Erschienen in Ausgabe: No 123 (05/2016) | Letzte Änderung: 05.05.16 |
von Michael Lausberg
1 Einleitung
Seit dem Ende des Kalten
Krieges begann die Ausbildung des Forschungsfeldes der interkulturellen
Philosophie als neue Impulsgeber innerhalb der herkömmlichen Philosophie. Der
sich in allen Ebenen durchsetzende Globalisierungsprozess brachte eine größere
Heterogenität und Fragmentierung von Weltbildern mit sich und schließt
Individuen oder Gruppen unterschiedlicher kultureller Herkunft zu einer
Menschheit zusammen.
Kulturen wird dabei als
heterogene, dynamische Entitäten betrachtet, was auch auf die in ihr
vertretenen Religionen und Philosophien gilt. Ein einheitlicher und statischer
Kulturbegriff sowie die Konservierung des jeweiligen gegenwärtigen kulturellen
Zustandes werden dagegen abgelehnt. Zu allen Zeiten fand trotz mancher
spannungsreicher Kulturbegegnungen ein interkultureller Austausch statt; die
räumliche Annäherung unterschiedlicher Traditionen und Weltanschauungen haben
für eine ständige Erneuerung und Anpassung gesorgt.
Die zahlreichen
politischen, gesellschaftlichen, religiösen und kulturellen
Auseinandersetzungen der Vergangenheit und Gegenwart hatten und haben den
Hintergrund, dass die jeweiligen politischen Ideologien, Religionen oder
Philosophien glauben, allein im Besitz der einen einzigen Wahrheit zu sein.
Daher ist eine kulturübergreifende Kommunikation notwendig, die die Ebene
zivilisatorischer Koexistenz überschreitet und zur gewaltfreien
interkulturellen Verständigung führt: „Interkulturelle Philosophie soll dem
friedlichen Miteinander in einer allumfassenden menschlichen Kultur dienen, die
gleichwohl kulturelle Spezifika bewahrt und gelten lässt. Sie soll helfen, eine
Kultur zu etablieren, die die ganze Menschheit umfasst, Frieden schafft und
erhält und den Menschenrechten genügt, ohne die berechtigten Ansprüche
einzelner Kulturen auf Erhalt ihrer Besonderheiten zu vernachlässigen.“[1]
Dabei ist die interkulturelle Philosophie ein probates Mittel, um den in der
Gegenwart herrschenden rassistischen Instrumentalisierungen des Kulturellen
entgegenzutreten.
Die interkulturelle
Philosophie beschäftigt sich im Wesentlichen mit den folgenden Punkten:[2]
-Charakteristik
kultureller Erscheinungen und Rekonstruktion von in einzelnen Kulturen
entwickelten Philosophien und Philosophemen
-Beurteilung
und Erklärung von Gemeinsamkeiten und Diversität solcher Philosophien und
Philosopheme
-Die
Entwicklung philosophischer Universalien und/oder die Begründung von Toleranz
und interkulturellem Verständnis
Die interkulturelle
Philosophie plädiert für „eine überlappend-universale, aber orthaft-ortlose
philosophia perennis“.[3]
Der Begriff philosophia perennis („immerwährende Philosophie“) geht von
der Vorstellung aus, dass sich bestimmte philosophische Einsichten über Zeiten
und Kulturen hinweg erhalten und universal gültige Aussagen über die
Wirklichkeit existieren.
Das bedeutet einen
Paradigmenwechsel sowohl in den theoretischen als auch praktischen Disziplinen
der Philosophie. Interkulturelle Philosophie ist eine kritische Philosophie der
Philosophie und weist metaphilosophischen Charakter auf. Die interkulturelle
Philosophie erhebt nicht den Anspruch, eine neue philosophische Disziplin
darstellen zu wollen. Sie will alle philosophischen Disziplinen und
Beschäftigungen durchdringen; die jeweils die Dimension des Interkulturellen in
sich aufnehmen sollten.
Die interkulturelle
Philosophie will einen neuen Philosophiebegriff finden, der nicht einer
eurozentristischen, sondern einer interkulturellen und pluralen Weltlage
Rechnung trägt. Für die interkulturelle Philosophie sind alle Formen einer
ethnozentristischen Historiographie abzulehnen: „Interkulturelle Philosophie
soll Stereotype der Selbst- und Fremdwahrnehmung kritisieren, Offenheit und
Verständnis befördern und in gegenseitiger Aufklärung bestehen. muss auch bereit
sein, sich selbst und seine Kultur, Philosophie und Religion von außen sehen zu
lernen.“[4]
Die europäische
Philosophiegeschichte gilt demnach als kleinerer Ausschnitt, der lediglich Teil
des größeren Ganzen der Weltphilosophie ist. Ein zentraler Punkt dabei ist es,
von mehreren Ursprungsorten des Philosophierens auszugehen. Frühestens seit der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt sich immer mehr diese neue
Orientierung in der philosophischen Historiographie immer mehr durch. Karl
Jaspers schrieb: „Wir sind auf dem Wege vom Abendrot der europäischen
Philosophie zur Morgenröte der Weltphilosophie.“[5]
Als Vorläufer der
interkulturellen Philosophie können der Philosoph Ernst Cassirer und sein
Ansatz der kulturellen Pluralität, der hier im Folgenden dargestellt wird.
Zunächst wird darin auf biographische Hintergründe eingegangen, bevor die
Philosophie der symbolischen Formen Cassirers und seine ideologischen Vorbilder
sowie seine Abgrenzung von Neukantianismus in den Mittelpunkt rücken. Danach
wird die kulturelle Pluralität und Freiheit in Cassirers Werk, das jegliche
reduktionistischen Modelle ablehnt,analysiert. Dann folgt eine Darstellung der Rezeption seiner Ideen im
Wissenschaftsbetrieb oder bei einzelnen Forschern. Weiterhin werden thesenartig
die wichtigsten Aspekte nochmals zusammengefasst.
2 Biographie
Der jüdisch-deutsche
Philosoph Ernst Cassirer
forschte und lehrte zunächst in Berlin, ab 1919 als Philosophieprofessor an der
Universität Hamburg, wo er Mitte der 1920er die ersten Schriften über die
„Philosophie der symbolischen Formen“ herausbrachte. Cassirer entwickelte sich
vom Erkenntnistheoretiker zu einem universalen Kulturphilosophen, der Sprache,
Anthropologie, Mythos und Technik in seine Forschungen einbaute. Cassirer
promoviert 1899 in Marburg über „Descartes’ Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen
Erkenntnis“und
habilitiert 1906 in Berlin mit der Studie „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und
Wissenschaft der neueren Zeit“,
die ihn zum führenden Erkenntnisphilosophen seiner Zeit werden ließ. In
seiner Tätigkeit als Privatdozent von 1906 bis 1919 erschien das Werk „Substanzbegriff und
Funktionsbegriff“ in dem schon seine Philosophie des Symbolbegriffs
aufgegriffen wird. Darin definiert er die naturwissenschaftliche Erkenntnis als
Operieren mit funktionsbestimmten Symbolen.
Für die Zeit vom November
1929 bis November 1930 wurde Cassirer zum Rektor der Universität von Hamburg
gewählt. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933 wurde ihm als
Juden dort der Lehrstuhl entzogen. Im selben Jahr verließ er das
nationalsozialistische Deutschland und ging zunächst nach Großbritannien ins
Exil. Wenig später bekam er einen philosophischen Lehrstuhl in Göteborg, wo er
1939 schwedischer Staatsbürger wurde. 1941 emigrierte er in die USA, wo er
Professor an der Yale-Universität und an der Columbia-Universität in New York
wurde. In seinem Spätwerk ,,An Essay
on Man", fasste er seine Grundgedanken zusammen und erweiterte
seine umfassende Symboltheorie der menschlichen Kultur um eine anthropologische
Basis.
