Erschienen in Ausgabe: No 43 (9/2009) | Letzte Änderung: 29.03.09 |
Die >Lutherdekade< bis 2017 darf nicht in bestätigender Rückbesinnung vertan, sondern muss als neue Glaubens- Befreiungszeit genutzt werden.
von Bernd Rebe
Von der dunklen Seite des D.
Martin Luther
Am 31. Oktober 1517, mittags
gegen 12 Uhr, soll Luther nach der protestantischen Überlieferung seine 95
Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen haben, in Latein,
denn der Verfasser wollte eine Disputation mit Gelehrten über die erlangten Gewissheiten
seiner privaten Theologie anstoßen. 2017 wird man die 500jährige Wiederkehr
dieses Ereignisses begehen, das - von einem bibelgelehrten Mönch in
unschuldiger Innerlichkeit >angezettelt< - ein geistig- geistliches und
ein politisch-soziales Erdbeben ausgelöst hatte. Die Zeit bis zum
Semi-Millennium 2017, schon als >Lutherdekade< bezeichnet, wird uns mit
Besinnungsaktivitäten aller Art überschütten: Mit Myriaden von Aufsätzen und
Artikeln, Lesungen, Seminaren, Konzerten und mit neuen Büchern über den
Reformator und sein Wirken. Und es wird viel zu berichten und zu bedenken sein
von dem, was damals geschehen ist oder doch geschehen sein soll, das jedenfalls
nach protestantischer Überlieferung in all seiner unbestimmten Gewissheit als
Grundlage von alt- und neulutherischem Selbstverständnis gilt. Wir werden
wieder erstaunt und voller Ehrfurcht vor diesem Wittenberger Geistesgebirge
stehen, werden nicht nur den scharfsinnigen Kirchenkritiker und den
todesmutigen Gewissenshelden bewundern, nicht nur die Wirkungsmacht seiner
Überzeugungen und seine schier unendliche Arbeitskraft erneut mit Schaudern
nachvollziehen, nicht nur die Derbheit seiner Tisch- und Wahrsprüche und die
glaubensinspirierte Innigkeit seiner wunderschönen Lieder auf uns wirken
lassen, sondern uns auch erneut des Wunders seiner Sprachmächtigkeit bewusst
werden – Wunder, weil ein bis zu seiner Bibelübersetzung fast ausschließlich
Latein sprechender Augustinermönch plötzlich über die ganze Farbigkeit und
treffende Vielgestaltigkeit der deutschen Sprache gebot.
Dies alles und vieles mehr werden
wir erneut wahrnehmen können. Vermutlich wird uns auch der private Luther
begegnen, mit der Besessenheit seiner Teufelsängste, mit seiner antijüdischen
Verkrampfung, seinem gereizten Misstrauen, seinen vielen Krankheiten, in denen
sich seine oszillierenden Geisteszustände spiegelten, seiner zunehmenden Starre
und Unduldsamkeit im Alter und schließlich seiner späteren Düsternis, die ihm das
kommende Weltende vorgaukelte, das er früher vor allem als Durchgangstor zu
einer neuen, besseren Zeit begriffen hatte.
Aber alles, was wir hören und
lesen werden, wird unter dem unsichtbaren Rubrum des mission accomplished stehen: Wir werden Luther als historische
Figur mit einer vielgestaltigen Wirkungsgeschichte vorgeführt bekommen, als
eine der Hauptfiguren einer in ihrem Auftrag und ihren Wirkungen
abgeschlossenen Epoche.
Aber: Wird irgendjemand den Mut
oder die Bewusstseinsweite zu einer ganz anderen Sicht des
Reformationsgeschehens und seiner Bedeutung für die Gegenwart finden? Sie ließe
sich so formulieren: Die Reformation war nur der erste Schritt im Prozess der
Glaubensbefreiung, dem der notwendige zweite noch folgen muss. Wir achten
diesen ersten Schritt nicht gering, aber er markiert nur eine Durchgangsphase,
die die Menschen in jener Zeit vor
allem von den Verkommenheiten des damaligen Papsttums und seinen schamlosen
Geldeintreibungsverfahren im Ablasshandel (in engem Zusammenwirken mit höchst
weltlichen Geldhäusern!) befreien sollte. Das Grundübel des christlichen
Glaubens, nämlich seine rückwärtsgewandte Fixierung auf eine Geschichte vom
kurzzeitigen Wirken und fürchterlichem Sterben eines jüdischen Bauhandwerkers
vor 2000 Jahren, die diesem Glauben als einmaliges Heilsgeschehen gilt, hat
auch ein Luther nicht nur nicht beseitigt, sondern sogar noch verstärkt. Dabei
hat sowohl die Wiedererzählung dieser Geschichte in wesentlichen Punkten mit
dem damaligen Geschehen nur noch wenig zu tun, wie auch die im christlichen
Glauben unterstellte einmalige Offenbarung Gottes in einem Menschen (als seinem
>Sohn<) erst im Laufe der Jahrhunderte zu den dogmatischen Verfestigungen
geführt hat, die auch heute noch von dieser Kirche vertreten werden. Und, was
in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist, die Inhalte dieser Dogmen haben sich
nicht in spirituell inspirierter Entwicklung herausgebildet, sondern sie wurden
in den wesentlichen Punkten durch realpolitische Macht-, Einfluss- und
Statussicherungsinteressen bestimmt. Schon diese Tatsache verbietet es, die
Aussagen der Bibel als >Gottes Wort< und die Dogmen der Kirche als
heilsgeschichtliche Gewissheiten zu nehmen.
Martin Luther aber hat in klaustrophober Selbstgeißelung als
Augustinermönch und in seiner Befangenheit in mittelalterlichen Glaubensdogmen
genau dies getan. Darüber hinaus hat er in seinen Schriften verschiedenen
dieser überkommenen Glaubensannahmen durch höchst eigenwillige Interpretationen
und Weiterentwick-lungen eine zerstörerische Unbedingtheit verliehen, die
letztlich die Überholtheit seiner wesentlichen Glaubenspositionen ausmacht und
in ihrer Radikalität >der kommenden
Kultur des Protestantismus wie ein Stein im Magen< liegen musste (Kurt Flasch, Kampfplätze der Philosophie.
Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Kapitel XVI. Menschenwürde oder
Allmachtstheologie. Erasmus gegen Luther, Frankfurt a. M. 2008, S. 260 f.).
Die Tatsache, die Mittelalterlichkeit
von Luthers Glaubenslehre unterdrückt oder doch mit einseitigen
Interpretationen seiner Schriften und aufhellenden Retuschen an seinem Bild ins
Vorbildhaft-Verehrungswürdige gerückt zu haben, hat der Evangelischen Kirche
Legitimationsrisse in ihrer Glaubensgrundlage beschert, die man als
Das verborgene Luther-Dilemma des
deutschen Protestantismus
bezeichnen kann: Es besteht
darin, dass die Evangelische Kirche in Deutschland entweder in bisheriger
Verdrängung der dunklen Seiten von Luthers Glaubenslehre sich weiter im
Verdrängen und Vertuschenübt oder
aber sich den im folgenden dargestellten Unsäglichkeiten von Luthers
Glaubenslehre um den Preis einer massiven Verunsicherung ihrer Anhänger stellt.
Im ersten Fall mag sie sich noch eine kurze Zeit relativer Organisationsruhe
einhandeln, die aber jederzeit durch eine von unten oder außen kommende
Eruption beendet werden könnte, im zweiten Fall übt sie sich in der in
Deutschland nicht ungewöhnlichen Kunst einer Revolution von oben, und hat die
Chance, das Heft in der Hand zu behalten und sich von niemandem intellektuelle
Unredlichkeit vorwerfen lassen zu müssen. Die Kirche müsste sich nicht erneut
einer beschämenden Verdrängung überführen lassen, wie bei der nun, im Jahr
2009!, beginnenden Aufarbeitung der schlimmen Schädigungen von Hunderttausenden
ehemaliger Zwangsinsassen von Heimen in der Verantwortung kirchlicher
Organisationen durch Prügel, sexuelle Misshandlungen und Zwangsarbeit in den
ersten beiden Jahrzehnten der Existenz der zweiten deutschen Demokratie. Es
dürfte übrigens interessant sein, was der unter der Leitung der früheren
Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje
Vollmer, auf Initiative des Vereins
ehemaliger Heimkinder (VEH) arbeitende Runde Tisch an christlichen Motiven
und Welt- und Erziehungsbildern bei den Misshandelnden zutage fördern wird!
