Erschienen in Ausgabe: No 121 (03/2016) | Letzte Änderung: 02.03.16 |
von Hannes Mittermaier
Im Ausgang des 18. Jahrhunderts
befindet sich die abendländische Philosophie vor ihrer Zerreißprobe:
Rationalismus und Empirismus liefern sich einen Wettstreit um das Patriarchat
des europäischen Denkens. Erstere philosophische Anschauung positioniert sich
für ein epistemologisches Modell, das nur auf Basis der Ratio, also der
menschlichen Vernunft, funktioniert; der Antipode des Rationalismus, der
Empirismus, plädiert indes für ein sich auf der sensitiven Aufnahmefähigkeiten
des Menschen beziehenden Erkennens, das wiederum nur aus Reizen der Empirie
genährt wird.
1781 betritt Immanuel Kant mit der
A-Auflage der Kritik der reinen Vernunft die große Bühne der
Philosophie. Dessen „Kopernikanische Wende“ bildet den Wendepunkt in einer
dualistisch wetteifernden Philosophenlandschaft, weil es Kant erstmals gelingt,
aus beiden Antithesen eine Synthese zu ziehen: Kants Transzendentaler
Idealismus.
Ein Kaufmann wird philosophischer
Weltbürger
Fernab des Königsbergers ist die
Zukunft des 1743 in Düsseldorf geborenen Friedrich Heinrich Jacobi früh bestimmt: Der mütterlicherseits
aus einer niedersächsischen Pastorenfamilie stammende Jacobi soll den Weg des
Vaters einschlagen, der in einem angesehenen Frankfurter Kaufmannsgeschlecht
geboren wurde. Jacobi absolviert dafür eine kurze Lehre in Frankfurt, ehe es
ihn für zwei Jahre (1759-1761) nach Genf zieht. 1764 übernimmt er die
Zuckermanufaktur des Vaters, heiratet im selben Jahr die gut betuchte Helene
Elisabeth (gen. Betty) von Clermont aus Aachen. 1772 tritt Jacobi als
Hofkammerrat in die Dienste des Kurfürsten. Sein Auftrag besteht darin, ein
großes wirtschaftliches Reformprogramm in Gang zu setzen, das er 1779 bereits
im Sinne der aufkommenden Freihandelslehre Adam Smiths als Geheimrat für das
Zoll- und Landwirtschaftswesen auf zugefallene bayerische Lande ausweitet.
Das klingt nach einem steilen
Werdegang als Ökonom und Wirtschaftsreformer. Doch seit seinem kurzen
Aufenthalt in Genf, wo Jacobi Charles Bonnet und Rousseau gelesen hat, rückt
sein Interessensfeld mit steigender Tendenz in die Sparte der
Geisteswissenschaft. Auf seinem Landgut Pempelfort bei Düsseldorf entsteht ein
Treffpunkt für literarisch und politisch Interessierte; zugleich gerät Jacobi
in freundschaftlichen Briefkontakt mit intellektuellen Größen seiner Zeit, wie
etwa mit Franz Hemsterhuis, Christoph Martin Wieland, Johann Georg Hamann,
Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt, Gotthold Ephraim Lessing, Jean
Paul und Johann Wolfgang von Goethe.
Jacobis literarischer Aufbruch in
eine neue Epoche
Schriftstellerisch produktiv wird
„Fritz“ Jacobi, wie er unter seinen Zeitgenossen auch genannt wird, erstmals
1775 mit seinem Briefroman Aus Eduard Allwills Papieren, veröffentlicht
in mehreren Teilen im Teutschen Merkur, bei dem er seit 1773 durch die
Vermittlungshilfe seines Bruders Johann Georg gemeinsam mit Wieland
mitarbeitet. Da der Briefroman zunächst anonym erscheint, wird zunächst Goethe
als Autor vermutet. Zwei Jahre später folgt Jacobis zweite literarische
Publikation: Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte.
Auf den ersten Blick
liefern beide Werke eine Personenkonstellation, die typisch jener Konzeption
eines Sturm und Drängers sind, wie es Friedrich Maximilian Klinger in seinem
gleichnamigen Schauspiel 1776 beschrieben hat: Allwill und Woldemar sind Teil
einer biederen, adeligen Gesellschaftsschicht, die untereinander in regem
Briefkontakt steht. Beide polemisieren, weil sie die Grenzen der vornehmen und
bornierten Bürgerschicht sprengen wollen.