Aus dem britischen und
später US-amerikanischen Exil beobachtete er Aufstieg und Fall des Nationalsozialismus
und den 2. Weltkrieg, was er folgendermaßen interpretierte: Es komme in
gesellschaftlichen Krisen zu einer Verunsicherung der Vernunft. Die Menschen
bedienen sich dann im Werkzeugkasten von Religion, Mythos und Stereotypen, um
sich ein neues Weltbild zu bauen: „In verzweifelten Lagen will der Mensch immer
Zuflucht zu verzweifelten Mitteln nehmen – und die politischen Mythen unserer
Tage (der Weimarer Republik, M.L.) sind solche verzweifelte Mittel gewesen“[6]
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und den als
Schmach empfundenen Vertrag von Versailles besaß der germanische Mythos eine
magische Anziehungskraft: germanische Tugenden wie Tapferkeit und Elite wurden
hochgelobt. So manifestierte sich ein durch biologistische und rassistische
Elemente angereichertes Germanenbild, das schließlich den NS-Faschismus
vorantrieb: arische Rasse, Blut-und-Boden-Ideologie, Führerprinzip. Es wurde
ein mörderisch endender Gegensatz konstruiert: Die deutschen „Arier“,
„Herrenmenschen“ und die „Nichtarier“, die „Untermenschen“. Bedeutende
Mythen dieser Zeit war auch die „Dolchstoßlegende“ von der vermeidbaren
Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die angebliche jüdische Weltverschwörung.
Cassirer schrieb: „In der Politik leben wir immer auf vulkanischem Boden. Wir
müssen auf abrupte Konvulsionen und Ausbrüche vorbereitet sein. In allen
kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen
Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand
leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher.“[7]
Bei der Bildung dieser politische Mythen setzten die Ideologen des
Nationalsozialismus nicht nur „eine Umwertung aller unserer ethischen Werte,
sondern auch eine Umformung der menschlichen Sprache“.[8] Inflation, Arbeitslosigkeit und der drohende Zusammenbruch
der Weimarer Republik seien der Nährboden für eine Rückkehr der politischen
Mythen gewesen. Der Mythos habe im Nationalsozialismus alle anderen
symbolischen Formen wie Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft oder Technik
durchdrungen und sie sich nutzbar gemacht. Cassirer warnte auch vor
dessen Wiederkehr:„In der Politik haben
wir noch keinen festen und zuverlässigen Boden gefunden. [..] Wir sind immer
vom plötzlichen Rückfall in das alte Chaos bedroht. Wir bauen hohe und stolze
Gebäude; aber wir vergessen, ihre Fundamente sicher zu machen.“[9]
3 Cassirers Begriff der symbolischen Formen
Ab Mitte des 19.
Jahrhunderts folgte eine Renaissance des Kantianismus in Deutschland und
anderen europäischen Ländern.[10]
Keiner dieser Vertreter begnügte sich damit, Kants Lehre wiederherzustellen.
Alle Neukantianer versuchten, die Vorstellungen des Königsberger Philosophen in
die eine oder andere Richtung weiterzubilden. Der Begründer des Neukantianismus
war Hermann Cohen, der Mentor Cassirers in Marburg. In seinen drei Hauptwerken
„Kants Theorie der Erfahrung“, „Kants Begründung der Ethik“ und „Kants
Begründung der Ästhetik“ beseitigte er Kants Vorstellung des Dinges an sich.
Cohen verwarf den Dualismus von Ding an sich und Erscheinung sowie den
Dualismus von Anschauung und Denken als zweier gleichberechtigt nebeneinander
stehender Formen der Erkenntnis. Erkenntnis war für ihn der ins Unendliche
schreitende Prozess, dessen nie ganz erreichbares Ziel die völlige
vernunftmäßige Durchdringung der Gegenstandswelt ist und damit die Ersetzung
alles Subjektiven durch ein allgemeingültiges Objektives. Auch im menschlichen
Wollen und Handeln vollziehe sich ein unendlicher Prozess, der auf immer
weitergehenden Überwindung des Subjektiven auf fortschreitende Verwirklichung
der objektiven sittlichen Vernunft in einen Rechtsstaat.
Paul Natorp knüpfte
besonders an die Erkenntnistheorie Kants an. Er bemühte sich vor allem um eine
kritische Grundauslegung der Naturwissenschaften, der Psychologie und der
Pädagogik. Für Cohen und Natorp war Erkenntnis im Wesentlichen gleichbedeutend
mit wissenschaftlicher Erkenntnis; diese setzten sie praktisch gleich mit
Mathematik und Naturwissenschaft. Heinrich Rickert war in seiner Forschung
nicht rein naturwissenschaftlich orientiert. Die Geisteswissenschaften und die
Frage ihrer selbständigen Begründung und richtigen Abgrenzung gegenüber den
Naturwissenschaften spielten für ihn eine hervorragende Rolle. Der Gegenstand
der Philosophie war für ihn das Ganze der Welt im Sinne einer Idee, die zu
verwirklichen wäre. Die Philosophie als „allseitige Theorie des gesamten
Kulturlebens“ erarbeitete in objektiver Weise mit Rücksicht auf
sozialhistorische und anthropologische Entwicklungslinien ein „System der
Werte“.[11]Die Hinwendung zur Kultur und
Kulturwissenschaft war mit dem Begriff des Wertes verbunden, die die Grundlage
allen menschlichen Handelns und Erkennens darstellten. Es existieren für ihn transzendentale Werte, die ein Sollen
enthalten, ideale Gesetzte im Bereich des Wahren, des Sittlichen und Schönen.
Diese Werte sind überzeitlich und gelten unabhängig von aller Erfahrung. Sie
verwirklichen sich in den objektiven Gestaltungen des menschlichen Geistes:
Wissenschaft, Staat, Recht, Kunst, Religion.
Cassirer grenzte sich vom Neukantinismus ab, er
schrieb 1923 im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen: „Die Kritik der Vernunft wird damit zur
Kritik der Kultur. Sie sucht zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der
Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem
allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur
Voraussetzung hat.“[12]
Auf diese Weise beschrieb Cassirer etwas anderes als das, was im Anschluss an
Kant zu empfehlen wäre, dass „nicht
sowohl vom allgemeinen Weltbegriff, als vielmehr vom allgemeinen Kulturbegriff“
auszugehen sei.[13]
Mit
seiner Philosophie der symbolischen Formen legte Cassirer in den 1920er Jahren
den systematischen Entwurf einer Kulturphilosophie vor, die als eine
bedeutungstheoretische Lehre von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den
Menschen verstanden wird. Diese Kulturphilosophie war eine wissenschaftlich
ausgearbeitete allgemeine philosophische Anthropologie auf symboltheoretischer
Grundlage. Cassirer nannte die regelmäßig vorkommenden, typischen Weisen der
Symbolisierung, die sich zu einem eigenständigen Sachgebiet oder einer
eigenständigen Methode gleichsam institutionalisieren „symbolische Formen“.
Cassirer lehnte ein als einheitliches System analog
zum Idealismus ausgebildete Philosophie ab. Stattdessen entwickelte er den
Begriff der symbolischen Formen
als Deutungsschema des Menschen für dessen Erlebnisse. Philosophie bedeutete
für ihn ein Metadiskurs, der den Zusammenhang und die spezifischen Leistungen
einzelner, teils sich in ihren Geltungsansprüchen konträr verhaltender
symbolischer Formen am Konkreten zeigt. Die von ihm vertretene
Kulturphilosophie war nicht weniger als eine allgemeine philosophische
Anthropologie auf symboltheoretischer Grundlage. Kultur war für Cassirer der
Inbegriff und das System aller möglichen Weisen der Sinnerzeugung durch
Symbolisierung. In Anlehnung an Paul Natorp erweiterte er den Begriff der
Erkenntnis zum Leitbegriff des Erlebens.Die
Erkenntnisse Kants von Anschauung und Verstand wurden bei Natorp zu Materie und
Form der Erkenntnis. Seine Erkenntnistheorie baute
auf der transzendentalen Logik Kants und deren Begriff der „synthetischen Einheit“
auf. In der Entfaltung dieser Einheit, verstanden als Grundrelation des Einen
und Mannigfaltigen erblickte Natorp das Gesetz des
Erkenntnisprozesses. Dies nannte er korrelativistischer
Monismus. Für ihn waren Raum und ZeitDenkbestimmungen der Relation und Größe. Erkenntnisse seien niemals als
subjektiv aufzufassen, sondern in der gesetzlichen Bestimmung der Erscheinungen
zu objektivieren.Gegenstand von Cassierers Kulturphilosophie
war die Erkenntnis, dass es ein „Erleben“ außerhalb der gegliederten
Wissenschaften gibt, das sich in der Sprache ebenso ausdrückt, wie in Mythen,
der Religion, der Kunst, Geschichte, Moral oder Politik. Der Mensch sei das animal symbolicum, das
symbolerzeugende Wesen.Der Philosophie wird eine Einheit in der Vielheit stiftende Funktion
zugewiesen. Die philosophische Betrachtung verstand er als eine Einstellung oder
Haltung des Denkens, die das Ganze überblickt, ohne das Besondere aus den Augen
zu verlieren und beides durch philosophische Systematik verbindet.