Luthers Bild bei den Protestanten
in aller Welt ist ein uneingeschränkt positives, ja ein Bild enthusiastischer
Verehrung. >Dass er in unserem
Jahrhundert … weit über die Grenzen (Deutschlands und Europas) hinausgewirkt
hat und wirkt, ist ein überwältigendes Wunder. Es spiegelt sich darin die
Tatsache, dass Luther nicht in erster Linie als der Deutsche, der Künstler, der
Dichter, das Genie, sondern als Bote des Evangeliums zu verstehen ist. Weil
Luther Christuszeuge ist, sprengt seine Botschaft die Grenzen von Nation und
Kultur, Rasse und Ideologie< schreiben Hans Christian Knuth und Christian Krause im Vorwort ihrer
Beitragssammlung zum 500. Geburtstag von Luther 1983 (Hat Luther uns erreicht? Antworten aus fünf Kontinenten). Dieses
Bild des >Ein-feste-Burg-ist-unser-Gott-Luther<,
der auch mit seinen derben Sprüchen und treffenden Lebensweisheiten über
Jahrhunderte viel schmunzelnde Zustimmung erfahren hat, gibt aber nur die eine
Seite seines Wesens wieder, die helle volkstümliche Seite. Seine andere,
nachtschwarz verspannte Seite wird dagegen in nahezu allen Luther-Biographien
verschwiegen oder allenfalls nur summarisch angedeutet, obwohl sie die tragende Kernstruktur seines eigentlichen
Glaubensverständnisses ausmacht: Es ist die Obskurität seiner
bedrohlichen Transzendentalkonstruktionen, mit denen er im Ergebnis die Christenmenschen entmündigt und unter das Joch
archaischer Disziplinierungsfiguren zwingt.Wir werden im Folgenden die einzelnen Elemente seiner verquasten
Glaubenslehre darstellen.
Die unserer Zeit aufgegebene
Vollendung der Reformation macht den Bruch auch mit diesen voraufklärerischen
Grundannahmen notwendig. Und sie macht es – was vielen Protestanten sehr
schwer, wenn nicht unmöglich sein wird - unumgänglich, den zum Teil
hochproblematischen Teil von Luthers Glaubenslehre, unverstellt von
verständlichem Verehrungsbedürfnis für den großen Reformator, in seiner ganzen
beengenden Verspanntheit, ja teilweisen Zerstörungstendenz, zur Kenntnis zu
nehmen und zu überwinden. Dies stellt uns nun, fünfhundert Jahre nach Luthers
Wirken, vor die bittere Aufgabe, unser Lutherbild nachhaltig zu revidieren und
uns in wesentlichen Glaubensfragen in Abgrenzung und Überwindung von
Lutherschen Verengungen und (in Sachen Antisemitismus) geistigen Verwüstungen
neu zu orientieren.
Schon der erste Teil der
Reformation vor 500 Jahren hat so viel Kraft gekostet, dass man es ein halbes
Jahrtausend bei der bürgerlichen Traditionspflege der danach herausgebildeten
protestantischen Kirchen-Glaubens-Rituale beließ (die von den katholischen
weniger verschieden sind, als allgemein angenommen), aus Erschöpfung belassen
musste. Auch hat die rasante Veränderung aller unserer Lebensbedingungen seit
jener Zeit unsere Anpassungsfähigkeit derart beansprucht, dass wir im Banne der
Revolutionen unserer materiellen Lebensverhältnisse nicht auch noch die Kraft
für eine Neuorientierung im Glauben gefunden haben. Nun, in der Abenddämmerung
der überkommenen Wohlstandsgesellschaft, bedroht vom >Kampf der Kulturen<, nun, wo schon die Bewahrung der
elementaren Bedingungen unseres Überlebens in einer überlebenswerten Umwelt
sogar politikoffiziell und nationenübergreifend das Regierungshandeln bestimmt,
nun ist auch die Zeit gekommen, die Ketten zu lösen, die uns noch an archaische
Glaubensinhalte binden.
Denn so, wie wir nach vorn leben
müssen, sollten wir auch nach vorn glauben.
Und: Unser Glauben wird für unser
Leben eine immer größere Bedeutung gewinnen (müssen), oder, anders gefasst: Wir
werden die grundlegende Bedeutung des Glaubens für unser Leben
wiederzuentdecken haben.
Ein glaubensentkoppeltes Leben
und Wirtschaften würde das Ende jeder Orientierung bedeuten, jedenfalls für
jedes zukunftsfähige Leben in einer friedfertigen Gesellschaft. Im Glauben
wagen wir ja die Einbettung unseres Hier und Jetzt in das
Umfassend-Unbegreifliche der Herkunft und der eigentlichen Grundlagen unseres
Lebens. Ohne diese Einbettung ist unser Leben abgeschnitten von seinen wahren
Bestimmungsgründen, treibt wie ein schaukelndes Blatt in den Moden der Zeiten.
Glauben, die Art unseres Glaubens, seine Annahmen, Inhalte und Konsequenzen für
unser Tun und für unser Weltverständnis, sind deshalb von noch größerer realer Bedeutung als das
Parkettgeschehen aller Börsen dieser Welt. Dass diese Wahrheit dort
(vorübergehend?) vergessen wurde, hat nicht nur zum größten Desaster der
neuzeitlichen Finanzgeschichte geführt, sondern zwingt nun auch weltweit die so
genannte Realgüterwirtschaft in die Knie. Zeigt sich aber hier beispielhaft und
höchst aktuell der Lebenswert des
Glaubens, wird klar, dass wir den Glauben nicht als eine
geistesgeschichtliche Residualgröße vernachlässigen dürfen, sondern dass unsere
Zukunftsfähigkeit als freie Zivilgesellschaft innig mit der Wahrhaftigkeit
unseres Glaubens verbunden ist. Es erweist sich hier der eigentlich
folgenreiche Zusammenhang der Kant’schen Fragendreiheit >Was können wir wissen? Was dürfen wir glauben? Was sollen wir tun?
Luthers Glaubensenge
Wenn nun aber die Bewahrung der
Schöpfung schon auf der Ebene regierungs-amtlicher Politikziele gelandet ist,
um wie viel mehr müssen wir dann auch im Glauben die Grenze vom Wissen zum
Glauben neu definieren: Wir können in Anbetracht der erlangten kosmischen
Perspektiven auf unser Leben auf dieser Erde und auch in Anbetracht des
befreienden Erbes der Aufklärung nicht mehr Glaubensinhalten anhängen, die zu
einer Zeit entstanden sind, in der man die Erde noch für eine Scheibe im
Mittelpunkt der Welt hielt und in der eine patriarchalische
Gesellschaftsordnung selbstverständlich war.
Auch Martin Luther, der fern der
Welt in einer Klosterzelle als Augustinermönch fast nur in der Bibel gelesen
und die Ordensregeln rauf- und runter dekliniert hatte, hat seine 95 Thesen
noch ganz im Banne archaischer Buß- und Sündenregeln als der zentralen
Glaubensannahmen verfasst: „Buße sollt
ihr tun, das ganze Leben des Gläubigen muss Buße sein, so hat Christus es
gesagt“ lautet seine erste These. >Er
selber hatte diesen Kampf ausgefochten und verkündet ihn nun für alle. Es
sollte keine Ruhe geben, keine behagliche Abstimmung der Konten. Niemand konnte
dabei helfen, kein Mensch, und auch der Papst war für ihn ein Mensch. Jeder
stand allein vor seinem Richter, als Individuum. Niemand kann gewiss sein, dass
er genug wahre Reue empfindet, und noch viel weniger, dass ihm völlig vergeben
ist, am wenigsten durch einen Ablassbrief: Nur eigne wahre Reue kann Vergebung
herbeiführen, immer wiederholte Reue und Buße: Man soll Christus nachfolgen
durch Leiden, Tod und Hölle, so schließt er seine Thesen ab, durch viele
Anfechtungen, nicht durch „Frieden“, der gepredigt wird. Und tatsächlich wie
mit Hammerschlägen will er verkünden: nicht „Frieden, Frieden – und ist doch
kein Frieden“, sondern „das Kreuz, das Kreuz!“< (so Richard Friedenthal in seiner außerordentlich lesenswerten
Biografie Luther. Sein Leben und seine
Zeit, 1967, S. 172).
Damit sind wir bei dem christlichen Zentralcredo: Dass Gott in
der Erscheinung seines Sohnes Mensch geworden ist, dass die Menschen diesen
Gottessohn in bestialischer Weise zum Tode gebracht haben, dass er aber von
diesem Tod wieder auferstanden ist und uns als gläubigen Christen den gleichen
Erlösungsweg verspricht.
