die
partikulare Aneignung von Wohlstand hinausgehenden Ambition muss Europa sich im
heraufziehenden Kampf aller gegen alle durch eine Art Wahrhaftigkeit, die
Herrschaft des Rechts und eine Kultur, die den Namen verdient, zu behaupten
suchen. Leicht wird das nicht, denn alle anderen sind skrupelloser.
Entscheidend wird sein, sich aus der Umklammerung durch die anglo-amerikanische
Welt, deren welthistorische Zeit abläuft und die durch ihren militanten
Chauvinismus allerorten Ressentiment und Gegenzüge provoziert hat, zu befreien,
und etwas Eigenes zu werden – jenseits von Finanzkapitalismus, kulturellem Konformismus
und Machtbesessenheit. „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“
(Hölderlin)
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