Was wie ein sozial-ethisches Problem
aussieht, ist in Wirklichkeit individuell-phänomenologisch. Das rückt beide
Briefromane in das Feld der Philosophie. Allwill kommt zunächst, entgegen der
gängigen Vorgehensweise, nicht unmittelbar zu Wort, sondern wird durch andere
Briefe eingeführt. In der ersten Erwähnung, ein Brief von Clerdon an Sylli,
wird Allwills Gefühlsleben als „unmittelbare Empfindung“ bezeichnet. Passend
dazu folgt ein Beispiel, dass Allwills Wahrnehmung auf vernünftige Prinzipien
gänzlich verzichtet: „Kein Mensch vermochte ihm auszureden, daß sein Fuchs zu
leben anfange, und für nichts in der Welt wäre er mehr von seiner Seite
gewichen.“ Erst später in der Chronologie des Briefromans meldet sich Eduard
Allwill kritisch selbst zu Wort:
„Unsere Philosophen allein bewohnen himmelnahe
Felsenhöhen, von keinem Dufte getrübt, rundum endlose Helle und Leere. Mir ginge da der Atem aus [...]. Auch ist nicht
wohl zu läugnen, daß in einem engern Horizont uns die Gegenstände viel wärmer
an Aug und Herz kommen. Grenzenlose Begrenzung,
Raum ohne Maß und Ende, wo ich’s erblicke, macht’s mir Höllenangst [...].“
Ähnlich ergeht es Woldemar, der auch
im sentimentalen Natur-Vokabular verweilt und dort seine glückseligste
Gemütserregung
empfindet. Diese „Unbefangenheit, diese heiligen Gefühle“ fungieren als neues
epistemologisches Konzept, das den Erkenntnissen des Verstandes bzw. der
Vernunft widerspricht.
Allwill und Woldemar, wohl beides
Personifikationen des Autors selbst, bieten einen literarischen Ansatz für ein
neues philosophisches System, das nicht über metaphysische Darstellungsweisen
begriffen, sondern als Zweck und Effekt von Schreibweisen entfaltet wird.
Der Sprung in eine neue Philosophie
Jacobis Briefromane zeigen den
Ansatz einer vernunftabgewandten, aufklärungskritischen Philosophie, die er in
den kommenden Schriften weiter ausarbeitet, dabei aber – im Gegensatz zu Kant –
auf ein paradigmatisches Hauptwerk verzichtet. 1785 erscheint eine
folgenschwere Schrift Jacobis: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den
Herrn Moses Mendelssohn. Anlass des Werkes war ein fünf Jahre zuvor
geführtes Gespräch Jacobis mit Lessing, der sich kurz vor seinem Tode anhand
Goethes Gedicht Prometheus zum Pantheismus Spinozas bekannt habe. Jacobi
selbst gelangt zur Überzeugung, dass der Pantheismus eine Konsequenz aus der
rationalistischen Metaphysik sei. Als Folge davon distanziert sich Jacobi klar
von der Position des Spinozismus, den er als das einzig rationalistische System
der Philosophie deklariert: „Spinozismus ist Atheismus.“, wie es in einer der
sechs Thesen des Spinoza-Büchleins steht. In einer anderen folgert er:
„Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus.“
Damit legt Jacobi den
Grundstein für eine durch die gesamte Moderne gezogene Skepsis am
methodologischen und epistemologischen Modell des rationalen Schließens, das
die abendländische Denkerlandschaft seit den Anfängen der Philosophie in
Griechenland entscheidend geprägt hat. Jacobi selbst bietet als krasses
Gegenmodell dazu einen Salto Mortale an – die einzige Möglichkeit, um aus
dem Hamsterrad des logischen Schließens zu entkommen. Die begrifflichen
Bezeichnungen, die Jacobi sodann für die Flucht vor dem Rationalismus
verwendet, sind „Offenbarung und Glauben“.
Jacobis Kritik an der
rational-metaphysischen Erkenntnismethode, wie sie etwa Leibniz und Wolff
vertreten, scheint zunächst missbilligt zu werden. Sein skeptisches Unternehmen
gegenüber dem Spinozismus löst eine neue Welle der Begeisterung für den
jüdischen Philosophen aus, entfacht zugleich den in deutschen Gebieten
kontrovers beäugten „Pantheismusstreit“. Heinrich Heine konstatiert fünfzig Jahre später:
„Man sagt es nicht, aber jeder weiß es; der Pantheismus ist das öffentliche
Geheimnis in Deutschland.“
Jacobis Glaubensphilosophie heute
Jacobis Vernunftkritik subsumiert
sich in einer Aussage Allwills:
„Es
ist die hohlste Idee von der Welt, daß die Vernunft die Basis unsrer Handlungen
sein könne. Das Ding Vernunft, woher hat es sein Wesen? [...] Am Ende
ist es doch allein die Empfindung, das Herz, was uns bewegt, uns bestimmt,
Leben gibt und Tat, Richtung und Kraft.“
Diese Proklamierung des rein
Sensitiven, die Jacobische Hinwendung zu einem vermeintlich unmittelbaren,
nicht auf Argumente geschützten Wissen, auf Kosten der diskursiv verfahrenden
Philosophie, ist ein Grundkonzept der romantischen Frühaufklärung, die knapp
zwanzig Jahre später in Jena ihre ersten theoretischen Lehrstücke präsentiert.
Dass Jacobi mit seinen Briefromanen Allwill
und Woldemar ein Vorreiter dieser enorm breiten und stark wirkenden
Literaturepoche ist, bleibt heute zumeist vergessen und unbeachtet.