Dieses Zentralcredo finden wir in fast jeder christlichen Kirche an zentraler
Stelle als Bild oder Skulptur dargestellt: Die Christen beten einen erbärmlich
sterbenden Juden als Gott an – eine Absurdität erster Ordnung und in der
Darstellung ein immer neues ästhetisches Ärgernis: Wie sollen Besucher der
christlichen Kirchen im Anblick dieser über die Jahrtausende transportierten
Darstellung eines grausamen Hinrichtungsaktes Glaubenshoffnung fassen, wie
Vertrauen in die tröstende Menschlichkeit einer Religion gewinnen können, die
sich in dieser Symbolik präsentiert? Haben nicht die Gräueltaten, die von
dieser christlichen Kirche und ihren Mitgliedern im Laufe der Geschichte
begangen worden sind, vielleicht auch mit der Verwirrungswirkung dieser
grausamen Kreuzessymbolik zu tun? Und gilt das nicht vielleicht auch für die
von anderen Machthabern mit der Bewahrung des christlichen Glaubens
gerechtfertigten Mordtaten? Und: Hat nicht das von Menschen, die sich zum
christlichen Glauben bekannt haben oder bekennen, anderen Menschen angetane
Unrecht auch damit zu tun?
Darum: Entfernt diese
Hinrichtungskreuze nicht nur aus den Schulen, sondern auch aus den Kirchen;
ersetzt sie durch die Mutter-Kind-Symbolik: Befreit Euch von der lastenden
Deckelung Eures Glaubens durch die unsägliche Sterbenssymbolik, führt diesen
Glauben auch in seiner Bildsprache zum Leben! Vor allem: Lasst ab von den
metaphysischen Konstruktionen von Gottessohnschaft und Auferstehung, die nur
Euren Wirklichkeitssinn beleidigen, immenses Unheil angerichtet haben und das
Christentum ökumeneunfähig machen, denn: Jede Religion hat irgendeinen
>Stifter< oder doch eine prophetische Legitimationsfigur, die als Mensch
erleuchtet (etwa Buddha) oder mit besonderen Glaubens(auf)gaben ausgestattet
gewesen sein mag (wie Mohammed); aber
keine Religion außer der christlichen nimmt für sich die Legitimation durch den
Mensch gewordenen Gott selbst in Anspruch. Damit sind alle anderen
Religionen aus der (wohlweislich ständig verschwiegenen, aber besonders im
Selbstverständnis der Kurie immer mitschwingenden) Sicht der christlichen
Kirchen schon deswegen Glaubensvereinigungen minderen Ranges, mit denen es im
Grunde kein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis auf gleicher Legitimationshöhe
geben kann.
Luthers Antisemitismus und seine
schlimmen Folgen
Die realpolitisch aber schlimmste
Folge des Kreuzigungsdogmas ist der Antisemitismus, der über zwei Jahrtausende
Millionen unschuldige Opfer gefordert hat. Dabei ist die Verfolgung der Juden
mit der Begründung >die Juden haben
den Herrn getötet< erst einmal eine rechtsgeschichtlich unhaltbare
Irreführung, denn Jesus von Nazareth ist durch einen römischen Machthaber der
standrechtlichen Kreuzigung nach römischem
Recht überantwortet worden und kein Opfer irgendeiner jüdischen Gerichtsbarkeit (Genaueres bei Weddig Fricke, Standrechtlich gekreuzigt. Person und Prozeß des Jesus
aus Galiläa, 1986, insbes. S. 131 ff.). Aber der Antisemitismus braucht zu
seiner Rechtfertigung keine historischen Wahrheiten, ist er doch in allen
seinen vorgebrachten Begründungen immer nur das Ergebnis von Vorurteilen,
negativen Projektionen und sozialpathologischen Ausgrenzungs- und Gegensatzstigmatisierungen.
Gerade diese Eigenschaft als Projektionsfläche (fast) aller Misshelligkeiten
von Gesellschaften und Nationen hat ihn über die Jahrtausende zum wohlfeilen
Prügelknaben für Fehlentwicklungen und kollektiv empfundenen Bedrohungen jeder
Art werden lassen; dieser pathologischen Geisteshaltung ist leider auch der
große Reformator Martin Luther erlegen – mit schlimmsten Folgen bis in die
Gegenwart:
Luther war sein Leben lang
Judengegner. Allerdings hat sich die Intensität dieser Gegnerschaft mit
zunehmendem Alter zu zerstörerischer Feindschaft gesteigert und er hat parallel
hierzu zunehmend rabiatere Methoden zur Eliminierung >der Juden<
vorgeschlagen. Während er noch in einem früheren Traktat zum >Magnifikat<, den Lobgesang der
Mutter Gottes, für eine freundliche Behandlung der Juden plädiert (>… wenn wir christlich lebten und sie mit Güte
zu Christo brächten, das wäre wohl die rechte Art<) und es allein Gott
vorbehalten möchte, die Juden zum christlichen Glauben zu bekehren, will er
diese Sache im Alter nicht mehr Gott überlassen, sondern er fordert seinen
Landesherrn in einem seiner wüstesten Hasstraktate >Von den Juden und ihren Lügen< zur Vernichtung und Vertreibung
der Juden auf (s. unten).
Und: Luthers Antisemitismus ist
eben auch von den sozialpathologischen Irrationalitäten geprägt, die ja das
unausrottbare Unterfutter des Antisemitismus ausmachen, (wieder Friedenthal, S. 644): „Alle alten und neuen Vorwürfe bringt er
zusammen, die pseudoreligiösen, dass die Juden Christus lästerten, wie die
materiellen vom Wucher oder das dunkle Raunen, dass sie auch ihre ärztliche
Kunst zum geheimen Schaden der Christen missbrauchten. Er glaubt sogar im
Gespräch das Gerücht, der kaiserliche Feldherr Freiherr von Katzian, der mit
seiner Armee von den Türken kläglich geschlagen worden ist, müsse ein geborener
Jude sein; anders sei die vernichtende Niederlage nicht zu erklären.“
Luthers Antisemitismus hat bis in
das Zwanzigste Jahrhundert nachgewirkt und im deutschen Protestantismus zur
geistigen Mitvorbereitung der Judenverfolgung durch die Nazis und zur –
teilweise bejahenden – Hinnahme von Entrechtung, Verfolgung und Deportation
deutscher Menschen jüdischen Glaubens beigetragen. Dies ist ein schlimmes
Kapitel in der Geschichte des deutschen Protestantismus, das hoffentlich in der
>Lutherdekade< sozusagen „brutalstmöglich“ aufgearbeitet werden wird.
Drei beispielhafte Belege für den protestantischen Antisemitismus im letzten
Jahrhundert mögen hier genügen, davon eins mit ausdrücklicher Berufung auf
Luther (s. hierzu Daniel Jonah Goldhagen,
Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust,
First Vintage Books Edition, February 1997, S. 106 ff.):
So wurden >die Juden< in
den Sonntagsblättern, einer
protestantischen Wochenzeitschrift mit mehreren Millionen Lesern, ab 1918, also
vor der nationalsozialistischen
Machtergreifung, als >die natürlichen
Feinde der christlich-nationalen Tradition< bezeichnet, die >den
Zusammenbruch der christlichen und monarchischen Ordnung< bewirkt hätten
und wurden als die Verursacher einer Vielzahl anderer Übel dargestellt. Nach
1933 verschärften die Sonntagsblätter
ihre antisemitische Rhetorik in Angleichung an die antijüdische Hetzpropaganda
der Nazis und, wie Goldhagen auf S.
108 resümiert: >They did so unbidden,
entirely voluntarily, and with unmistakable passion and alacrity<
(Bereitwilligkeit, Eifer).
In diesem Zusammenhang muss auch
an die antisemitischen Äußerungen des späteren Mitglieds der Bekennenden Kirche und langjährigen
Vorsitzenden des Rates der Evangelischen
Kirche in Deutschland (EKD) nach 1945 erinnert werden: Otto Dibelius, seit 1925 Generalsuperintendent der Kurmark in der
Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, erklärte 1933, er habe schon in
seiner Studentenzeit „im Kampf gegen
Judentum und Sozialdemokratie gestanden“, begrüßte in einer Festpredigt am
21. März 1933 in der Potsdamer Nikolaikirche vor den neu gewählten, überwiegend
nationalsozialistischen Reichstagsabgeordneten die Regierungsübernahme durch
die Nazis und erklärte zehn Tage später zum Boykott der SA gegen jüdische
Geschäfte:
>Schließlich hat sich die Regierung genötigt gesehen, den Boykott
jüdischer Geschäfte zu organisieren – in der richtigen Erkenntnis, dass durch
die internationalen Verbindungen des Judentums die Auslandshetze dann am
ehesten aufhören wird, wenn sie dem deutschen Judentum wirtschaftlich
gefährlich wird. Das Ergebnis dieser ganzen Vorgänge wird ohne Zweifel eine
Zurückdämmung des jüdischen Einflusses im öffentlichen Leben Deutschlands sein.