Sein Symbolbegriff
umfasste „das Ganze jener Phänomene (...), in denen überhaupt eine wie immer
geartete ‚Sinnerfüllung‘ des Sinnlichen sich darstellt; - in denen ein
Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als
Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinns
darstellt."[14] Die
Symbole bedeuteten eine „Freiheit vom Sinnlichen“, denn „in jedem sprachlichen
‚Zeichen‘, in jedem mythischen oder künstlerischen ‚Bild‘ erscheint ein
geistiger Gehalt, der an und für sich über alles Sinnliche hinausweist."[15]
Die wissenschaftliche Hermeneutik war immer schon im Begriff des Symbolischen
enthalten: „Die symbolischen Zeichen (...) sind nicht erst, um dann über dieses
Sein hinaus, noch eine bestimmte Bedeutung zu erlangen, sondern bei ihnen
entspringt alles Sein erst aus der Bedeutung. Ihr Gehalt geht rein und
vollständig in der Funktion des Bedeutens auf.“[16]
Das Orientierungsvermögen des Menschen war für ihn an
Bedeutungen und Bedeutungszusammenhänge gebunden. Im Unterschied zu den Instinkten
beim Tier ist der Mensch dank seines Verstandes in der Lage, die Situation zu
verstehen, in welcher er sich befindet und auf welche er reagieren soll. Das Tier verfügt über
eine praktische, konstruktive Intelligenz, während allerdings der Mensch eine
andere, weitreichendere Form entwickelt hat: eine symbolische Phantasie und
symbolische Intelligenz.
In der Einleitung zum 1923 erschienenen ersten
Band der „Philosophie der symbolischen Formen“ formulierte Cassirer sein
Anliegen wie folgt: „Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion
des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die
Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, dass daraus
ersichtlich wird, wie sie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht
sowohl der Welt, als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu
einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich
vollzieht.“ [17]
Für Cassirer stellte Sprache eine symbolische
Form dar, in der sich symbolisches Verhalten und symbolisches Denken
manifestiert.[18] In
seiner sprachphilosophischen Erörterungen stützte sich Cassirer vor allem auf
die Thesen von Wilhelm von Humboldt. Von Humboldt stellte einen eindeutigen
Zusammenhang zwischen der Sprache und dem Bewusstsein des Menschen her. Erst
durch den Prozess des Spracherwerbs erlangt das Individuum eine eigene
Weltanschauung. Eine Vorstellung der objektiven Welt und diese Vorstellung floß
wiederum in die Sprache mit ein. Aus diesem Grund kann für von Humboldt eine
genaue Definition von Sprache erst dann erfolgen, wenn der Prozess des
Sprechens als solcher Beachtung findet. Humboldt sah die Sprache nicht als
etwas Beständiges oder Ewiges, sondern betrachtete ihre Entwicklung als einen
kontinuierlichen Prozess, der einem ständigen Wandel unterworfen sei. Eine
monistische Auslegung von Sprache lehnte er ab: „Wir müssen, um die Sprache zu
verstehen, nicht bei ihren Gebilden stehen bleiben, sondern dem
inneren Gesetz des Bildens nachspüren – wir dürfen sie nicht als ein
Fertiges und Erzeugtes, sondern wir müssen sie als eine Erzeugung, als eine
sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes betrachten.“ [19]
Cassirer erkannte in der Sprache kein einfaches
oder gleichförmiges, sondern vielmehr ein aus verschiedenen Elementen bestehendes
Phänomen. Er sprach von einer „emotionalen Sprache“.[20]
Sie sei von besonderer Bedeutung, da jegliche Formen der Kommunikation, und
zwar sowohl die menschliche Sprache im engeren Sinne als auch die der
tierischen Ausdrucksmöglichkeiten, zu einem gewissen Teil eine Sprache der
Emotionen beinhalten. Um die Bedeutung der symbolischen Vorstellung für den
Menschen und für seine Kultur zu verdeutlichen, grenzte Cassirer seine
Sprachphilosophie deutlich von der „Sprache“ der Tiere ab.
Cassirer berief sich außerdem auf die Theorie des
symbolischen Interaktionismus von G.H. Mead[21],
wonach sich die Bedeutung eines Objektes aus dem Verhältnis des Wahrnehmenden
und Handelnden zu diesem Objekt ergibt.[22]
Mead selbst ging auch vom Begriff des Symbols aus, im Gegensatz zu Cassirer
allerdings entstehen bei ihm aber die Bedeutungen bestimmter Symbole durch
Erziehung. Abhängig von den gesellschaftlichen Normen und Werten entstehen für
Mead durch die Wiederholung und positive bzw. negative Sanktionierung von
Interaktion sogenannte ,,soziale Institutionen“.[23]
Dies bedeutet letztendlich, dass die Bedeutung von Dingen also das Ergebnis von
Erfahrungen ist. Cassirer legte dagegen den Fokus seiner Betrachtung eher auf
die Freiheit des Menschen, seine Umwelt zu benennen, also mit Symbolen zu
versehen und dadurch so zu strukturieren, dass sie für ihn verständlich wird. Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen
legte Cassirer den systematischen Entwurf einer Kulturphilosophie vor, der sich
als eine bedeutungstheoretische Lehre
von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen versteht.
Cassirer bezog sich in
seiner Philosophie der symbolischen Formen auch auf den US-amerikanischen
Semiotiker und Philosophen Charles
William Morris. Auf
der Grundlage des amerikanischen Pragmatismus, des Logischen Positivismus, des Empirismus und
Behaviorismus
entwickelte Morris eine Zeichentheorie, die er als ein Instrument zur Unifizierung der
Wissenschaften verstand. In seinem Hauptwerk „Grundlage der
Zeichentheorie“ bemerkte Morris, dass die Grundlage für alle semiotischen
Überlegungen die Eigenschaft des Zeichens sei, „für etwas anderes zu stehen“.
Das Zeichen, das von ihm Bezeichnete und derjenige, der es benutzt (Sender oder
Empfänger) bilden das semiotische Dreieck, zwischen dessen Eckpunkten
vielfältige Beziehungen stehen. Für Cassirer sindMetainformationen über die Kultur ist als ein
System symbolischer Bedeutungen zu verstehen, die sich in semiotisch
vermittelten Darstellungsformen äußern. Die Zeichenprozesse wie bei Schimpansen
sind mit dem menschlichen symbolischen Sprachgebrauch nicht zu vergleichen. Die
Unterscheidung zwischen den Begriffen „Zeichen“ und „Symbol“ ist hier für
Cassirer besonders wichtig, um überhaupt einen definitorischen Zugang zu den
symbolischen Formen zu bekommen. Der Unterschied zwischen den tierischen
Zeichen- und Signalprozessen und der typisch menschlichen Symbolik liegt darin,
dass ein Zeichen immer einen physischen, konkreten Hintergrund hat. Im
Gegensatz dazu hat das menschliche Symbol diesen Zusammenhang nicht mehr, es
hat einen bloßen Funktionswert und kann damit eine reale oder auch irreale
Situation durch einen gedachten Bedeutungszusammenhang ersetzen.
