Erschienen in Ausgabe: No 120 (02/2016) | Letzte Änderung: 19.02.16 |
von Jörg Bernhard Bilke
Er
starb, fast vergessen, am Samstag, 16. Januar, in einem Wiener
Krankenhaus, völlig verarmt und fern von seinen Wirkungsstätten in
Rostock und Berlin. Öffentlich bekannt wurde der Tod des IMB „Torsten“
erst eine halbe Woche später, am Mittwoch, 20. Januar, und das eher
beiläufig, nur Tom Strohschneider, der Chefredakteur der einstigen
SED-Zeitung „Neues Deutschland“, schrieb einen längeren Nachruf, voller
Verständnis für dieses von Tragik überschattete Leben. Dr.
Wolfgang Schnur (1944-2016) wurde am 10. Juni 1944 in der pommerschen
Hauptstadt Stettin geboren und kam, noch kein Jahr alt, als Waisenkind
nach Rostock. Er wuchs in Kinderheimen auf und legte das Abitur ab, nach
einer Maurerlehre studierte er schließlich Rechtswissenschaft und wurde
1964, als er gerade 20 Jahre alt war, von Werbern des „Ministeriums für
Staatssicherheit“ angesprochen, die ihm eine „Verpflichtungserklärung“
abverlangten. So wurde er neben dem Studium, das er mit dem Titel
„Diplom-Jurist“ abschloss, zum „inoffiziellen Mitarbeiter mit
Feindberührung“, der auch im 1969 gegründeten „Bund der Evangelischen
Kirchen in der DDR“, mit Sicherheit im Auftrag seiner MfS-Vorgesetzten,
eine zweite Karriere durchschritt bis hinauf zum Vizepräsidenten der
Synode.
Dass er Waisenkind war, das ohne Eltern, an die er sich
in jugendlichen Nöten hätte wenden können, aufwuchs, haben sich die
Menschenfänger der „Staatssicherheit“ in schamloser Weise zunutze
gemacht. Sie berieten ihn, sie machten im Geld- und Sachgeschenke, sie
ersetzten ihm Vater und Mutter. Solche Fälle, wo ein Lebenslauf durch
staatliche Einwirkung in eine völlig falsche Richtung gedrängt wurde,
gab es vermutlich zu Tausenden im SED-Staat. Bekannt ist der von
„Ibrahim“ Böhme, der sein Unwesen in Thüringen trieb und über den Birgit Lahann ein eindrucksvolles Buch „Genosse Judas“ (1992) geschrieben hat.
Frühzeitig
hatte Wolfgang Schnur als „Kirchenanwalt“ auch Kontakt zu Pfarrer Horst
Kasner (1926-2011) aufgenommen, der 1954, wegen des Pfarrermangels, von
Hamburg nach Quitzow/Mecklenburg übergesiedelt war und seit 1957 in der
brandenburgischen Kreisstadt Templin das „Pastoralkolleg“ aufbaute, wo
SED-nahe Pfarrer ausgebildet wurden. Horst Kasner, der Vater von
Bundeskanzlerin Angela Merkel, war als „progressiver“ Kirchenfunktionär
auch Mitglied des 1958 gegründeten „Weißenseer Arbeitskreises“, der
linkssozialistische DDR-Theologen ideologisch förderte.
Im
Oktober 1989, wenige Wochen vor dem Mauerfall am 9. November, wurde,
zunächst inoffiziell, von den beiden Pfarrern Rainer Eppelmann und
Friedrich Schorlemmer sowie von Wolfgang Schnur die oppositionelle
Gruppe „Demokratischer Aufbruch“ gegründet, auf dessen offiziellem
Gründungstag am 16. Dezember in Leipziger der Rostocker Rechtsanwalt zum
Vorsitzenden gewählt wurde. Ein Vierteljahr später, im März 1990, noch
vor den demokratischen DDR-Wahlen vom 18. März, wurde Dr. Wolfgang
Schnurs krimineller Status als „inoffizieller Mitarbeiter“ 1964/89 der
„Staatssicherheit“ aufgedeckt. Er wurde aus dem „Demokratischen
Aufbruch“, der später in der Ost-CDU aufging, ausgeschlossen und
erkrankte schwer. Im Jahr 1993 wurde ihm wegen „Mandantenverrats“ die
Zulassung als Rechtsanwalt entzogen, was 1994 vom Bundesgerichtshof in
Karlsruhe bestätigt wurde, 1996 verlor er einen Prozess gegen die
Bürgerrechtler Freya Klier und Stephan Krawczyk und wurde zu einem Jahr
auf Bewährung verurteilt, 1999 wurde er vorübergehend wegen Betrugs
festgenommen. Sein ehemaliger Mandant Alexander Kobylinski, der 1984
wegen Verteilens von Flugblättern vor Gericht stand, hat unter dem Titel
„Der verratene Verräter“ (2015) eine Biografie über ihn veröffentlicht.
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