Dagegen wird niemand im Ernst etwas einwenden können.<
Schon 1928 hatte Dibelius ganz im Sinne des
eliminatorischen Antisemitismus folgende >Lösung< des >jüdischen
Problems< (man denke an die spätere Nazi-Formel von der >Endlösung der
Judenfrage<) vorgeschlagen: Jede jüdische Einwanderung von Osteuropa sollte
verboten werden. Da die Zahl der Kinder in jüdischen Familien gering sei, würde
der Prozess des Aussterbens überraschend schnell verlaufen. Man wird wohl Wolfgang Gerlachs Einschätzung zustimmen
müssen, dass Dibelius’ antisemitische
Haltung in hohem Maße repräsentativ für die deutsche Christenheit Ende der
Zwanziger Jahre war (Wolfgang Gerlach,
Als die Zeugen schwiegen: Bekennende Kirche und die Juden, 2. Aufl., Berlin:
Institut Kirche und Judentum, 1993, S. 43).
Eine nahezu unglaubliche
Manifestation des protestantischen Antisemitismus erlaubte sich der
thüringische Bischof Martin Sasse,
der kurz nach der von den Nazis in hämisch-ästhetischer Erhöhung so genannten
„Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 ein Kompendium mit Luthers
antisemitischen Giftigkeiten veröffentlichte, in dessen Vorwort er das Brennen
der Synagogen in Deutschland begrüßte und auf die Koinzidenz mit Luthers
Geburtstag hinwies: >Am 10. November
1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen<. Die
Deutschen sollten Luthers Worte in dem Kompendium beachten als die >des größten Antisemiten in seiner Zeit,
den Warner seines Volkes vor den Juden.<
Man fragt sich, ob Sasse Luther nicht fehl interpretiert
haben könnte. Aber Nein, Luther hatte in seinem Hetztraktat >Von den Juden und ihren Lügen< von
1543in grenzenlosem Judenhass genau
das zur Vernichtung der Juden gefordert, was die Nazis 400 Jahre später zu
grausamer Wirklichkeit werden ließen:
Gleich zu Anfang seiner Schrift
bezeichnet Luther die Juden als >die
elenden, heillosen Leute<, die >uns
eine schwere Last, wie eine Plage Pestilenz und eitel Unglück in unserem Land
sind<, um später zu fragen >Was
sollen wir Christen nun tun mit diesem verworfenen verdammten Volk der Juden?<
Als Antwort entwirft er in seinem >treuen
Rat< ein Sieben-Punkte-Progrom-Programm:
>Erstlich, dass man ihre
Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht verbrennen will, mit
Erde überhäufe, und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon
sehe ewiglich…<
>Zum andern, dass man auch
ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. Denn treiben eben dasselbige
drinnen, das sie in ihren Schulen treiben. Dafür mag man sie etwa unter ein
Dach oder Stall tun, wie die Zigeuner, auf das sie wissen, sie seien nicht
Herrn in unserem Lande, wie sie rühmen, sondern im Elend und gefangen, wie sie
ohne Unterlaß vor Gott über uns Zeter schreien und klagen.<
>Zum dritten, dass man ihnen
nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten, darin solche Abgötterei, Lügen,
Fluch und Lästerung gelehrt wird.<
>Zum vierten, dass man ihren
Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren…<
>Zum fünften, dass man den
Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe, denn sie haben nichts auf dem
Lande zu schaffen, weil sie nicht Herren noch Amtleu-
te noch Händler oder desgleichen sind; sie sollen daheim bleiben…<
>Zum sechsten, dass man ihnen
den Wucher verbiete, der ihnen von Mose verboten ist, wo sie nicht sind in
ihrem Land Herren über fremde Lande, und nehme ihnen alle Baarschaft und
Kleinod an Silber und Gold, und lege es beiseit zu verwahren. Und dies die
Ursache: alles, was sie haben…, haben sie uns gestohlen und geraubt durch ihren
Wucher, weil sie sonst keine andere Nahrung haben…<
>Zum siebenten, dass man den
jungen starken Juden und Jüdinnen in die Hand gebe Flegel, Axt, Karst, Spaten,
Rocken, Spindel und lasse sie ihr Brod verdienen im Schweiß der Nase, wie Adams
Kindern aufgelegt ist, 1 Mos. 3, 19<
Sollte das Arbeitsprogramm nicht
klappen, dann >immer weg mit
ihnen.<
(Zitiert nach dem Nachdruck der
2. überarbeiteten Auflage von Luthers Werken, hrsg. von Georg Walch (1740-1750), Groß-Oesingen o.J., Bd. 20, Spalten
1987, 1989 und 1990 ff.- Vgl. zu diesem schlimmen Thema auch Gerhard Czermak, Christen gegen Juden:
Geschichte einer Verfolgung, Reinbeck 1997).
Auch nach dem Krieg hat der Rat
der Evangelischen Kirche in Deutschland in der Stuttgarter Schulderklärung vom 19. Oktober 1945 sich nur in
verwaschener Weise >mit unserem Volk nicht nur in einer großen
Gemeinschaft der Leiden...(erklärt), sondern auch in einer Solidarität der
Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele
Länder und Völker gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben,
das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange
Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im
nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden
hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer
gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.<
Im Grunde ist diese Erklärung ein
ärgerliches Zeugnis intellektueller Unredlichkeit und der beschönigenden
Vernebelung der eigenen Mitschuld am Holocaust und des fast völligen Versagens
vor dem gottlosen Vernichtungstreiben der Nazis. Wer ist den >wir< bzw.
>uns< in diesem Dokument? Das >unendliche Leid<, das >über viele
Völker und Länder gebracht worden ist< kann ja wohl nicht die Evangelische
Kirche in Deutschland meinen; hier versteckt man sich in einer Schuldphalanx
mit der Wehrmacht, den Einsatzgruppen, der SS usw. Und wo ist denn gegen den
Nazi->Geist< von der allgemeinen Evangelischen Amtskirche (im Gegensatz
zur Bekennenden Kirche) >gekämpft< worden? Wie sehr sich die EKD
um das Eingeständnis des jammervollen Versagens beim Schutz der jüdischen
Mitbürger – jedenfalls generell, denn freilich gab es regelbestätigende
Ausnahmen – herumdrückt, zeigt sich darin, dass über den Antisemitismus der
Evangelischen Kirche in Deutschland vor und während der Nazizeit in der Stuttgarter Schulderklärung kein Wort
verloren wird.
Luther und der Teufel
Immerhin hat Luther >die
Juden< in ihrer von ihm unterstellten Christenfeindschaft nach dem Teufel plaziert. Dieser, von
ihm auch als Satan oder als der Leibhaftige bezeichnet, ist für ihn
zwar (bis zum jüngsten Gericht) unsichtbar, aber fast immer präsent, besonders
nachts. Er ist für Luther der >Geist
des Trübsinns<, verleitet zum Selbstmord (womit Luther gegen den Geist
der Zeit den Selbstmörder entschuldigt), bedient sich des Geldes als des
Mittels, mit dem er alles bewerkstelligt. Er ist für Luther auch der große
Widersacher, der nach scholastischer Methode mit ihm disputiert und hierbei
Argumente gegen den Lutherischen Glauben vorbringt, mit denen Luther sich
selbst plagen muss. Das Intrikate an der Argumentationskunst des Teufels ist,
dass er sich ebenfalls auf das Evangelium berufen kann, weil man eben das Wort
der Bibel verschieden verstehen kann: Es klingt >dem einen schreckend, dem andern tröstend<. Auf den Trost kommt
es aber an, auf die Gnade. Könne man sich des Teufels argumentativ nicht mehr
erwehren (lehrt er seinen Schülern), so müsse man ihm einfach den Hintern
zukehren und Gestank mit Gestank bekämpfen – ein altes Hausmittel, das Luther
bereits im Haus seiner Eltern kennen gelernt hatte.
Wir müssen wohl davon ausgehen,
dass Luthers Teufelsvorstellung nicht als distanzierte Humoreske abgetan werden
kann, sondern dass der Teufel für Luther
eine höchst reale Größe war, die darüber hinaus für seinen Glauben die Funktion
eines haltenden Gegenpols hatte. Friedenthal
(aaO, S. 141 f.) hat diesen Zusammenhang in kurzen Sätzen ausgedrückt:
>Seine eignen, höchst persönlichen Zweifel und Anfechtungen sind der
Ausgangspunkt, vom Teufel eingegeben, wie er das nannte, und der Teufel sei der
„Vater seiner Theologie“ geworden, so sagte er in seiner immer gefährlich die
schärfsten Paradoxe verwendenden Ausdrucksweise. Ohne dessen Versuchungen hätte
er nie die Gnade kennen gelernt. Und diese Gnade, die keine freundliche und
ohne weiteres sanft ausstrahlende Huld für ihn bedeutet, sondern eine schwer
errungene und immer wieder zu erkämpfende Erlösung aus den Qualen, wird zum
Zentralbegriff seiner Lehre. Nur durch den Glauben kann man sie erlangen.<
Luthers Überzeugung von der
realen Existenz des Teufels (und von Dämonen, wie man ergänzen muss), zeigt
seine Befangenheit in den überkommenen katholischen Jenseitsvorstellungen, die
für uns Heutige ganz und gar inakzeptabel sind. Man kann mit großer
Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass seine >Sünden<, von denen wir nicht
sicher wissen, wie sie aussahen, höchst irdischer Natur waren, und dass der ihn
bedrängende >Teufel< eine Mischung aus kompensatorischer Projektion (so
empfundenen) eigenen Versagens, nervlichen Überreizungszuständen (der berühmte
Tintenhornwurf gegen den >LeibhaftigenTeufel< in Wahrheit nicht um ein theologisch begründetes
Phänomen, sondern um ein angstpsychologisches Halluzinationsgebilde. Wir
Heutigen können hiervon bei der Glaubenssuche nur insoweit von Luther lernen,
als wir diese Erfahrung reflektieren und uns vor ihr hüten sollten.