In seinerSchrift „Essay on Man“ baute Cassirer seine kulturphilosophische Theorie
der symbolischen Formen zu einer anthropologischen Philosophie aus.
Unterscheidungenzwischen Natur- und
Geisteswissenschaften mit Erklären und Verstehen als Wissenschaftsprinzipien
lehnte Cassirer ab. Einheitliche philosophische Systeme wie zum Beispiel beim
Idealismus wurden von ihm ebenfalls verworfen. Die Philosophie Cassirers wurde
zunächst dem naturwissenschaftlich orientierten Neukantianismus der Marburger
Schule zugeordnet, was nachweislich nicht stimmt. Cassirer setzte sich durch
die Tatsache deutlich vom Neukantianismus ab, dass für ihn nicht nur Begriffe
zur Erkenntnis beitragen. Vielmehr sei jede Form des Weltbezugs auf die
Symbolisierung angewiesen. Für seine kulturphilosophische Theorie war die
Ausformulierung der symbolischen Prägnanz wichtig. Cassirer definierte: „Unter
symbolischer Prägnanz soll also die Art verstanden werden, in der ein
Wahrnehmungserlebnis, als ‚sinnliches‘ Erlebnis zugleich einen bestimmten
nicht-anschaulichen ‚Sinn‘ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten
Darstellung bringt.“[24]
Die symbolische Formgebung lief für ihn beim
Menschen zugleich mit der sinnlichen Wahrnehmung ab: „Unter einer symbolischen
‚Form‘ soll jene Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein
geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und
diesem innerlich zugeeignet wird.“[25]
Symbolische Formen seien somit Grundformen des Verstehens, die universell und
intersubjektiv gültig sind und mit denen der Mensch seine Wirklichkeit gestaltet.
Cassirer unterschied dabei zwischen Wahrnehmungs- und Bedeutungsprägnanz: Die
Wahrnehmungsprägnanz verleiht dem Wahrgenommenen einen Umriss und Deutlichkeit,
die die Bedeutungsprägnanz in einen Kontext einbindet. Da sich in der
Formgebung und Symbolisierung eine Objektivierung vollzieht, bringen diese Prozesse
den Menschen in eine verfügende Distanz zu seinen Emotionen, Wünschen oder
Anschauungen. So wird es dem Menschen ermöglicht, sich frei zu ihnen zu
verhalten. Cassirer definierte die „freie Persönlichkeit“ folgendermaßen: „Sie
(die freie Persönlichkeit, M.L:) ist nur dadurch Form, daß sie sich selbst ihre
Form gibt, und deshalb dürfen wir in ihr (…) nicht lediglich eine Schranke
sehen, sondern wir müssen sie als eine echte und ursprüngliche Kraft erkennen
und anerkennen. Das Allgemeine, das sich uns im Bereich der Kultur, in der
Sprache, in der Kunst, in der Religion, in der Philosophie enthüllt, ist daher
stets zugleich individuell und universell. Denn in dieser Sphäre läßt sich das
Universelle nicht anders als in der Tat der Individuen anschauen, weil es nur
in ihrer Aktualisierung, seine eigentliche Verwirklichung finden kann.“[26]
Der Mythos war für Cassirer Ursprungsphänomen
aller menschlichen Kultur. Für Cassirer war das mythische Denken und Wahrnehmen
die grundlegende symbolische Form, aus welcher alle anderen erst hervorgehen.
Die mythische Welt steht für eine synthetische Lebensauffassung, welche die
Grenze von Menschen, Tieren sowie der Natur überschreitet und das Leben als
einen allumfassenden Prozess auffasst. Die Mythos gilt über den Tod und das
Jenseits hinaus und bildet ein einigendes Band aller Menschen.
Anhand der Symbole kann der Mensch ein ideales,
rein im Denken bestehendes Weltbild entwerfen.[27]
Die mythische Wahrnehmung der Welt geschieht vor allem durch Affekte und
Emotionen. Für Cassirer gehörte diese emotionale Qualität wesentlich zur
Wirklichkeit dazu und war auch für Kulturen jenseits des mythischen
Bewusstseins von Bedeutung. In Cassirers letztem Werk „Der
Mythus des Staates“ setzte er sich mit den kulturhistorischen
Voraussetzungen und der Entstehung des Nationalsozialismus auseinander. Hier
stellte sich Cassirer die Frage, welche Rolle der Mythos innerhalb der
Philosophiegeschichte, speziell in der Geschichte der Staatstheorie, spielt und
ob er kontinuierlich dem rationalen Denken, dem Logos weichen musste. Ab dem
19. aber vor allem im 20. Jahrhundert sah Cassirer „einen radikalen Wechsel in den Formen politischen Denkens“.[28]
Das mythische Denken unterstand nicht länger der Vernunft, das rationale Denken
wurde immer mehr zurückgedrängt. Schließlich setzte sich der politische Mythos
in der Rassenideologie und im Genozid des Nationalsozialismus und dient im
Rahmen der Propaganda gleichsam als Stifter einer „germanischen Identität“.
Die Kulturphilosophie war eine neu etablierte kritische
Philosophie unter den Bedingungen von Wissenschaftsentwicklungen des 19. und
20. Jahrhunderts.[29]
Der jungen Disziplin der Kulturphilosophie wurden vielfach fehlende
Eindeutigkeit und ungenaue Grundlagen vorgeworfen, da eine systematische Bestimmung
des Menschen und seines Wirklichkeitsbegriffs noch nicht entwickelt war. In seinem 1939 erschienenen Aufsatz „Naturalistische und humanistische
Begründung der Kulturphilosophie“ schrieb Cassirer: „Von all den einzelnen Gebieten, die wir
innerhalb des systematischen Ganzen der Philosophie zu unterscheiden pflegen,
bildet die Kulturphilosophie vielleicht das fragwürdigste und das am meisten
umstrittene Gebiet. Selbst ihr Begriff ist nicht scharf umgrenzt und eindeutig
festgelegt. Hier fehlt es nicht nur an festen und anerkannten Lösungen der
Grundprobleme, es fehlt vielmehr an der Verständigung darüber, was sich
innerhalb dieses Kreises mit Sinn und mit Recht fragen lässt. Diese
Unsicherheit hängt damit zusammen, dass die Kulturphilosophie die jüngste und
den philosophischen Disziplinen ist und dass sie nicht gleich ihnen auf eine
gesicherte Tradition, auf eine jahrhunderte lange Entwicklung zurückblicken
kann."[30]
Johannes Seibel fasste
folgendermaßen die Philosophie Cassirers zusammen: „Ernst Cassirers
‚Philosophie der symbolischen Formen‘ ist in diesem Sinne als ein Versuch zu
lesen, eine gleichsam immanente Transzendenz als Kern menschlicher Existenz zu
entfalten und festzuhalten – das heißt, er wollte die Sinnhaftigkeit
menschlicher kultureller Tätigkeit und ihrer Sinngebilde als etwas retten, was
mehr ist, als das bloße Produkt von etwa mit Hilfe der Chemie, Physik oder
Biologie stofflich quantifizierbarer, exakt mathematisierbarer Vorgänge, ohne
dafür gleichzeitig metaphysische oder theologische Annahmen in Anspruch nehmen
zu müssen. So ist die Philosophie Ernst Cassirers ein gleichsam immerwährender,
umfangreicher, im Prinzip unabschließbarer Versuch, den Strukturen und
Bedingungen menschlicher Sinnproduktion und ihrer Gebilde auf die Spur zu
kommen, ohne dafür einen wissenschaftlichen Materialismus, eine Ontologie oder
religiösen Glauben als Letzterklärung zu benutzen. In anderen Worten
ausgedrückt: Er wollte mit seiner ‚Philosophie der symbolischen Formen‘
systematisches und historisches Denken versöhnen.“ [31]
4 Pluralität der Kultur
Nach Cassirer bildet die Kultur die ganze
Wirklichkeit des Menschen ab. Dabei geht er von einer Komplexität und
Pluralisierung aus, in der Kultur immer schon besteht und bestanden hat. Er
vertrat die These, dass die Sinntätigkeit der Symbolisierung nicht auf eine
einzige Gestaltungsweise zurückzuführen ist, sondern sich in einer Pluralität
von Gestaltungsweisen offenbart, die in einem gegliederten, systematischen
Zusammenhang existiert. Kultur ist demnach keine Einzigartigkeit, sondern prägt
sich aus in einer Vielfalt und
ein System von Gestaltungsbereichen. Der Mensch ist für Cassirer jemand, der
immer nach Sinn und Bedeutung der ihn umgebenden Dinge fragt. Letztlich
bestimmt der Mensch sich und seinen Sinn durch die aktive Bildung der
symbolischen Formen, die jeweils mit einem ihnen eigenen Sinn verbunden sind.
