Erschienen in Ausgabe: No 122 (04/2016) | Letzte Änderung: 05.05.16 |
von Heike Geilen
Lepra - selbst
im aufgeklärten Europa herrscht nur Oberflächenwissen über die auch als Morbus
Hansen bezeichnete chronische, aber am wenigsten ansteckende
Infektionskrankheit. Die große Furcht der Menschen vergangener Jahrhunderte und
den daraus folgenden Diskriminierungen Betroffener erklärt sich aus dem
typischen Erkrankungsbefall und der damit einhergehenden Entstellungen von
Gesicht (Löwengesicht), Haut (Geschwüre) sowie Gliedmaßen ("Abfaulen"
der Hände und Füße).
Besonders
unrühmlich ging man in Japan mit den Kranken um, indem man in der Vergangenheit
Leprakranke von der Gesellschaft vollkommen isolierte und wegen der vermuteten
Ansteckungsgefahr in Sanatorien einsperrte, obwohl die Erkrankung bereits in
den 50er Jahren durch 3-fach-Antibiotikabehandlung als heilbar galt. Hinzu kam,
dass Schwangere zu Abtreibungen gezwungen und Männer zwangssterilisiert wurden:
Taten, die das Strafrecht als Mord definiert.
Seit die
Zwangsquarantäne aus dem Jahr 1907 im Jahr 1996 beendet wurde, können die
Leprakranken wieder am öffentlichen Leben teilhaben. Das japanische Parlament
hat sich offiziell bei den Betroffenen entschuldigt und Schadenersatz in Höhe
von 14 Millionen Yen (104.000 Euro) gezahlt. Etwa 5000 ältere Leprakranke leben
noch heute in staatlichen Leprosorien, wo sie seit etwa 40 Jahren untergebracht
sind und daher keine eigene Wohnung mehr haben, in die sie zurückkehren
könnten.
Tokue ist so
eine "Himmelsgarten"-Bewohnerin. Als sie das erste Mal an Sentaros
Imbissstand auftaucht und anbietet, dem Dorayaki-Bäcker beim An-Kochen (ein
süßer roter Bohnenmus) unter die Arme zu greifen, lehnt dieser - obwohl er
Hilfe gebrauchen könnte - zunächst ab. Aber die weise, alte Frau überzeugt ihn
letztendlich. Trotz ihrer entstellten, krallenartigen Hände und des etwas
schiefen Gesichtsausdrucks, zaubert sie in geradezu rituellen Handlungen, in
denen sie sogar mit den Bohnen spricht, eine geradezu himmlisch schmeckende
Bohnenmus-Pfannkuchen-Paste. Hinzu kommt, dass sie Sentaro so etwas wie eine
Lebensberaterin wird. Sie versteht es mehr und mehr in das Innere des
verschlossenen, zurückgezogenen, zu viel trinkenden und in der Vergangenheit
auf die schiefe Bahn geratenen Mann vorzudringen: "... von diesem Licht in
ihren Augen, wenn sie lächelte, fühlte er sich manchmal regelrecht
durchleuchtet."
Sentaro beginnt
nach und nach viel bewusster und aufmerksamer durchs Leben zu gehen. Anstatt
eines Lebensmittels mit dem er hantiert, beginnt sogar er "eine Schar
kleiner Lebewesen vor sich" zu sehen.
Der kurzzeitige
Umsatzanstieg durch die mit einem Mal reißenden Absatz findenden Dorayakis
erhält dennoch einen derben Einbruch, als sich offenbar herumspricht, dass
Sentaro eine Lepra-Kranke beschäftigt...
Mit typisch
japanischem Timbre, manchmal kühl und unnahbar, mitunter spartanisch und ohne
allzuviel blumige Worte, erzählt Durian Sukegawa eine leise, aber feine Geschichte
über vergessene, aber nie ganz verlorene Träume, über Heimat, Scheitern,
Schmerz, die Verstocktheit der Welt und vor allem die traurige Vergangenheit
der japanischen Lepra-Kranken. Das Werden der Kirschbäume und ihr
"Jahres-Blütenlauf" sind dabei so etwas wie Metaphern auf das
menschliche Leben im Allgemeinen und das Schicksal bzw. "Farbenspiel"
der literarischen Protagonisten im Besonderen: "Nicht immer, wenn man die
Ohren spitzt, hört man auch etwas. Aber geben Sie nicht auf, versuchen Sie es
weiter. Ganz gleich, wovon wir träumen, irgendwann finden wir das Erträumte.
Ich bin überzeugt, dass es zu uns spricht und wir seine Stimme hören. Im Leben
eines Menschen gibt es nie nur eine Farbe. Die Schattierungen können sich
jederzeit ändern. Eigentlich ist das ganze Leben ein andauerndes
Farbenspiel." (Tokue an Sentaro)
Fazit: Ein
kleines, feines und unglaublich intensives Buch - wenn man es versteht sich
darauf einzulassen und den Lärm der Welt auszublenden. Ein Text, der im Schmerz
Schönheit gebiert. Ein Satz aus dem Roman trifft den Leseeindruck besonders:
"Es war eine Begegnung mit all dem, für das es keine Worte gab. (...) Aber
diese Art zu denken hat mein Leben verändert. Wir sind geboren, um die Welt zu
betrachten und ihr zuzuhören. Das ist alles, was sie von uns verlangt."
Durian Sukegawa
Kirschblüten und
rote Bohnen
Aus dem
Japanischen von Ursula Gräfe
Titel der
Originalausgabe: An
Dumont
Buchverlag (März 2016)
224 Seiten,
Gebunden
ISBN-10: 3832198121
ISBN-13: 978-3832198121
Preis: 18,00 EUR
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