Doch dem nicht genug:
In seinem 1787 publizierten Gesprächsroman David Hume über den Glauben oder Idealismus und
Realismus präsentiert
Jacobi seinen Zeitgenossen eine völlig neue methodische Art, philosophische
Erkenntnis zu erläutern. Jacobi bleibt bei seinen bereits zuvor publizierten
und philosophisch untermauerten Ansichten. Was nun in einer äußerst gewitzten
Methode verändert wird, ist die Art und Weise der Darstellung von Philosophie
im Spezifischen und Allgemein: Jacobi inszeniert zwei Gesprächspartner, ein
autobiographisch aufgeladenes ICH und ein der kritischen Rezipienten ähnliches
und philosophisch ahnungsloses ER. Jacobi treibt seine poetische Raffinesse
sodann gegen Mitte des Gesprächs auf die Spitze. Er lässt das ER zur
philosophischen Einsicht gelangen:
„Der Gegenstand trägt eben so viel zur
Wahrnehmung des Bewußtseyns, als das Bewußtseyn zur Wahr|nehmung des
Gegenstandes. Ich erfahre, daß ich bin, und daß etwas ausser mir ist, in
demselben untheilbaren Augenblick; und in diesem Augenblick leidet meine Seele
vom Gegenstande nicht mehr als sie von sich selbst leidet. Keine Vorstellung,
kein Schluß vermittelt diese zwiefache Offenbarung.“
Damit überwindet Jacobi die von Kant
proklamierte Nichterkennbarkeit der wahren Beschaffenheit der Welt, des
berüchtigten „Dings an sich“. Jacobi pervertiert die Philosophie seines Königsberger
Gegenspielers um eine
entscheidende Komponente: Aus vernünftigem Glauben wird glaubende Vernunft.
Zugleich gelingt es Jacobi,
Philosophie mit Literatur zu verbinden: Seine Schreibart wird nämlich selbst
zur epistemologischen Methode seiner eigenen Philosophie: Im Lesenden bildet
sich durch die Aktion des Lesens eine mimetische Verständlichkeit des Textes:
Der Leser selbst kann sich als „ICH“ identifizieren, weil er sich selbst als
Lesender bewusst wird; das Gelesene hingegen wird während des Lesens als „ER“,
im Jacobischen Sinne, in unmittelbarer Weise im Bewusstsein des Lesenden
„zwiefach offenbart“ – ein subjektiver, realistischer Beweis mit objektiver
Belegschaft der Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis.
Die „lehrreichste Persönlichkeit in
der ganzen Geschichte der neueren Philosophie“, wie Jacobi später von Schelling
genannt wird, hat mit seinem Modell der „zwiefachen Offenbarung“ viel von
Johann Gottlieb Fichtes Philosophie vorweggenommen. In seinem Sendschreiben
an Fichte von 1799 unterstreicht Jacobi seinen Autoritätsanspruch. Nach
seinem 1804 erreichten Ruf der Bayerischen Akademie der Wissenschaft überwirft
sich Jacobi zuletzt auch in seiner Schrift Von den göttlichen Dingen und
ihrer Offenbarung von 1811 mit Schelling. Als Konsequenz zieht er sich von
allen öffentlichen Ämtern zurück, ehe er 1819 in München stirbt.
Versiegt ist die Hinterlassenschaft
Jacobis bestimmt noch nicht. Neben der Verfassung einer ersten Kritik an der
A-Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft hat Friedrich Heinrich Jacobi
der Philosophie einen neuen Untergrund gegeben – ein Fundament, das Philosophen
wie Fichte, Schelling, Hegel und nicht zuletzt auch Friedrich Nietzsche mit
neuen Konstruktionen weiterbauen. Allerdings besteht wohl die größte Leistung
Jacobis in der Etablierung einer noch nicht da gewesenen Glaubensphilosophie,
einer individualisierten und nicht mehr rein objektiv fassbaren unmittelbaren
Gegenstandserkennung, die zugleich zum Schlachtruf der Romantiker und
Aufklärungskritiker wird, aber mindestens genauso prekär in die Fänge einer
verzweifelnden, unverständlichen und letztlich nicht mehr erfassbaren Ontologie
mündet.
Literatur
Hammacher, Klaus: Dialektik und Dialog,
vornehmlich bei Jacobi und Fichte. Eine methodologische Studie. In: Klaus
Hammacher/Richard Schottky/Wolfgang H. Schrader (Hg.): Fichte-Studien. Bei-
träge zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie. Bd. 14.
Amster- dam/Atlanta: Rodopi 1998.
JWA Jacobi, Friedrich Heinrich: Werkausgabe. Gesamtausgabe.
Hg. v. Klaus Hammacher und Walter Jaeschke. Hamburg und Stuttgart-Bad
Cannstatt: Felix Meiner Verlag 1998 ff.
Kahlefeld, Susanna: Dialektik und Sprung in Jacobis
Philosophie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000.
Ortlieb, Cornelia: Friedrich Heinrich Jacobi und
die Philosophie als Schreibart. Zur Genealogie des Schreibens. Hg. v.
Martin Stingelin. Bd. 13. München: Wilhelm Fink Verlag 2010.
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