Sein politisches Verständnis war auf Differenz und
Vielfalt angelegt. Birgit Recki bilanzierte: „Es kann uns nicht überraschen,
daß ein Denker, der den Begriff der Freiheit derart seiner gesamten Theorie der
menschlichen Wirklichkeit zugrundelegt, auf Freiheit auch im engeren
politischen Verständnis Wert legt. Wir finden in Cassirer denn auch insofern
einen gänzlich untypischen Vertreter der Gelehrtenzunft im ausgehenden Kaiserreich
und der Weimarer Republik, als er sich nicht nur unter anderem auch mit den
Problemen der politischen Theorie auseinandergesetzt hat, sondern zugleich ein
wachsamer politischer Zeitgenosse von großer Geistesgegenwart und Urteilskraft
war - ein Aufklärer auch hier. Einen ausgeprägten weltbürgerlichen Sinn für die
politische Kultur zeigt bereits der Autor von Freiheit und Form, der sich 1916 - mitten im Ersten Weltkrieg -
als Europäer exponiert, indem er die tragenden Ideen der deutschen Philosophie
und Dichtung in geistesgeschichtliche Kontinuität dem italienischen und
französischen Denken seit der Renaissance stellt. Noch nachdrücklicher verfolgt
Cassirer den politischen Impetus zur lebendigen Vergegenwärtigung einer
europäischen Kultur in (…) Die Idee
der republikanischen Verfassung.“[32]
Kultur bedeutet für
Cassirer den Inbegriff und das System aller möglichen Weisen der Sinnerzeugung
durch Symbolisierung. Mit der inneren Einheit zugleich die Pluralität der
Kultur zu begreifen ist genau der Anspruch, den sich Cassirer in der
Philosophie der symbolischen Formen gestellt hat. Ihm geht es darum, dass sich
die Sinntätigkeit der Symbolisierung nicht auf eine einzige Gestaltungsweise
zurückführen lässt, sondern sich in einer Pluralität von Gestaltungsweisen auslegt.
Diese Pluralität bedeutet keine chaotische und beliebige Unendlichkeit, sondern
besteht in einem gegliederten, systematischen Zusammenhang. Kultur ist demnach
keine Monokultur, sondern prägt sich aus in einer Vielfalt von
Gestaltungsbereichen. Cassirers Kulturphilosophie als zukunftsoffenes
Philosophieren setzt sich gegen reduktionistische Varianten und biologistische,
mystische und spekulative Geschichtsphilosophien ab.
S. 124 Kultur versteht
Cassirer als die gesamte Bandbreite sinnhaften menschlichen Verhaltens: „Er
(der Mensch, M.L.) lebt nicht in einem bloß physikalischen, sondern in einem
symbolischen Universum. Sprache, Mythos, Kunst und Religion sind Bestandteile
dieses Universums. (…) So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen,
künstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß
er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium
zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe.“[33]
Kultur gilt als Rahmenbegriff aller Welt- und Selbstverständnisse des Menschen
und dasjenige Phänomen, das die Welt des Menschen konstituiert. In diesem Sinne
ist Kulturalität ein anthropologisches Grundphänomen, das als solches
kulturellen Sinn und semantische Bezugnahme für den Menschen auf und durch
symbolische Artefakte erst konstituiert. Für Cassirer ist der Mensch ein
symbolbildendes Wesen, das nur innerhalb von Symbolwelten seine Welt hat.[34]
Durch diesen Ansatz gewinnt der Mensch Zugang zu den symbolischen Äußerungen
anderer wie seinem eigenen Repräsentationen. Cassirer bringt in diesem
Zusammenhang den Begriff der symbolischen Formen ins Spiel, in denen jeweils
eine spezifische Prägung der Kategorien der Welterschließung derart auf die
Inhalte wirkt, dass je eine eigene Welt konstituiert wird.
Er sieht Kultur als
Produkte der menschlichen symbolbildenden Tätigkeit, d.h. Literatur, bildende
Kunst, Musik und weitere Kunstformen. In den Strukturen und Werken dieser
Sphäre der Kultur kommt das Selbstverständnis von Menschen oft sehr deutlich
zum Ausdruck. Diese sind nicht losgelöst von dem Sinn zu betrachten, den
Menschen mit und in ihnen zu finden: „So kann in der systematischen Analyse und
der historischen Einordnung deutlich werden, wie sich Menschen (…) in ihrem
Bezug zu sich, zur Welt und zum anderen verstanden haben oder heute verstehen
und wie sie mit und in den künstlerischen Werken ihre Umwelt gestalten und den
Raum ihrer Repräsentationen spielerisch und experimentell erweitern.“[35]
Für den Bereich der
Begegnung zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen verwendet Cassirer
folgenden Kulturbegriff: „ Kultur in diesem Sinne meint ein mehr oder weniger
zusammenhängendes Ensemble von bedeutungs- und werthaften Formen und
Realitäten, die von einer Gemeinschaft mehr oder weniger bewusst als
bedeutungstragendes Korrelat ihrer Lebenswelt und Überlieferung angesehen und
tatsächlich gelebt wird. (…) Die einzelnen Kulturen sind dabei in Cassirers
Verständnis Manifestationen der ursprünglichen Kulturalität, sind Variationen
im Raum der Möglichkeiten menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses.“[36]
Aufgrund dieser
universellen anthropologischen Grundbestimmung ist es möglich, die
verschiedenen Kulturen daraufhin zu vergleichen, wie die
Symbolisierungsleistungen in ihnen konkretisiert haben. Cassirer selbst
konzentriert sich bei seiner Analyse hauptsächlich aufMythen und wissenschaftliche Befunde und
Zeugnisse aus aller Welt und allen Zeiten.
Er vertritt die These
von der strukturellen Vergleichbarkeit aller menschlichen Weltaneignungen in
interkultureller Perspektive. Kulturelle Bedeutungszuweisungen stellen demnach
die Dimension der menschlichen Orientierung in der Welt dar. Mit der
strukturellen Vergleichbarkeit auf der angesprochenen Ebene können starke
Inkommensurabilitätsthesen, also Behauptungen über die prinzipielle Unvergleichbarkeit
der Kulturen, entkräftet werden.
Zudem lässt sich mit der
These von der grundlegenden Kulturalität auf eine faktisch immer schon
vorliegende Multi- und Interkulturalität aller existiernden Kulturen hinweisen.
Jede halbwegs entwickelte Kultur weist eine interne Differenzierung, zumindest
eine Dimensionierung auf.