Luther, >hitzig und lüstig in
der heiligen Schrift<
Die Bibel war für Luther als
Gottes Wort bis zu seinem Lebensende die einzige Autorität, neben der für die
Lehre des richtigen Glaubens nichts anderes galt. Diese Vergöttlichung, um
nicht zu sagen: Vergötzung der Bibel ist ein weiteres Lehrstück in Lutherscher
Glaubensverengung, die für uns kein Vorbild mehr sein kann.
Zum einen ist es nicht die
gesamte Bibel mit ihren vielfältigen Facetten und teilweise widersprüchlichen
Aussagen, nicht die Bibel des alten zürnenden und rächenden Gottes (s. hierzu
jetzt: Jan Assmann, Monotheismus und die
Sprache der Gewalt, Wien 2006), sondern Luther hatte sich pars pro toto den Brief seines großen
Vorbildes Paulus an die Römer als d i
e Kernaussage der Bibel ausgewählt, die auch im Zentrum seines Glaubens stand: >So halten wir nun dafür, dass der Mensch
gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben< (Römer 3,
28). Der Römerbrief war für Luther laut Vorrede zu seiner Bibelübersetzung
>das rechte Hauptstück des Neuen
Testaments und das allerlauterst Evangelium<: >Die Theologie Luthers ist „Römerbrief-Theologie“ und auch die ganze
Theologie des Protestantismus bis in die letzte Zeit hinein hat immer wieder
von diesem Brief aus Stellung genommen< (Friedenthal aaO, S. 145 f.- S.
hier auch zur Bedeutung des Psalter
als zweitem Hauptteil der Bibel für Luther).
Das heißt: Luther bezieht sich
nicht auf >die Bibel< insgesamt als „Gottes Wort“, sondern kanonisiert
schlicht und einfach Paulus’ sola fide als
die unumstößliche Wahrheit>der
Bibel<, weil sie seine
Glaubensauffassung wiedergibt – ein weiterer Beleg für Luthers radikale
Subjektivität, um nicht zu sagen: Egomanie. Nirgends findet man bei ihm ein
Wort über die historischen Zufälligkeiten, die den jetzigen Corpus des
Bibeltextes zu der für die Christen maßgeblichen Fassung haben werden lassen,
und natürlich ist es seine Interpretation
der Bibel, die er für >die
Bibel< ausgibt. Hier fließen seine Christusgläubigkeit und die
Behauptung der letzten Autorität der Bibel (in seiner – Luthers – Auslegung)
zusammen.
Für die unumgängliche
historisch-kritische Reflektion des Zustandekommens dieses Bibeltextes und
seines Inhalts finden wir bei Luther nichts und können auch hier nicht auf ihm
aufbauen, so sehr wir die Annahme der Unmittelbarkeit jedes Einzelnen zu Gott
in seinem Glauben bejahen mögen.
Was den „Gottes-Wort-Charakter“
der Bibel betrifft versucht Joseph
Ratzinger/ Benedikt XVI. in seinem Buch Jesus
von Nazareth (Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung,
Herder-Verlag, o. J., S. 19) die Gottes-Autorschaft der Bibel als
mittelbare Schreiberschaft von >drei ineinanderwirkende(n) Subjekte(n)<
darzustellen: Der schreibende Autor/ die schreibende Autorengruppe >sind keine autonomen Schriftsteller im
modernen Sinn, sondern sie gehören dem gemeinsamen Subjekt des Gottesvolkes zu,
aus dem heraus und zu dem sie sprechen, das so recht eigentlich der tiefere
„Autor“ der Schriften ist. Und wiederum: Dieses Volk steht nicht in sich
selbst, sondern weiß sich geführt und angeredet durch Gott selber, der im
Tiefsten – durch Menschen und ihre Menschlichkeit hindurch – da redet.<
Was das Verständnis der Bibel als
„Gottes Wort“ betrifft haben wir also die Wahl zwischen durchschaubarer
Reduktion und Selbstspiegelung (Luthers) und vernebelnder Konstruktion (des
gegenwärtigen Papstes). Wäre es nicht angezeigt, die Bibel als
literaturhistorisches Kulturzeugnis zu nehmen, mit dessen Entstehen, Inhalt und
Interpretation wir uns kritisch auseinandersetzen können? Wir werden hier, wie
bei jeder Literatur, einiges zum Nachdenken finden, einiges zum Lernen und einiges,
das wir kopfschüttelnd ablehnen werden.
Luther und die Unausweichlichkeit
der > Sünde <
Luther bezeichnet mit
>Sünde< nicht ein besonders unmoralisches, gegen die göttlichen Gebote
verstoßendes Verhalten eines Menschen, das man diesem vorwerfen könnte;
>sündig< ist ihm vielmehr schon die Grundkonstitution des Men-schen in
seiner fleischlichen Existenz und mit seinem vermeintlich freien Willen,
unabhängig von der moralischen Qualität seiner einzelnen Taten oder seines
Verhaltens. Das heißt, der Mensch lebt
notwendig und (spätestens) mit seiner Geburt in der von Luther so konstruierten
>Sünde<.
Mit dieser theologischen Inkriminierung der
>Fleischlichkeit< ist ihm die notwendig biologische Existenz des Menschen
schon >Sünde<. Und: Der Mensch ist unausweichlich >schlecht< in
seiner fleischlichen Existenz, das Leben ist >schmut-zig<, die
>fleischlichen Begierden< sind eine unreine Last, und zwar nicht nur das
sexuelle Begehren, sondern schon das Essen und Trinken.
>Sündig< ist der Mensch bei
Luther auch in der Ausübung seines (vermeintlich) freien Willens. Dem 1524 von Erasmus von Rotterdam veröffentlichtenTraktat >De libero arbitrio< (Über den freien Willen) stellt Lutherin seinem Gegentraktat >De servo arbitrio< (Über den unfreien
Willen – hier und im folgenden zitiert nach der Weimarer Ausgabe von Luthers Werken, Bd. 18, 1908, S. 600-787) fest: Frei im Willen ist nur Gott; ein freier
Wille des Menschen widerspricht dem Vorherwissen und der Allmacht des
unwandelbaren Gottes. Die Menschen, die ohnehin nicht wissen, was sie tun,
verstehen sich nach Luther >auf nichts
als auf das Sündigen. < (De servo
arbitrio, S. 735). Gegen Erasmus von
Rotterdams Auffassung, der Bibel könne keine eindeutige Festlegung auf die
Unfreiheit des Willens entnommen werden, stellt Luther in seinem
„auftrumpfenden Behauptungsstil“ Kurt
Flasch (Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis
Voltaire, Kapitel XVI. Menschenwürde oder Allmachtstheologie. Erasmus gegen
Luther, Frankfurt a. M. 2008, S. 261) die Aussage entgegen, wir könnten der
Bibel die Gewissheit des unfreien Willens entnehmen. Die Bibel sei nicht
dunkel, Christus habe uns den Sinn der Schrift erschlossen, allerdings brauche
der Schriftausleger dessen „Geist“ (De
servo arbitrio, S. 661, 607, 609). Und natürlich verfügt er, D. Martin
Luther, über diesen „Geist“, nicht aber dieser friedliebende Erasmus, dem
Luther attestiert, er kenne nicht den Unterschied zwischen Gesetz und
Evangelium, wisse gar nicht, was das Evangelium sei, er sei großmäulig,
unverschämt und blasphemisch, rede läppisch und ignorant und kindisch und er
sei gar kein Christ (De servo arbitrio,S.
680, 692, 748, 656, 638,627, 620).
Wieder hält Luther seine Interpretation der Schrift für das
Christentum selbst.
Kurt Flasch (aaO, S. 260) bezeichnet De servo arbitrio als das „vielleicht wichtigste Buch des deutschen
sechzehnten Jahrhunderts“ und weist darauf hin, dass Luther selbst es neben
seinem Großen Katechismus für sein
bestes Werk hielt: Es geht also nicht um einen beiläufig formulierten Ausrutscher,
den man irgendwie entschuldigen oder relativieren könnte, wie es der
Herausgeber 1908 in hilfloser Weise versucht hat.
