Erschienen in Ausgabe: No 122 (04/2016) | Letzte Änderung: 01.04.16 |
von Anna Zanco-Prestel
„Chatzer“, Einzäunung, nannten die venezianischen Juden ihr
Ghetto, das erste der Geschichte, das am 29.März 2016 seiner Gründung vor exakt
500 Jahren gedenkt. Die Bezeichnung „Ghetto“ findet ihren Ursprung in der
Aussprache des Wortes„Geto“ seiner allerersten Bewohner, Ashkenaz im aus dem
deutschsprachigen Raum. Geto (Guß) , das für eine ehemalige Gießerei steht, die
sich im so genannten Ghetto Novo befand. Ein Gebiet am Stadtrand mit dicht
übereinander gestapelten Wohnungen, die mit dem Edikt vom Dogen Ludovico Dolfin
den Juden zu drei Mal so hohen Mietpreisen zugewiesen wurden. Eine heute
nochabgesonderte Ecke Venedigs jenseits stets wachsender Touristenströme, die
sich – etwas versteckt – dem Besucher wie eine Oase der Ruhe entgegen öffnet. Für
Rainer Maria Rilke, der ihm eine herrliche „Szene“aus seinen „Geschichten vom
Lieben Gott“ widmete, galt das Ghettomit seinen in die Höhe schießenden Bauten
als ein Ort der Spiritualität, was es auch dank eines sich dort abspielenden
regen geistig-religiösen Austausches mit herausragenden jüdischen Gelehrten wie
dem Humanisten Leone da Modena oder Rabbi Shemuel Aboàfwar. Während der
„Serenissima“ lebten im Ghetto- wie der Präsident des Jewish World Congress
Rolando Lauder während der offiziellen Gedenkveranstaltung im Teatro la Fenice
sagte – etwa 5000 Juden auf engstem Raum eingepfercht und nächtlich von
Wächtern bewacht, für deren von der Republik erzwungene Bezahlung sie selbst
aufkommen mussten. Venedig war aber auch der erste Ort auf der Welt, der Juden
erlaubte, sich auf städtischem Boden anzusiedeln. Die Tore, die am
Abendgeschlossen wurden, grenzten sie aus und boten ihnen zugleich Schutz vor
Übergriffen. Ein Leben unter widrigen Umständen, dem die Juden durch ein
Übermaß an Erfindungsgeist und Kreativität zu trotzen lernten. Ein kreativer
Elan, der sich in einer schätzenswerten literarischen Produktion, nicht zuletzt
auch in der Errichtung von fünf prächtigen Synagogen materialisierte, eine
davon von Baldassarre Longhena , dem Erbauer der“ Chiesa della Salute“ ,
restauriert. Neben dem florierenden Handel mit Lumpen, später mit edlen
Kleidern, war die hebräische Kunstbuchdruckerei eine der durch Juden
verrichteten Aktivitäten, die den Ruhm vom Ghetto von Venedig begründeten. Dort
wurden der erste Talmud und auch der erste Koran gedruckt, die nun– dank dem
Orientalisten und Sammler Johann Albrecht von Widmannstetter – zu den
wertvollsten Schätzen der Bayerischen Staatsbibliothek in München zählen. Juden
unterschiedlicher Herkunft lebten im Ghetto friedlich nebeneinander. Deutsche,
italienische, spanische, orientalische Juden, die mit Venezianern und Fremden –
darunter Griechen, Türken, Armeniern – zusammentrafen. Deshalb kann es – in den
Worten des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Venedig Paolo Gnignati
– als Modell für eine neue Artweltoffenen, toleranten Zusammenlebens im Spiegel
der neuen Migrationsflüsse dienen. Das Ghetto an sich kann aber
selbstverständlich nicht als „positives Beispiel“ betrachtet werden, denn es
steht an erster Stelle als Synonym für Trennung und Ausgrenzung. Es behält
dennoch im Kollektivgedächtnis seine wegweisende Funktion als Schnittpunkt für
Menschen unterschiedlicher Herkunft, Erfahrung und Glauben, als Kreuzweg der
Kulturen schlichtweg. Heute leben kaum noch Juden im venezianischen Ghetto, das
in den letzten Jahren durch die Etablierung von zweikoscheren Restaurants und kleinen
Läden revitalisiert wurde. Das kleine jüdische Museum mit Bibliothek und
Buchhandlung wird derzeit restauriert und erweitert. In Venedig selbst leben
nicht mehr als 400 Menschen jüdischer Erfahrung überall verstreut. Überschattet
war die Gedenkveranstaltung vor Vertretern der höchsten staatlichen und
religiösen Institutionen und prominenten ausländischen Gästen durch die
jüngsten Attentate in Pakistan und im Herzen Europas, die in Venedig noch nie
gesehene Vorkehrungen durch italienische und israelische Sicherheitskräfte
erforderten. Höhepunkt war die Aufführung von Mahlers „Titan“ mit Omer Meier
Wellberg auf dem Dirigentenpult. Vorausgegangen war im überfüllten Vortragssaal
vom „Ateneo Veneto“ die Präsentation des beim Verlag Bollati-Boringhieri
erschienenen Bandes „Venezia e il Ghetto“ von Donatella Calabi, die die
Ausstellung „Venedig, die Juden und Europa“(19.06.- 13.11.2016) im Dogenpalast
kuratieren wird. Die Universität Ca‘ Foscari beteiligte sich dazu mit der Podiumsdiskussion
„Rewriting the Ghetto von Venice for the 21. Century “ im Auditorum Santa Margherita im
Rahmen der zehnten Edition der Reihe “Incontri di Civiltà - Festival
Internazionale di Letteraturaa Venezia”.Auf
dem Podium der in Tel Aviv geborene Wiener Star-Autor Doron Rabinovici und der
auch sehr bekannte australische Romancier und Menschrechtsaktivist Arnold
Zable,Graziano Graziani (Rai Radio 3) und für die Universität Ca’Foscari Stefania
Sbarra und Shaul Bassi, der auch das Venetian Centre for International Jewish
Studies BEIT VENEZIA vertritt. Die Erinnerung an
die Errichtung vom Ghetto, die zunächst lokale Bedeutung hätte haben sollen,
hat inzwischen ein Ausmaß erreicht, das über die Stadtgrenzen hinausgeht. Ein umfangreiches
internationales Veranstaltungsprogramm begleitet die Besucher über das ganze
Jahr u.a. mit der erstmaligen Inszenierung von Shakespeares „Kaufmann von
Venedig“ auf dem Campo del Ghetto vom 26. bis 31.07.2016, einem Symposium über
das“ Hebräische Buch“a m 28.07. 2016 in der Biblioteca Marciana in
Zusammenarbeit mit der National Library of Israel und einer Tagung am 12. u.
13. 12.2016 über „Jüdische Musik“ im 19.Jht. bei der Stiftung Olga Levi.
Zu verfolgen unter:www.veniceghetto500.org.
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