Es existiert keine
Geschlossenheit der eigenen Kultur, weil Identität schon immer als
individueller Rekombinationsprozess abläuft, der durchaus Brüche oder
Umdeutungen auch der eigenen Lebensgeschichte beinhalten kann. Kulturen stellen
keine homogenen Gebilde dar, sondern sind immer schon plural und durchaus teils
widersprüchlich dimensioniert. Als Beispiel, wie sich kultureller Kontakt
zwischen bisher unbekannten symbolischen Strukturen abläuft, analysiert
Cassirer die Entstehung der babylonischen Algebra unter Einbezug des
historischen Kontextes: „Diese Zivilisation entwickelte sich unter besonderen
Bedingungen. Sie war das Produkt der Begegnung und des Zusammenpralls zweier
unterschiedlicher Rassen – der Sumerer und der Akkadier. Diese beiden Rassen
sind von unterschiedlicher Herkunft und sprechen Sprachen, die keinerlei
Verbindung zueinander aufweisen. Die Sprache der Akkadier gehört dem
semitischen Typus an, die der Sumerer zu einer anderen, weder semitischen noch
indoeuropäischen Gruppe. Als nun diese beiden Völker aufeinandertrafen, als sie
begannen, an einem gemeinsamen politischen, sozialen und kulturellen
Zusammenhang teilzuhaben, mußten sie neue Probleme lösen, Probleme, zu deren
Lösung sie neue geistige Kräfte entwickeln mußten.“[37]
Cassirer führt dann
weiter aus, wie die Notwendigkeit der Verständigung zwischen den Angehörigen
der verschiedenen Stämme schließlich zu einer abstrakten mathematischen
Symbolschrift führte, die eine weit entwickelte Astronomie ermöglichte.[38]
Somit ist kultureller Austausch dann erfolgreich, wenn er soziale und
alltagspraktische Probleme, die aus der Begegnung entstehen, aufzulösen hilft
und im Idealfall zu einer Weiterentwicklung der symbolischen Möglichkeiten und
des eigenen Handlungsspielraumes führt. Kulturkontakt und gelingende Aneignung
bislang unbekannter Strukturen ermöglicht so die Entwicklung neuer Perspektiven
und kann zur Ausweitung der medialen Möglichkeiten symbolischer Repräsentation
führen. Das Gelingen und Misslingen des Kulturkontakts hängt davon ab, ob es
den beteiligten Individuen gelungen ist, neue disparate Bestimmungsstücke in
das eigene Selbst- und Weltverständnis zu integrieren und dann pragmatisch
Kommunikation zu etablieren und Diversität zuzulassen.
Die Voraussetzung eines
interkulturelles Denkens im Sinne einer offenen Kommunikation ist dann gegeben,
wenn die Kommunizierenden den Schritt hin zum Bewusstsein der Kulturalität der
eigenen Kultur getan haben und nicht auf ihren eigenen Absolutheitsanspruch
beharren und bereit sind, Neues in sich aufzunehmen.Bei der Bewertung der eigenen wie der anderen
Kultur geht es nicht darum, die eigenen Maßstäbe auf fremde Konstellationen zu
übertragen; für Cassirer sind alle symbolischen gleichwertig. Die Grenze des
Eigenen zu begreifen und für Neues empfänglich zu sein, wird dadurch erst
möglich.
Cassirer formuliert eine
analoge Position am Ende des Werkes „Versuch über den Menschen“: „Im ganzen
genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der fortschreitenden
Selbstbefreiung des Menschen beschrieben. (…) In ihnen allen (den symbolischen
Formen, M.L.) entdeckt und erweist sich der Mensch eine neue Kraft – die Kraft,
sich eine eigene, eine ,ideale Welt‘ zu errichten. Die Philosophie kann die
Siche nach einer grundlegenden Einheit dieser idealen Welt nicht aufgeben. Sie
verwechselt diese Einheit freilich nicht mit Einfachheit. Sie übersieht nicht
die Spannungen und Reibungen, die starken Kontraste und tiefen Konflikte
zwischen den verschiedenen Kräften des Menschen. Sie lassen sich nicht auf
einen gemeinsamen Nenner bringen. Sie streben in verschiedene Richtungen und
gehorchen unterschiedlichen Prinzipien. Aber diese Vielfalt und Disparatheit
bedeuten nicht Zwietracht oder Disharmonie. Alle diese Funktionen
vervollständigen und ergänzen einander. Jede von ihnen eröffnet einen neuen
Horizont und zeigt uns einen neuen Aspekt der Humanität. Das Dissonante steht
im Einklang mit sich selbst; die Gegensätze schließen einander nicht aus,
sondern verweisen aufeinander: ,gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens
und der Leier‘“[39]
Kultur ist nicht nur in
diesem ursprünglichen Sinne Selbstbefreiung, sondern darüber hinaus auch die
Fortentwicklung und Ausdifferenzierung in den weiteren Phasen der Entwicklung
symbolischer Kompetenz.[40]
Die interkulturelle Kommunikation vervielfältigt sie die Pluralität
menschlicher Kulturalität und die Möglichkeit immer neuer Identitätsbildungen.
So werden bislang unbekannte kulturellen Konstrukte zu einer Erweiterung des
Reservoirs eigener Identitätsbildung.
Das
Wesen des Menschenhat erst recht nichts
Statisches und ist rein funktionell bestimmt. Es ist nichts anderes als das,
was in den menschlichen Leistungen zum Ausdruck und zur Geltung kommt und somit
auch etwas, das andauernd in Aktivität und damit im Wandel begriffen ist. Der
Ansatz unterscheidet sich ausdrücklich von jedem spezifisch kunsthistorischen
oder literaturwissenschaftlichen Verständnis der Symbole und gerade durch seine
Allgemeinheit für jedes spezifische Verständnis anschlussfähig. Er macht die
Pluralität der Kulturen begreiflich und stellt sich dabei die Frage der Einheit
in der Vielheit.[41]
Cassirer betont eine kulturelle Pluralität, da
die Welt des Menschen intern vielfältig dimensioniert und ausdifferenziert ist
und geht von der Prämisse aus, dass im Vergleich der Kulturen keine
Werthierarchie angelegt wird. Eurozentrische oder andere auf kultureller Ebene
eindimensionale Vorstellungen mit Anspruch auf die eigene Überlegenheit werden
von Cassirer zurückgewiesen. Auch romantisierende Zuschreibungen oder
exotistische Vorurteile finden dort keinen Platz. Für ihn machen kulturelle
Vorstellungen immer schon Revisionen und Transformationen in der Weltgeschichte
durch, daher lehnt er einen einheitlicher, unflexiblen und statischen
Kulturbegriff sowie die Konservierung des jeweiligen gegenwärtigen kulturellen
Zustandes ab. In gewisser Hinsicht vertritt Cassirer eine Art von Fallibismus,
d.h. die Idee, dass das menschliche Wissen unvollkommen und provisorisch ist
und aufgrund neuer Erkenntnisse revidiert werden muss.
5 Rezeption
Nach dem 2. Weltkrieg wurde Cassirer in Westdeutschland zum großen
Teil als Philosophiehistoriker wahrgenommen, aber seine systematische
Philosophie der symbolischen Formen fand bis in die 1980er Jahre nicht
übermäßige Aufmerksamkeit.[42]
Aufgrund seiner Lehrtätigkeit in New York blieb aber Cassirers Philosophie in
den USA präsent. Die symboltheoretische Ästhetik von Susanne Langer knüpfte an
Cassirers Theorie des Symbols an und entwickelte sie weiter. Die Unterscheidung
zwischen „diskursiver“ und „präsentativer Symbolisierung“ wurde Grundlage ihrer
ästhetischen Theorie. Die „präsentative Symbolisierung“ ermöglicht die
Artikulation "visueller Formen", von "Ideen", die sich der
sprachlichen Projektion widersetzen.[43]
Somit wurde es ermöglicht, dass auch Kunstwerke als Symbole verstanden werden
können. Zahlreiche Monographien Cassirers zur Mythenforschung,
Literaturwissenschaft, Wissenschaftstheorie und Sprachtheorie gehören
international zum festen Bestand dieser Disziplinen. Cassirers Hauptwerke
wurden nach seinem Tod in viele Sprachen übersetzt. In Italien fanden auch
Entwicklungen statt, die dem symboltheoretischer Ansatz Cassirers nahestehen,
vor allem die symboltheoretischen Kulturphilosophie Umberto Ecos.