Es gilt, diesen Stellenwert von De servo arbitrio im Kopf zu behalten,
denn Luther hat in dieser Schrift zugleich sein Gottesbild formuliert:
Luthers demütigender Gott
Luther schreibt (De servo arbitrio, S. 633):
>Was wir glauben sollen, muss verborgen sein. Am meisten verborgen
ist das, was im Widerspruch steht zu Wahrnehmung und Erfahrung. Wenn daher Gott
Leben schenkt, dann tut er das, indem er tötet. Wenn er uns rechtfertigt, dann
tut er das, indem er uns zu Schuldigen macht. Wenn er uns in den Himmel erhebt,
dann tut er das, indem er uns in die Hölle führt … So verbirgt er seine Güte
und Barmherzigkeit unter seinem ewigen Zorn, seine Gerechtigkeit unter der
Untat. Denn das ist die höchste Stufe des Glaubens, dass man glaubt, der sei
gütig, der so wenige rettet und so viele verdammt, dass man glaubt, derjenige
sei gerecht, dessen Willen uns mit Notwendigkeit zu Verdammungswürdigen macht,
so dass es, wie Erasmus sagt, so aussieht, als freue er sich an den Qualen der
Elenden und habe eher unseren Hass als unsere Liebe verdient. Wenn ich aufgrund
irgendeiner vernünftigen Überlegung glauben könnte, dieser Gott, der solchen Zorn
und Untat aufweist, sei barmherzig und gerecht, dann wäre kein Glaube nötig.“
Das ist Luthers radikales Glaubenskonzept der Gottesparadoxie:
Weil wir keine vernünftige Erklärung dafür finden können, warum dieser Gott uns
stets das demü-tigende Gegenteil seiner verborgenen Liebe und Gerechtigkeit
zeigt, müssen wir gegen den zu Tage tretenden Unheilswillen dieses Gottes an
seine verborgene Güte und Gerechtigkeit glauben: >Glaube< ist damit nach Luther das Auffangen der Gottesabsurdität
(so fast wörtlich die Formulierung bei Flasch aaO, S. 266).
Ist das der Luther des
Protestantismus, der doch durch den Wittenberger Reformator von den
transzendentalen Unheilsdrohungen der römischen Kirche befreit zu sein meint?
Und: Ist das der
Römerbrief-Luther, wo wir doch in Römer
1, 19, 20lesen können:
>Denn was man von Gott weiß, ist … (den Menschen) offenbar; denn
Gott hat es ihnen offenbart, damit dass Gottes unsichtbares Wesen, das ist
seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man des wahrnimmt, an den
Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt; also dass sie keine Entschuldigung
(für ihr gottloses Wesen und ihre Ungerechtigkeit) haben<
In der Stuttgarter Familienbibel zur Einführung ins Bibellesen Nach der
deutschen Übersetzung D. Martin Luthers, Stuttgart 1938, Das Neue Testament, S.
245, ist zur Erläuterung dieser Zentralstelle der Bibel zu lesen:
>„was man von Gott weiß oder (richtiger übersetzt:) wissen k a n n“, ist
an allem dem zu erkennen, was Gott schafft und tut, vorausgesetzt, dass man die
Augen aufmacht und darüber nachdenkt. An der Unermesslichkeit seiner Schöpfung
kann man seine große, herrliche Macht wahrnehmen, an dem wundervollen Bau der
Natur und ihren Einrichtungen seine Weisheit, und an seiner Fürsorge für seine
Geschöpfe seine Güte und Liebe. <
Haben die Autoren dieses
Kommentars von der Gottesparadoxie des von ihnen als Übersetzer im Titel ihrer
Bibelausgabe stolz genannten D. Martin
Luther ge-wusst? Und wenn ja (was von studierten Theologen anzunehmen ist):
Warum haben sie Luthers sehr spezifische Glaubensauffassung, die ja mit der
zitierten Römerstelle nicht zur Deckung zu bringen ist, unter den Tisch fallen
lassen? Als Antwort drängt sich der Verdacht auf, dass man (auch hier) dem
protestantischen Fußvolk einen widerspruchsfreien, positiven, volkstümlichen
Luther präsentieren möchte; seine dunkle Seite wird unterschlagen und
verheimlicht: Es entstünde zu viel Unruhe, Ungewissheit und Erklärungsbedarf,
würde man diesen Luther in seiner >unleugbaren
Mittelalterlichkeit< (Flasch aaO, S. 251) im Originalton zu Worte kommen
lassen. So existiert die protestantische Kirche in ihren lutherischen
Grundlagen mit einem den meisten Gläubigen verdeckten Widerspruch: Der große
Bau des protestantischen Glaubensbekenntnisses ruht auf einem lügenrissigen geistigen
Fundament. Und wenn >vom Elend des
deutschen Protestantismus< selbst bei Würdenträgern der Evangelischen
Kirche die Rede ist (bei einem solchen habe ich diese Wendung zum ersten Mal
gehört), dann hat dieser Zustand sicher mit der rapide abnehmenden geistigen
Strahlkraft (auch) dieses Zweigs des Christentums zu tun, der wiederum vor
allem mit der Brüchigkeit seines geistigen Fundaments und natürlich mit dem
Festhalten an der Überlebtheit mittelalterlicher Jenseitskonstruktionen
erklärbar ist.
Die hier angemahnte Vollendung der Reformation ist deshalb
im Kern kein Weiterschreiten auf den vor 500 Jahren begonnenen Wegen, sondern
es ist der Aufruf zum Wagnis der
eigentlichen Reformation, die sich in wesentlichen Fragen
g e g e n Luthers egomane Verirrungen durchsetzen muss. Es ist klar, dass
dies weniger eine Reformation im
protestantischen Glauben wäre, sondern eine Revolution,
die die evangelische Amtskirche in ihren Grundfesten erschüttern würde und zu
der sie schon deshalb keine Kraft hat und von der sie auch aus klüglicher
Statussicherungdie Finger (und
Gedanken) lassen wird.
Zum Abschluss wollen wir noch
einige Überlegungen zu der zentralen Zukunfts-frage anstellen, durch welche
Elemente denn ein aufgeklärter, wirklichkeitsgerechter Glaube geprägt sein
sollte.
Für einen freien
Verantwortungs-Glauben in der offenen Wirklichkeit
Glaube wurzelt in einem doppelten
Orientierungsbedürfnis: einem der emotionalen Selbstversicherung in einer im
Umgreifend-Ungewissen wurzelnden Welt und einem der bewussten Begrenztheit
unseres Wissens, die uns im Hinblick auf das relevant Nicht-Wissbare auf den
Glauben verweist. Glaube ist damit eine doppelt begründete >Hilfs-Konstruktion< im eigentlichen Sinne. Wir sollten also
nur das glauben, was hilfreich ist
für unser Leben; alles andere ist überflüssiger Glaubens-Ballast, der nur
Streit und Verwirrung hervorbringt. Von diesem Ausgangspunkt ist klar, dass es
nicht darauf ankommen kann, immer mehr an imaginativen Konstruktionen über den
Glauben oder als seine Inhalte hervorzubringen, sondern im Gegenteil: Je mehr
wir im abstrakten Glauben offen lassen (können), ohne unsere Pflichten in der
konkreten Nächstenliebe zu vernachlässigen, desto unanfechtbarer und
wirklichkeitsgerechter ist unser Glaube.
Die Grundelemente eines aufgeklärt-hilfreichen
Glaubens bilden sich sowohl aus positiven
Gewährleistungszielen, wie gegenbildlich
aus den erkannten Verirrungen des alten Glaubens, in unserem Zusammenhang
der fälligen Neureformation des christlichen Glaubens insbesondere aus den
Glaubensverirrungen des Herrn Luther.
Die positiven
Gewährleistungsziele liegen in der Dreiheit
von Freiheit (des glau-benden Menschen), Verantwortung (in der von Gott geschaffenen Welt) und völliger Übereinstimmung mit der von uns
wahrnehmbaren offenen Wirklichkeit. Jeder Glaube, der durch eine neue
(wissenschaftlich fundierte oder nicht-wissenschaftliche) Einsicht in die
Wirklichkeit revidiert werden müsste, offenbarte damit (modische)
Zeitgebundenheit oder dogmatisierte Begrenztheit: Damit wäre er nicht wirklichkeitsgerecht
und damit auch notwendig nicht hilfreich, sondern hinderlich, ja, das >Verfahren der Anpassung an die jeweiligen
Vitalbereiche des Zeitgeistes hat in der Geschichte der Kirche unablässig
Unheil angerichtet und ist in gewissem Sinne sogar mitverantwortlich für die
auf uns zukommende ökologische Krise< (A.M. Klaus Müller,
Geschöpflichkeitsdefizite in Naturwissenschaft und Theologie, in: A.M. Klaus
Müller/Paul Pasolini/Dietrich Braun, Schöpfungsglaube heute, Neukirchen-Vluyn
1985, S. 11).
