Erschienen in Ausgabe: No 123 (05/2016) | Letzte Änderung: 05.05.16 |
von Heike Geilen
"Entweder wir finden einen Weg, oder wir schaffen
einen." (Hannibal, Feldherr der Antike)
Wir alle gehen einen Weg in unserem Leben, meist der von
unseren Eltern, unserer Familie vorgezeichnete. Vielleicht bahnen wir uns aber
auch einen völlig eigenen. Erstere Variante - unsere Familie als Vorbild,
Verwandte und Freunde, denen wir folgen - gilt als die sichere, relativ
leichtere. Doch ist gerade dieser scheinbar auf uns zugeschnittene Weg
tatsächlich auch der beste für uns?
"Es kommt mir vor wie ein Raster, sagte sie, alles
kommt mir vor wie ein Raster. (...) als ob es nur gerade Richtungen gäbe, die
Wege sind vorgegeben, und man kann von dem Raster nicht abweichen, wie in einem
Kanal, oder wie wenn man Fugen entlangliefe und dann erst die Richtung wechseln
kann, wenn man am Ende einer Fliese angekommen ist und die nächste
anfängt.", ist im Buch zu lesen. Viel Skepsis klingt darin,
Unzufriedenheit, der Drang, aus den vorgefertigten Bahnen auszubrechen, etwas
Neues zu probieren und Schema F zu verlassen. Doch einen eigenen Weg
einzuschlagen enthält auch die große Portion Unsicherheit, ein Wagnis einzugehen.
Wenn wir wirklich neue Wege gehen - sei es aus eigener, sei es aus allgemeiner
Sicht - dann steht einem die Angst zunächst im Wege: Was ist, wenn wir
fehlschlagen? Wird das, was wir für uns als Weg neu schaffen, auch beim
jeweiligen Gegenüber auf Gegenliebe stoßen?
Die Entwicklung des Menschen als Persönlichkeit - als großes
Thema im Kleinen und als kleine Materie im großen Ganzen - stellt das
Hauptthema dieses großartigen Textes von Roland Schimmelpfennig. Wie ein roter
Faden zieht sich dieser Leitgedanke durch die jeweiligen Einzelschicksale
seiner Protagonisten. Gewählt hat er ganz explizit Personen mit
"abgestoßenen Kanten", die nicht wirklich glücklich und zufrieden
sind. Selbstzweifel plagen die einen ("Er war immer der gewesen, der alles
besser wusste, der alles gelesen hatte: Er war immer der gewesen der bereit
war, alles zu verändern, und in dessen Leben sich nichts änderte."),
schwerer Alkoholismus den anderen. Da der erfolgreiche Künstler, der dennoch
seine Werte in Frage stellt und dort das polnische Hausmädchen, die schwanger
ist, allerdings nicht von ihrem Freund.
Sie alle leben in Berlin bzw. sind auf dem Weg dorthin. Eine
Stadt, die ihre Bewohner nicht gerade mit Wärme und Nähe umgibt und in der
Roland Schimmelpfennig seinen Roman angesiedelt hat. Es sind Menschen ohne
fühlbare oder nur noch vage bestehende Bindungen zu ihrem Vorher und Nachher.
Als gelungenes Stilmittel fungieren zusätzlich Schnee, Kälte oder leere,
entkernte Wohnungen. Die einzige "So-Etwas-Wie-Verbindung" stellen
wiederum Züge dar, die auf ihren Gleisen Strecken und Leere überbrücken, aber
dennoch zumeist nur in Geraden verkehren. Es fehlen Biegungen, Kurven,
Krümmungen, Wendungen oder gar Sprünge.
Nur einer scheint diese Serpentinen und Schwenkungen mühelos
hinzubekommen: ein Wolf. Dieser taucht mal hier und mal da auf. Wurde er gerade
noch vor den Toren der Großstadt gesichtet, so ist er auf einmal mittendrin.
Vielleicht stellt gerade er das verbindende "menschliche" Glied dar?
Denn je tiefer er in den städtischen Kern vordringt, umso augenscheinlicher
führen die zunächst getrennten und völlig zusammenhanglos scheinenden Stränge
zueinander. Erst zaghaft, nur andeutungsweise und mit klitzekleinen
Verbindungssequenzen, aber dann immer drängender und Brücken schlagender.
Der Autor hat dies stilistisch hervorragend inszeniert.
Beginnt er zunächst nur mit kurzen und fast stakkato-artigen Kapiteln, die sich
abwechseln und nebeneinander herlaufen, fügen sich die Erzählstränge Seite um
Seite beinahe fließend und mühelos zusammen. Wie in Trance verfällt der Leser
trotz des kühl anmutenden Schreibstils und kann sich kaum dem magischen Sog
entziehen. "Schließlich kam er bei der entscheidenden Frage an: was
überhaupt Sinn machte, ob überhaupt etwas Sinn machte."
Es geht um Grenzen sprengen, auch wenn es nicht allen
gelingt und ihnen am Ende nur blutleere Träume bleiben. Es geht um
Vergänglichkeit und Ruhm, der nur sporadisch da war, aufgesetzt auf gehaltlosen
Dingen. Und es geht um das Finden eigener Wege, um das Gestalten der eigenen
Zukunft, um innere Zufriedenheit. Auch wenn dies mitunter nur durch das
Verlassen des scheinbar vorgezeichneten Weges zu erreichen ist.
Fazit: "Alles war so dunkel, und alles war so
hell." Mit diesem einfachen Satz aus dem Roman von Roland Schimmelpfennig
ist eigentlich alles gesagt. Für mich DIE Buchentdeckung im Frühjahr 2016. Eine
großartige Leseerfahrung.
Roland Schimmelpfennig
An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21.
Jahrhunderts
S. Fischer (Februar 2016)
254 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100024702
ISBN-13: 978- 3100024701
Preis: 19,99 EUR
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