Erschienen in Ausgabe: No 123 (05/2016) | Letzte Änderung: 05.05.16 |
Der Philosoph Leibniz zeigte die Möglichkeit der Koexistenz von Vernunft und Glauben. Seine Überlegungen boten eine Alternative für Europa, der die übrige Welt zur damaligen Zeit wohl gefolgt wäre. Diese historische Möglichkeit wurde mit der Aufklärung verspielt. Das hat Auswirkungen bis in die heutige Politik hinein – weltweit.
von Adorján F. Kovács
Es ist heute ein Gemeinplatz, „die Aufklärung“ als eine der wichtigsten
Grundlagen der europäischen Zivilisation zu sehen; jedenfalls wird sie derzeit
wieder ständig angeführt, wenn es darum geht, gegen was auch immer „die
Errungenschaften der Aufklärung zu verteidigen“. Zweifellos hat die
Emanzipation von hemmenden Bindungen aller Art und der Primat der Vernunft zu
grandiosen Ergebnissen geführt. Dabei sollte der Anteil des bereits am Beginn
der bürgerlichen Epoche aufkommenden kapitalistischen Wirtschaftens an dieser
Entwicklung, der kaum überschätzt werden kann, nicht unterschlagen werden.
Allerdings wird die Aufklärung, historisch bedingt, zu undifferenziert in einen
unversöhnlichen Gegensatz zu „den Religionen“, speziell dem kirchlich
verfassten Christentum, gesetzt, die ihm vernunftwidrig erschienen seien.
Auch werden gerne ihre negativen Begleiterscheinungen ausgeblendet, wie sie
zum Beispiel schon vom Zeitgenossen der Epoche der Aufklärung, Marquis de Sade,
angedeutet wurden. Wer ja sagt zur Französischen Revolution und der Erklärung
der Menschen- und Bürgerrechte, darf nicht leugnen, dass sie mit dem Raub von
Eigentum durch massenhafte Enteignung, staatlichem Terror und Bürgerkrieg sowie
aggressivem Nationalismus einherging, der sich über anderthalb Jahrhunderte
hinweg, von Napoleon Bonaparte ausgehend, in Stufen immer weiter steigerte –
einer der größten Bonaparte-Bewunderer war Adolf Hitler.
Gegensatz zwischen Christentum und
Modernität?
Eine historisch-ausgewogene Sichtweise sieht im Mittelalter nicht etwa, wie
die Aufklärer, ein „dunkles Zeitalter“, sondern eines, in dem das Heilige und
das Profane noch eine gute Beziehung eingehen konnten. Seit der Reformation
wäre, so gesehen, ein Verfall dieser geistigen und geistlichen Kohärenz zu
beobachten. Mit dem Verdrängen des Heiligen hat der Mensch, so betrachtet,
seinen metaphysischen Halt verloren und sich zunehmend dem Zähl- und Messbaren,
also der Technik im weiten Sinne ausgeliefert. Das bedeutet dann keineswegs
einen uneingeschränkten Fortschritt, sondern im Gegenteil einen Abstieg in ein
– eventuell immerhin sozial behütetes – „Fellachentum“. Heute wird auch von
Historikern, die diese überwiegend positive Einschätzung nicht teilen,
zugegeben, dass das Mittelalter keineswegs ein statisches Zeitalter gewesen
ist, sondern eine Dynamik hatte, die möglicherweise weniger zerstörerisch war
als die von der Aufklärung angestoßene. Jedenfalls ist es unzulässig, in
teleologischer Weise zum Beispiel die Renaissance aufgrund der faktischen
Entwicklung mehr der Moderne als dem Mittelalter zuzuordnen: Zwar ist sie
historisch der Vorläufer der Aufklärung, kann aber auch als Stufe in der
mittelalterlichen Geschichte gesehen werden; auf jeden Fall hätte aber die
Entwicklung auch anders verlaufen können. Geschichtsdeutung ist immer
rückwärtsgewandte Prophetie.
Aufklärer wie Rousseau, Voltaire, d’Alembert, Hume und Gibbon wandten sich
tatsächlich gegen religiöse Vorstellungen an sich, ja, man kann sie als Feinde
des Christentums bezeichnen. Dass sie persönlich ihr Mut in Zeiten ehrt, die
noch unter dem Eindruck der Gewaltexzesse der Religionskriege standen und in
denen freies Denken ein Risiko bedeutete, das allerdings geringer war als
später in den aufgeklärten säkularen und atheistischen Staaten das Bekenntnis
zum Glauben, macht ihre Argumente nicht unbedingt besser. Eine bestimmte Form
der Aufklärung setzte sich durch, die Rede von Gott entfernte sich immer mehr
vom dogmatischen Gottesbild der christlichen Kirchen und wurde spöttisch,
überhaupt ablehnend oder bestenfalls metaphorisch. Zwar war die Philosophie bei
Hegel und Kierkegaard und auch späteren Denkern immer noch (auch) Theologie,
doch der „Gott der Philosophen“ war definitiv ein anderer als der, an den die
Gläubigen glaubten. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse trugen dazu bei;
besonders Darwins Evolutionstheorie erschütterte neben den physikalischen
Erkenntnissen zur Kosmogenese den Glauben an den Schöpfergott. Es wurde zuletzt
ein scheinbar unversöhnlicher Gegensatz zwischen dem Christentum und modernem
Denken konstruiert.