Beginnen wir mit dem Wegräumen der überlebten
Fehlorientierungen, also dem gegenbildlichen Begründungsteil der von uns
vorgeschlagenen Elemente eines aufgeklärt-wirklichkeitsgerecht-hilfreichen
Glaubens, nämlich den Verirrungen und Verwirrungen des überkommenen
Kirchenglaubens, insbesondere mit den dargestellten Glaubensverirrungen des D. Martin Luther. Das heißt, dass dieser freie, neue Glaube in
wesentlichen Annahmen ein notwendig antilutherischer Glaube sein muss.
Antilutherisch muss dieser neue Glauben sein:
- im Verzicht auf alle
Transzendentalkonstruktionen, denn es widerspricht
aufgeklärt-wirklichkeitsgerechtem Denken, über Nicht-Wissbares strukturierende
Aussagen zu machen; damit landen alle Annahmen von Teufel, Hölle und Jüngstem
Gericht auf dem Müllhaufen der Religionsgeschichte;
- in der Ablehnung von Luthers
Lehre vom unfreien Willen, denn Verantwortung in dieser Welt kann der Mensch
nur in Ausübung seiner frei reflektierenden Entscheidungsfähigkeit tragen, so
sehr sie auch durch allerhand psychische und wissensmäßige
Erkenntnisbeschränkungen begrenzt sein mag; im Zusammenhang damit
- in der Ablehnung von Luthers
Auffassung, >dass die vernunft des
teuffels hure ist und nichts kann denn lästern und schänden alles, was Gott
redt und tut< (Luther, Wider die himmlischen Propheten, Weimarer Ausgabe Bd.
18, S. 164), denn nur im Gebrauch seiner Vernunft kann der Mensch Verantwortung
für Vorgänge auf dieser Welt übernehmen;
- in der Ablehnung von Luthers
Sündenlehre, denn zum Einen widerspricht es aufgeklärtem Glauben, dass der
Schöpfergott ein per se sündiges Menschenge-
schlecht geschaffen hat und zum Zweiten korrespondiert die Möglichkeit einer
moralischen Verfehlung und die Einsicht, fehl gehandelt zu haben, mit der
Entscheidungsfreiheit des vernunftbegabten Menschen;
- in der Zurückweisung von
Luthers Antisemitismus, denn der ist schon in seinem realgeschichtlich
erhellten Ursprung nicht haltbar und hat unermessliches Unheil angerichtet (und
tut es weiterhin);
- in der Überwindung des Dogmas,
die Bibel sei >Gottes Wort<, denn die Religionsgeschichte zeigt uns, dass
die macht- und interessenpolitisch gelenkte Rezeption
und die Unterschiedlichkeit der Interpretation
der Bibel im Laufe der Geschichte jede Kanonisierung verbietet; und
- in der Ablehnung von Luthers
Lehre vom demütigenden Gott.
Wie sehr auch die protestantische
Theologie sich Luthers Gottesparadoxie in De
servo arbitrio schön interpretiert hat, um damit zugleich die Frage der
Theodizee zu beantworten (also die Frage, wie das Böse in der Welt mit der
Existenz eines allmächtigen und allwissenden Schöpfergottes zu vereinbaren
ist), zeigt beispielhaft eine kleine gedankliche Unschärfe bei Hanns Lilje, Randbemerkungen zu Leibniz’
Theologie, in: Leibniz. Sein Leben – Sein Wirken – Seine Welt, hrsg. von Wilhelm
Totok und Carl Haase, Hannover 1966, S. 288). Lilje geht auf Luthers
Gottes-paradoxie im Zusammenhang der Auseinandersetzung zwischen Leibniz und Pierre Bayle über die Theodizee ein. Lilje schreibt: >… (Bayle)
hatte, die Allwissenheit und Allmacht Gottes voraussetzend, statuiert, dass
Gott für das gesamte Geschehen in der Welt die moralische Verantwortung trägt.
Als der Allweise und Allmächtige hätte er die Möglichkeit gehabt, die Welt und
ihre Kreaturen anders zu erschaffen, die Sünde und das Übel zu verhüten…<
Und zu Leibniz’ Erwiderung stellt Lilje
fest:
>Interessanterweise kommt … (Leibniz) dabei auf einen Gedanken, den
er der größten und tiefsten Schrift Luthers entnehmen zu können glaubt. Er
wiederholt, was Luther in De servo arbitrio gegen Erasmus gesagt hat, nämlich,
dass es gerade zum Wesen des Glaubens gehöre, auch gegen allen Augenschein der
göttlichen Liebe gewiss zu sein. <
Lilje lässt in dieser Feststellung zwei zentrale Unterschiede zu
Luthers Lehre von der Gottesparadoxie, wie wir sie oben im Zitat aus De servo arbitrio wiedergegeben haben,
außer Betracht: Zum Einen, dass Luther sich anmaßt, Gottes paradoxe
Handlungsweise als göttliches Handlungs-
und Erscheinungsmotiv zu kennen, und zum Zweiten macht es einen riesigen
Unterschied, ob man – wie Luther – das göttliche Handlungsprogramm grundsätzlich und generell, man könnte
auch sagen: konstitutiv, als ein nach außen als Unheilsprogramm
erscheinendes und immer nur verborgen
Gutes begreift, oder ob man mit Paulus
(Römer 1, 20) den guten Gott auch
nach außen grundsätzlich und generell an seiner guten Schöpfung und den Zeichen
seiner Menschenliebe erkennen kann, aber gerade bei dieser Grundannahme dann
das Problem hat, die Existenz des Bösen in der Welt mit dem an seinen guten
Werken als gut erkannten allmächtigen und allwissenden Schöpfer in Einklang zu
bringen.
Damit sind wir bei den ersten
beiden der drei positiven Gewährleistungsziele des
aufgeklärt-wirklichkeitsgerecht-hilfreichen Glaubens, nämlich bei Freiheit und Verantwortung.
Das Theodizee-Problem löst sich
sofort auf, wenn man (mit Erasmus und gegen Luther) den moralisch freien Willen des Menschen als schöpfungskonstitutiv
ansieht, wenn man also davon ausgeht, dass der Schöpfergott dem Menschen die
Freiheit der Wahl (im Rahmen der Reichweite seines Entscheidungshorizontes)
zwischen den jeweils verschiedenen Entscheidungsalternativen gegeben hat,
einschließlich der Entscheidungsmöglichkeit für das Böse, ja einschließlich der
Möglichkeit einer Entscheidung gegen Gott. Und man muss wohl davon ausgehen,
dass der Mensch als mündiges Wesen nur in der Belehnung mit dieser
völligen Entscheidungsfreiheit gedacht werden kann: es geht hier um eine anthropologische
Grundkonstante. Eine Begrenzung des menschlichen Entscheidungsvermögens auf
nur gutartige Entscheidungen würde das Menschengeschlecht zu einem Heer von
Willenslemuren degradiert haben, das zu wahrer Humanität unfähig wäre.
Das bedeutet zugleich, dass der
Mensch in die Verantwortung für die menschlich zu gestaltenden Abläufe
und Zustände dieser Welt gestellt ist. Es war kein Theologe, der diese
Befindlichkeit öffentlich bekannt hat, sondern der 35. Präsident der USA, der
bekennender Katholik war: John F. Kennedy erbat am 20. Januar 1961 am Ende seiner Inaugural Address
>...His blessing an His help, but knowing that here on earth God’s
work must truly be our own.<
Auschwitz (hier als
Symbolbegriff für den gesamten Holocaust verwendet) war deshalb ebenso
Menschenwerk, wie es Tausende von eingetragenen Christen waren, die an dieser
bestialischen Mordmaschinerie mitgewirkt haben. Die Schaffung dieser
schlimmsten aller vorstellbaren Höllen war hier im Diesseits von
Menschen unter unvorstellbarem Missbrauch ihrer moralischen
Entscheidungsfreiheit Wirklichkeit geworden. Dies zeigt zugleich, dass die auch
vom Christentum imaginierte >Hölle< als (von Gott oder dem Satan
geschaffene) ultimative Strafinstanz im Jenseits nicht unser
eigentliches Problem ist, sondern die Vermeidung höllischer Folter- und
Vernichtungsprozeduren im Diesseits in unserer Verantwortung liegt.