Sein
Schüler Kurt Tsadek Lewin ist einer
der Begründer der modernen experimentellen Sozialpsychologie. Er gehörte
zusammen mit Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka zur Berliner
Schule der Gestaltpsychologie. Eine „Internationale Ernst Cassirer Gesellschaft“ mit Sitz
in Hamburg ist 1993 gegründet worden, die sich der Erforschung seines
Denkgebäudes und die internationale wissenschaftliche Vernetzung zum Ziel
gesetzt hat. Im Februar 2012 konstituierte sich im Rahmen des
„Innovationszentrum Wissensforschung (IZW) – Berlin Center for Knowledge
Research“ der Technischen Universität Berlin die „Ernst Cassirer
Arbeitsgruppe“. Ihr gehören Wissenschaftler aus Berlin an, für die der
philosophische und kulturtheoretische Ansatz Ernst Cassirers ihm Rahmen ihrer
jeweiligen Forschungsinteressen relevant ist.
Der
Ethnologe und Anthropologe Clifford Geertz griff in seinen Forschungen auf die
Philosophie der symbolischen Formen und Cassirers Verständnis von kultureller
Pluralität zurück. In seinen Forschungsarbeiten
studierte er die Kulturen von Südostasien und in Afrika, untersucht eine
Vielzahl von sozialen Strukturen einschließlich der wirtschaftlichen
Entwicklung, politische Strukturen, Familienleben und Religion.Geertz wollte gestützt auf
seinen Verstehensbegriff der interpretativen Anthropologie andere Kulturen
„from the native’s point of view“ untersuchen und an andere Lebensformen keine
kontextfremden Kategorien herantragen.[44]
Geertz geht es um eine Rekonstruktion kultureller Kontexte, um im Rekurs auf
zugrunde liegende Prämissen des Denkens und Handelns den in Wort und Tat
geführten sozialen Diskurs zu verstehen.Das Ziel von Geertz‘ interpretativer Anthropologie bestand darin, den
Standpunkt der zu untersuchenden Menschen, ihren Bezug zum Leben zu verstehen,
und sich idealtypischerweise ihre Sicht seiner Welt vor Augen zu führen.[45]
Geertz kommt es demnach in der Auseinandersetzung mit anderen Lebensformen und
Weltbildern ganz entscheidend darauf an, die eigenen Vorstellungen
zurückzunehmen, um die Erfahrungen anderer Kulturen im Kontext ihrer eigenen
Ideen zu betrachten. Im Eigenen sollte nicht länger das einzig Mögliche, das
schlechthin Wahre und Notwendige gesehen werden. Er wollte andere Möglichkeiten
der Welterschließung in einem gleichberechtigtem Sinne erfahrbar machen, um zu
einer Erweiterung des menschlichen Diskursuniversums beizutragen.[46]
Er sah den Menschen als ein Wesen, das mit Kultur verwoben ist, was er ein
„selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“ nannte.[47]
Geertz ging davon aus,dass dessen Untersuchung
keine experimentelle Wissenschaft sei, die nach Gesetzen suchte, sondern eben
nach Bedeutung. Kultur war für ihn der „öffentliche Code“, der
phänomenologischen Äußerung der Menschen in einen Sinnzusammenhang brachte, den
man den kulturellen Kontext nennen könnte.[48]
Geertz versucht in seinem kulturellen Religionsbegriff anthropologische und
soziologische Strömungen zu integrieren. Er bezeichnete Religion als ein
Symbolsystem, dessen Ziel es ist, umfassende und dauerhafte Stimmungen und
Motivationen im Menschen zu erzeugen, indem Vorstellungen einer allgemeinen
Seinsordnung formuliert werden. Diese werden mit einer Ausstrahlung von
Faktizität umgeben, dass die Stimmungen und Motivationen vollkommen der
Realität zu entsprechen scheinen.[49]
6 Fazit
Ernst Cassirer
entwickelte sich vom Erkenntnistheoretiker zu einem universalen
Kulturphilosophen, der Sprache, Anthropologie, Mythos und Technik in seine
Forschungen einbaute. In seinem Spätwerk ,,An Essay on Man", fasste er seine Grundgedanken zusammen
und erweiterte seine umfassende Symboltheorie der menschlichen Kultur um eine
anthropologische Basis.
Seine Kulturphilosophie
war eine wissenschaftlich ausgearbeitete allgemeine philosophische
Anthropologie auf symboltheoretischer Grundlage. Cassirer nannte die regelmäßig
vorkommenden, typischen Weisen der Symbolisierung, die sich zu einem
eigenständigen Sachgebiet oder einer eigenständigen Methode gleichsam
institutionalisieren „symbolische Formen“. Der Begriff Kultur war für Cassirer
der Inbegriff und das System aller möglichen Weisen der Sinnerzeugung durch
Symbolisierung. Der Mensch sei ein animal
symbolicum, das symbolerzeugende Wesen. Dabei wird der Philosophie eine
Einheit in der Vielheit stiftende Funktion zugewiesen. Mit seiner Philosophie der symbolischen Formen
legte Cassirer den systematischen Entwurf einer Kulturphilosophie vor, der sich
als eine bedeutungstheoretische Lehre
von der Gestaltung der Wirklichkeit durch den Menschen versteht. Symbolische
Formen seien Grundformen des Verstehens, die universell und intersubjektiv
gültig sind und mit denen der Mensch seine Wirklichkeit gestaltet. Anhand der
Symbole kann der Mensch ein ideales, rein im Denken bestehendes Weltbild
entwerfen Für Cassirer war das mythische Denken und Wahrnehmen die grundlegende
symbolische Form, aus welcher alle anderen erst hervorgehen.
Freiheit konnte es nach
Cassirers Ansicht gerade nur in der Vermittlung geben; nur die Vermittlung
durch alle möglichen Formen der vergegenständlichen Aneignung (Bilder, Gestalten,
Begriffe) gewähre den Menschen die Distanz von den Zusammenhängen, in denen wir
sind. Ohne diese wären ein Spielraum der Reflexion und damit ein
Handlungsspielraum nicht möglich. In diesem Sinne war Kultur der Prozess der
fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen. Sein Kulturbegriff impliziert
auchdass die Naturwissenschaften zur
Kultur gehören.
Cassirer stellt die
These auf, dass die Kultur die ganze Wirklichkeit des Menschen abbildet. Dabei
geht er von einer Komplexität und Pluralisierung aus, in der Kultur immer schon
besteht und bestanden hat. Kultur prägt sich für ihn aus in einer Vielfalt und ein System von
Gestaltungsbereichen. Er stellt heraus, dass sich die Sinntätigkeit der
Symbolisierung nicht auf eine einzige Gestaltungsweise zurückführen lässt,
sondern sich in einer Pluralität von Gestaltungsweisen auslegt. Diese
Pluralität bedeutet keine chaotische und beliebige Unendlichkeit, sondern
besteht in einem gegliederten, systematischen Zusammenhang. Kultur ist demnach
keine Monokultur, sondern prägt sich aus in einer Vielfalt von
Gestaltungsbereichen. Cassirer sieht Kultur als Produkte der menschlichen
symbolbildenden Tätigkeit, d.h. Literatur, bildende Kunst, Musik und weitere
Kunstformen. In den Strukturen und Werken dieser Sphäre der Kultur kommt das
Selbstverständnis von Menschen oft sehr deutlich zum Ausdruck. Cassirer vertritt
die These von der strukturellen Vergleichbarkeit aller menschlichen
Weltaneignungen in interkultureller Perspektive, wobei jede Kultur eine interne
Differenzierung, zumindest eine Dimensionierung aufweist. Kulturen stellen
keine homogenen Gebilde dar, sondern sind immer schon plural und durchaus teils
widersprüchlich dimensioniert. Kulturkontakt und gelingende Aneignung bislang
unbekannter Strukturen ermöglicht so die Entwicklung neuer Perspektiven und
kann zur Ausweitung der medialen Möglichkeiten symbolischer Repräsentation
führen. Für Cassirer geht es bei der Bewertung der eigenen wie der anderen
Kultur nicht darum, die eigenen Maßstäbe auf fremde Konstellationen zu
übertragen. Kultur ist derProzess der
fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen. Die interkulturelle
Kommunikation vervielfältigt sie die Pluralität menschlicher Kulturalität und
die Möglichkeit immer neuer Identitätsbildungen. So werden bislang unbekannte
kulturellen Konstrukte zu einer Erweiterung des Reservoirs eigener
Identitätsbildung. Für ihn gibt es keine „höherwertige“ oder „minderwertige“
Kultur, er betont die Gleichrangigkeit aller.