Die Vereinbarkeit von Glauben und Vernunft
Gottfried Wilhelm Leibniz war vielleicht der letzte Philosoph, der Gott
nicht als Metapher gedacht hat, sondern als evangelischer Christ seine strikt
vernünftigen Erkenntnisbestrebungen in der Erkenntnis Gottes münden ließ.
Leibniz hielt die christliche Religion nicht nur für mit der Vernunft
vereinbar, sondern geradezu für vernünftig. Gott tut nichts ohne logischen
Grund, er ist die absolute Vernunft selbst, der höchste Geist (monas monadum).
Dass es sich für ihn nicht um einen philosophischen Gott gehandelt hat, zeigen
unter anderem seine konkreten Bemühungen um eine Überwindung der Kirchenspaltung
und seine Briefe an Jesuiten der Chinamission, in denen er auf rituelle Fragen
eingeht. Auch bei Leibniz ist (wie bei den Aufklärern) die Philosophie keine
Magd der Theologie mehr, aber es ging ihm nicht um einen Aufstand der Vernunft
gegen den Glauben, sondern um die Ermöglichung des Glaubens durch den Nachweis
einer Vereinbarkeit mit der Vernunft.
Mit Leibniz zeigt sich, dass die geistige Entwicklung Europas auch anders
hätte verlaufen können. Er gilt heute als Vorläufer der Aufklärung, womit
implizit kritisiert wird, dass ihm noch der Abstand zur Religion gefehlt habe.
Genau dies scheint aber eine Schlussfolgerung, die füglich bezweifelt werden
kann. Die europäische Aufklärung und mit ihr die dynamische Entwicklung des
theoretischen und praktischen Wissens hätten durchaus nicht unter Ausschluss
von Religion und Gottesglauben erfolgen müssen. Die ungeheure Breite der
Betätigungsfelder, von denen nur auf das von Leibniz entdeckte binäre
(digitale) Zahlensystem hingewiesen sei, das heute jedem Computer zugrunde
liegt, zeigt eindeutig, dass gerade auch der technische Fortschritt, auf den
sich die atheistische Moderne so viel einbildet, unter Bewahrung metaphysischer
Vorstellungen möglich gewesen wäre. Leider hat Leibniz nur wenig zu Lebzeiten
publiziert, sodass seine Wirkung im 18. und 19. Jahrhundert gering war. Der
Bruch in der europäischen Moderne wäre ansonsten möglicherweise nicht oder
nicht so erfolgt; notwendig jedenfalls ist er nicht gewesen.
Universale Harmonie als Einheit der Vielfalt
Der Philosoph und Leibniz-Spezialist Hans Poser fasst zusammen: „Ein
zentraler Gedanke von Leibniz war die universale Harmonie als Einheit in der
Vielheit. Die Einheit Europas beruhte für ihn vor allem auf der
griechisch-römischen Rechtstradition und dem christlichen Glauben, die er beide
in besonderem Maße als vernunftbegründet ansah. Die Verschiedenheit hingegen,
die es bei gleichzeitigem Austausch bewährten Wissens zu bewahren galt, sah er
in den spezifischen Traditionen von Regionen und Nationen als Ausdruck ihrer Geschichte,
gespiegelt in den jeweiligen Sprachen und Dialekten.“ Die Harmonie, und das ist
ein verbreitetes Missverständnis, bedeutete für Leibniz keineswegs
Konfliktfreiheit, doch ermöglicht erst die Disharmonie den Ausgleich, der dann
in immer weiterer Vervollkommnung zur Harmonisierung des Verschiedenen führt.
Leibniz hätte den Gedanken der Gleichheit nie zur Perversion einer
Vereinheitlichung geführt: Keinesfalls dürften die Teile eines Ganzen gleich
sein. Den heute in Brüssel von vielen vertretenen Gedanken der Vereinigten
Staaten von Europa, einem Einheitsbrei durcheinandergewürfelter Völkerschaften
aus Ländern der ganzen Welt, der durch eine seelenlose Bürokratie und immer
mehr Reglementierung zusammengehalten wird, mögen linke staatsgläubige
Internationalisten, die sich in der Tradition der Aufklärung wähnen, als
kleinsten gemeinsamen Nenner attraktiv finden, sicher ist, dass Leibniz ihn
abgelehnt hätte, weil er vernunftwidrig ist. Die Harmonie Europas bedarf der
Verschiedenheit, nämlich des Miteinanders unterschiedlicher Nationalstaaten.
Vielleicht sollte nicht nur bei der Frage der Vereinbarkeit von Glaube und
Vernunft, sondern auch in dieser Hinsicht politisch wieder bei Leibniz
angeknüpft werden.
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