Das dritte positive
Gewährleistungsziel für einen aufgeklärt-wirklichkeitsgerecht-hilfreichen
Glauben ist der Lackmustest der
Wirklichkeitskonkordanz. Kein Glaube kann wirklich hilfreich sein, wenn er
(angeblich geschehene oder angeblich existierende) Tatsachen als Dogmen
postuliert, die einer Vernunftüberprüfung nicht standhalten. Nun ist die
Wirklichkeit ein höchst komplexes Gefüge von materiellen,
biologisch-funktionalen, sozialen und ideellen Gegebenheiten, die darüber
hinaus in intrikaten Wechselbeziehungen stehen. Nicht nur die Wissenschaften
vertiefen und erweitern ständig unser Wissen über einzelne Aspekte und
ausgewählte Zusammen-hänge dieser Wirklichkeit, sondern auch Literatur und
Kunst erschließen ständig neue Bewusstseinsräume und Befindlichkeiten der
Wahrnehmung und Selbstein-schätzung. Im Zusammenwirken aller dieser Elemente
erleben und begreifen wir individuell und in unterschiedlichen
Kollektivsituationen die Wirklichkeit, die damit eine notwendige offene,
das heißt niemals abgeschlossene, sich vielmehr in dauernder Entwicklung
befindende ist. Nur der Glaube ist
mit dieser offenen Wirklichkeit vereinbar, dessen Annahmen mit keiner dieser
neuen Wirklichkeits-konstellationen kollidiert, vielmehr durch jede neue
Erkenntnis, Entdeckung oder sonstige Wahrnehmung einen neuen Impuls der
Bestätigung erhält. Eine Religion, deren institutionelle Hüter einen Giordano
Bruno verbrennen und einen Galileo Galilei (um nur diese beiden
beispielhaft zu nennen) nachhaltigst bedrohen und unter Kuratel stellen ließen,
weil beide mit ihren Entdeckungen den Horizont der Wirklichkeitskenntnis
erweitert, dabei aber (angeblich) die biblische Lehre missachtet hatten – eine
solche Religion desavouiert sich als zeitgebundene geistliche
Herrschaftsverkrampfung, kann aber in der vollen Wirklichkeit keine
Orientierung und schon gar keinen Trost bieten.
Der wahren Wirklichkeit und ihren
Gesetzmäßigkeiten nachzuspüren, ist Aufgabe der verschiedenen Zweige der
Wissenschaften. Das Verhältnis der Wissenschaften zum Glauben ist deshalb unter
dem Postulat der Wirklichkeitsverbundenheit des Glaubens ein äußerst
zeitgemäßes Thema und es kann deshalb nicht verwundern, dass die Bücher hierzu
inzwischen Bibliotheken füllen. Ich möchte in der Kürze unserer hier
angestellten Überlegungen nur auf vier Dimensionen dieses Themas eingehen, die
allesamt dasselbe belegen: Dass nämlich nicht nur kein Gegensatz zwischen
Wissenschaft und Glauben besteht, sondern eine wechselseitige Impulswirkung
(Näheres in meinen Überlegungen zu Chancen des Glaubens im technologischen
Zeitalter, in: Bernd Rebe, Denkerkundungen. Reden wider die Vordergründigkeit;
Hildesheim-Zürich-New York 1995, S. 33 ff.).
Zum Einen ergeben sich
Gegensätze zwischen Glauben und Wissenschaft nur für solche Religionen, die,
wie auch das Christentum, noch in ihren überlebten Dogmen voraufklärerischer
Weltdeutung befangen sind. Ein Beispiel hierfür ist der völlig unsinnige Streit zwischen Kreationisten und Evolutionisten:
Sowie man das biblische Bild von der Schaffung des Menschen durch göttliche
Beatmung eines Erdenkloßes (1. Buch Moses, 2.7) überwindet und dem Gedanken
Raum gibt, dass gerade die Evolution der göttliche Weg der Schaffung des
Menschen gewesen sein könnte, ist der Streit aus der Welt.
Zum Zweiten haben gerade solche
Wissenschaftler, die über die labormäßige Engführung ihrer Wissenschaft hinaus
bis an die Grenzen des Wissbaren vorgestoßen sind und sich über die umgreifende
Sinneinbettung ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Erkenntnisse Gedanken
gemacht haben, nicht nur die Grenzen zum Noch-Nicht-Wissen neu vermessen,
sondern auch gerade aus ihrer wissenschaftlichen Grenzerfahrung
heraus die Notwendigkeit des Glaubens postuliert: >Die Physik selbst hat die
Tore zu einer Welt aufgestoßen, die eine umfassendere Wirklichkeit mit im
wahrsten Sinne des Wortes „metaphysischem“ Charakter zur Gewissheit
werden lässt< (Rebe aaO, S. 44).
Wolfram Weimer erwartet in seinem in >postmodernem Optimismus< hoch fahrenden Traktat >Credo. Warum die Rückkehr der Religion gut
ist< (München 2006, S. 43 u. 45) sogareine Verstärkung dieses glaubensgenetischen Zusammenhangs: >Je weiter die Wissenschaft in die
Grenzsphären von Sein und Wirklichkeit vordringt, desto größer werden die
Felder der Glaubenserkenntnis….In
allen naturwissenschaftlichen Grenzregionen aber häufen sich die
Kontingenzprobleme. Was sind letztlich Eigenschaften von Elektronen? Wie
erklärt und versteht sich die Unendlichkeit des Universums? Am Ende schlägt die
rationale Extremerkenntnis in vorreligiöse Erwartung um. Dieser Trend, dass
ausgerechnet aus wissenschaftlicher Arbeit ein stark religiöser
Erkenntnisimpuls erwächst, dürfte sich im 21. Jahrhundert verstärken. Denn den
Naturwissenschaftlern widerfährt in ihren Disziplinen das Gleiche, was Kant in
der Philosophie passierte. Mit dem Erkennen von Grenzen geht die Einsicht
einher, dass es etwas hinter den Grenzen geben muss, sonst gäbe es keine
Grenzen.<
Nahezu alle bedeutenden
Wissenschaftler, die über dieses Thema nachgedacht haben, sind gläubige
Menschen (geworden), wenn auch nicht notwendig in der tradierten Glaubenswelt
des Christentums.
Zum Dritten dürfen die
Wechselbeziehungen zwischen Glauben und Wissenschaft nicht
bevormundend-begrenzend verstanden werden, sondern öffnend-freisetzend (Rebe
aaO, S. 35): Jede neue wissenschaftliche Erkenntnis über die Wunder dieser
Schöpfung muss doch unserem dankbaren Glauben befördern! Hier muss ich der
Einschätzung des Evolutionären Humanismus widersprechen, >dass
nicht nur streng religiöse Menschen (gleich welcher Herkunft!) arge
Probleme mit dem ernüchternden Perspektiven der Wissenschaft haben, auch die in
religiösen Dingen eher indifferent denkende Bevölkerungsmehrheit dürfte sich
schwer tun, die fundamentalen Kränkungen zu verarbeiten, die mit dem
fortschreitenden Prozess wissenschaftlicher Ent-Täuschungen unweigerlich
verbunden sind< (Michael Schmidt-Salomon. Manifest des evolutionären
Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur, 2. Aufl. Aschaffenburg
2006, S. 10): Jede Annäherung an die Wirklichkeit, nicht nur die durch die
Wissenschaft, sondern z. B. auch die durch das Alter, bringt Ent-Täuschungen
mit sich, eben die Verabschiedung von Täuschungen. Dies ist aber ein Gewinn,
den wir zu schätzen lernen müssen.
Zum Vierten lehrt uns die
wissenschaftstypische Vorsicht im Umgang mit (vermeintlichen) Gewissheiten, auch
im Glauben nur einen innersten Bereich von Dankbarkeit für die Schöpfung und
Ehrfurcht vor dem Leben (Albert Schweizer) sowie unsere immer erneute
Erfahrung, dass unsere Gebete nicht unbeantwortet bleiben, als wunderbaren Kern
unseres Glaubens zu nehmen. Mehr brauchen wirnicht, außer dem
Respekt vor anderen, die in anderer Weise und mit anderen Inhalten glauben,
solange uns von diesen anderen der gleiche Respekt für unseren Glauben entgegen
gebracht wird, denn, mit Georg Picht (bei A.M.Klaus Müller aaO, S. 20)
ausgedrückt:
>Man muss an Gott glauben,
wenn man den Glauben an die verborgene Zukunft des Menschengeschlechts nicht
verlieren will. Empirisch lässt sich die Hoffnung nicht mehr begründen, dass
aus der Schändung von allem, was heilig ist, dass aus Niedertracht, Dummheit,
Gier, Roheit und Barbarei noch ein Segen für die Zukunft der Welt hervorgehen
kann.<
Dem ist jetzt nach der aus
schrankenloser Profitgier erwachsenden Weltfinanzkrise, die sich ja inzwischen
zu einem fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens und Wirtschaftens
erfassenden Krisenstrudel mit schlimmen Auswirkungen für Millionen von Menschen
ausgeweitet hat, nichts mehr hinzuzufügen.
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