Cassirers
Hauptwerke wurden nach seinem Tod in viele Sprachen übersetzt. In Italien und
den USA fand seine Theorie der symbolischen Formen regen Anklang, während er in
der Bundesrepublik bis in die 1980er Jahre lediglich als Philosophiehistoriker
wahrgenommen wurde. 1993 gründete sich die „Internationale Ernst Cassirer
Gesellschaft“ mit Sitz in Hamburg, die sich der Erforschung seiner Theorie und
die internationale wissenschaftliche Vernetzung zum Ziel gesetzt hat. Der renommierte Ethnologe Clifford Geertz griff in seinen Forschungen auf die
Philosophie der symbolischen Formen und Cassirers Verständnis von kultureller
Pluralität zurück. Das Ziel von Geertz‘ interpretativer Anthropologie bestand
darin, den Standpunkt der zu untersuchenden Menschen, ihren Bezug zum Leben zu
verstehen, und sich idealtypischerweise ihre Sicht seiner Welt vor Augen zu
führen. Er wollte verhindern, an andere Lebensformen kontextfremde Kategorien
heranzutragen. Geertz bezeichnete Religion als ein Symbolsystem, dessen Ziel es
ist, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen im Menschen zu erzeugen,
indem Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert werden.
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[1]
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[2]
Paul, G.: Einführung in die
interkulturelle Philosophie, Darmstadt 2008, S. 12
[3] Mall, R.A.: Tradition und Rationalität.
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philosophische Perspektiven, Amsterdam/New York 2006, S. 19-48, S. 26
[4]
Ebd.,
S. 30
[5] Jaspers, K.: Philosophische
Autobiographie, München 1977, S. 122
[6] Zitiert aus
http://cafephilosophique.org/category/islam/
[7]Zitiert aus Ebd.
[8]
Ebd.
[9] Zitiert aus Ebd.
[10] Störig, H.J.: Kleine Weltgeschichte der
Philosophie, Frankfurt/Main 1993, S: 549ff
[11] Köhnke, K.C.:: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche
Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus , Frankfurt
am Main 1986, S. 25
[12]Cassirer, E.:
Philosophie der symbolischen Formen Teil 1, Darmstadt 2001, S. 9
[13] Ebd.
[14] Cassirer, E.: Versuch über den Menschen -
Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996 S. 47ff.
[15]Cassirer, Philosophie der
symbolischen Formen, Bd. 3, 1990, S. 109
[16] Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 1,
S. 42
[17] Ebd., S. 15
[18]
http://www1.uni-hamburg.de/cassirer/intro/krois.html
[19]
Cassirer, E.: Die Sprache und der Aufbau der
Gegenstandswelt. In: Symbol, Technik, Sprache (Aufsätze 1927-1933), Hamburg
1985. S. 121-151, hier S. 125
[20]
http://www1.uni-hamburg.de/cassirer/intro/krois.html
[21]
George Herbert
Mead (1863-1931) war bis zu seinem Tode Professor für Philosophie und
Sozialpsychologie an der Universität Chicago. Beeinflusst durch die
Evolutionstheorie Darwins verstand Mead das Bewusstsein des Menschen als
evolutionäres Projekt der Auseinandersetzung des Organismus mit seiner Umwelt.
Neben Dewey, Pierce und James gilt er als Begründer des amerikanischen
Pragmatismus. Meads Überlegungen zur phylogenetischen Bildung des Bewusstseins
und ontogenetischen Entwicklung der Identität unter Verwendung einer
gemeinsamen Sprache bildeten den Grundstock für die Schule des symbolischen
Interaktionismus.
[22]Mead, G.H.: Philanthrophy from the
Point of view of Ethics, in: Faris, F./Lause, F./Todd, A.J.: Intelligent
Philanthrophy, Chicago 1930, S. 130-152
[23] Wagner, H.-J.: Strukturen des Subjekts.
Eine Studie im Anschluss an George Herbert Mead, Opladen 1993, S. 61
[24][24]Cassirer, E.: Philosophie der symbolischen Formen,
Band III, Darmstadt 1982, S. 235
[25]Cassirer, E.:
Substanzbegriff und Funktionsbegriff.
1910, Hamburg 2000, S. 161
[26]Zitiert nach
Schwemmer, O.: Ernst Cassirer. Ein
Philosoph der europäischen Moderne. Berlin 1997, S. 145
[27] Ebd., S. 129
[28] Cassirer, E. Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen
politischen Verhaltens,
Hamburg 2002, S. 7
[29]
http://www1.uni-hamburg.de/cassirer/intro/krois.html
[30]
Zitiert in: Orth, E. W.: Von der Erkenntnistheorie zur
Kulturphilosophie, Studien zur Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen
Formen, Würzburg 1996, S. 192
[31]
http://www.zenit.org/de/articles/ernst-cassirer-philosophie-der-symbolischen-formen
[32]
www.warburg-haus.de/eca/bericht.html
[33] Cassirer, E.: Versuch über den Menschen.
Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 50
[34]
Ebd., S. 51
[35] Hütig,
A.: Kultur als Selbstbefreiung des Menschen. Kulturalität und kulturelle
Pluralität bei Ernst Cassirer, in: Ders./Gerlach, H.-M./Immel, E. (Hrsg.):
Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische Zugänge zur
Interkulturalität Frankfurt 2004, S. 121-138, hier S. 126
[36] Ebd., S.
127ff
[37]
Cassirer, E.: Versuch über den
Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 80
[38] Hütig, A.: Kultur als Selbstbefreiung des
Menschen. Kulturalität und kulturelle Pluralität bei Ernst Cassirer, in:
Ders./Gerlach, H.-M./Immel, E. (Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt.
Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität Frankfurt 2004, S. 121-138,
hier S. 133
[39]
Ebd. S. 345f
[40] Hütig, A.: Kultur als Selbstbefreiung des
Menschen. Kulturalität und kulturelle Pluralität bei Ernst Cassirer, in:
Ders./Gerlach, H.-M./Immel, E. (Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt. Kulturphilosophische
Zugänge zur Interkulturalität Frankfurt 2004, S. 121-138, hier S. 134
[41] Ebd., S. 136
[42]
http://www1.uni-hamburg.de/cassirer/intro/krois.html
[43]
Ebd.
[44] Vgl. dazuGottowik, V.: Konstruktionen des anderen.
Clifford Geertz und die Krise der ethnografischen Repräsentation, Berlin 1997
[45]
Geertz, C.: „Kulturbegriff und
Menschenbild“, in; Burkard, F.-P. (Hrsg.); Kulturphilosophie, Freiburg 2000, S.
205-231, hier S. 217ff
[46]
Burkard, F.-J.:
Die Hermeneutik der Kultur. Philosophisch-anthropologische Grundfragen, in:
Gerlach, H.-M./Hütig, A./Immel, O. (Hrsg.): Symbol, Existenz, Lebenswelt.
Kulturphilosophische Zugänge zur Interkulturalität, Frankfurt/Main 2004, S.
139-154, hier S. 154
[47] Gottowik, V.: Konstruktionen des anderen.
Clifford Geertz und die Krise der ethnografischen Repräsentation, Berlin 1997,
S. 132
[48] Geertz, C.: „Kulturbegriff und
Menschenbild“, in; Burkard, F.-P. (Hrsg.); Kulturphilosophie, Freiburg 2000, S.
205-231, hier S. 214
[49] Gottowik, V.: Clifford Geertz in der Kritik. Ein Versuch, seinen Hahnenkampf-Essay
'aus der Perspektive der Einheimischen' zu verstehen. Anthropos 99(1),
2004, S. 207–214, hier S. 211
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