Erschienen in Ausgabe: No 123 (05/2016) | Letzte Änderung: 05.05.16 |
von Ingo Friedrich
Europa befindet sich in einer
existentiellen Krise und die Liste der akuten Probleme wird immer länger:
Da wäre die mangelnde Bereitschaft der europäischen Nationalstaaten einmal
getroffene EU-Beschlüsse umzusetzen. Rechtsradikale Parteien verschärfen dieses
Problem für die nationalen Regierungen noch zunehmend.
Hinzu kommt die zweifellos vorhandene Komplexität europäischer Politik mit der
Konsequenz, dass einfache oder gar eingängige Lösungen fast nie machbar sind:
Wo liegt die Grenze der Belastbarkeit bei den Flüchtlingen, welche Finanzhilfen
für schwächere Mitgliedstaaten sind tragfähig und ab wann sind sie
rechtswidrig? Welche Folgen hat die Niedrigzinspolitik der Europäischen
Zentralbank? Welche Konsequenzen hat ein möglicher Austritt Großbritanniens für
die Briten und für die EU? Was tun, wenn das gesamteuropäische Gemeinwohl im
Gegensatz zum nationalen Gemeinwohl steht? Wo beginnt die europäische
Souveränität und wo endet die Souveränität der Nationen?
Die Komplexität und Unsicherheit
wird aber auch durch neue und den meisten unverständlichen Erfindungen der
internationalen Finanzwirtschaft gespeist: Wer kennt, wer braucht
Hedgefonds,Derivate, Leerverkäufe, binäre Optionen? Sie entfalten
offenbar ebenso schwierige Wirkungen wie früher große Erfindungen in der
Realwirtschaft wie Webstuhl, Fließband oder Computer und Internet. In vielen
Bereichen sieht es so aus, dass Europa bis vor wenigen Jahren Stabilität
exportiert hat und heute umgekehrt Instabilität importiert.
All diese Schwierigkeiten haben
zu einer zunehmenden Skepsis der Bürger gegenüber der Europäischen Union
geführt. Man versteht zu wenig von Europa und der internationalen Komplexität.
Viele glauben inzwischen, der Rückzug auf die nationale Ebene sei die Lösung.
Wird das europäische Projekt vor diesen großen Schwierigkeiten kapitulieren
oder gar scheitern?
Ein Scheitern Europas würde unmittelbar Stabilität, Frieden und Wohlstand
gerade für uns Deutschen gefährden. Die Stimme Europas im Konzert der großen
globalen Mächte würde leise werden und andere Mächte würden mit ihren
Vorstellungen mehr Einfluss auf uns ausüben. Bezogen auf Fläche und
Einwohnerzahl ist Europa ohnehin ein Zwerg. Was ist zu tun?
1. In einem großen Lernprozess
muss der kritischen Öffentlichkeit und den Bürgern bewusst werden, dass sich
europäische Kompromisse nicht an einem (nationalen) Gemeinwohl ausrichten
können, sondern unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Interessen aller
28 Mitgliedstaaten formuliert werden müssen. Der österreichische Kaiser
Franz-Josef hat für seinen Vielvölkerstaat dieses Problem einmal so
beschrieben: „Ich habe dann richtig entschieden, wenn alle meine Völker mäßig
unzufrieden sind.“ - Mehr ist auch in Europa nicht möglich, weil das
Grundempfinden über die Richtigkeit politischer Entscheidungen häufig noch sehr
unterschiedlich ist.
2. Die politischen Eliten Europas
müssen die europäische Realität noch viel besser erklären. Die Medien haben
dabei auch eine besondere Verantwortung: Sie sollten viel häufiger und fair über
Europa und seine Probleme berichten. Fair heißt daraufhin hinzuweisen, dass
Europa im heutigen Entwicklungsstand nicht einfach »per ordre de mufti« die
Dinge regeln und den Nationalstaaten Befehle erteilen kann. Aber eines kann
auch festgestellt werden: das permanent negative Geheule in den sog sozialen
Netzen darf uns nicht vom richtigen Weg abhalten.
3. Europa muss besser werden: Entscheidungen müssen schneller getroffen und
besser begründet werden. Und vor allem muss Europa Abschied nehmen von den vielen
Detailregelungen. Der Binnenmarkt funktioniert auch wenn nicht alle Details
gleichgeregelt sind. Dann müssen eben Standards der Nachbarn im Rahmen der
gegenseitigen Anerkennung grenzüberschreitend akzeptiert werden. Der Grundsatz
muss lauten: Europa ist groß bei den großen Fragen und klein bei den kleinen
Problemen.
Die geistige Antwort beginnt mit
dem Blick in die europäische Geschichte: woher kommen wir? Was macht uns aus?
Für mich gibt es eine durchgehende Linie, die von dem Jerusalem vor 2000 Jahren
über Konstantinopel und Rom in das christlich-abendländische Europa des
21.Jahrhundert führt. Auf dem Weg durch die Jahrhunderte wurden, basierend auf
den christlich-jüdischen Grundwahrheiten, all die zentralen Entscheidungen
getroffen, die heute die Grundlage für unsere staatliche Existenz bilden:
Dazu zählen die Trennung von Staat und Kirche, die unantastbare Würde des
Menschen, die Reformation (mit dem Mut als Einzelner Recht gegenüber Kaiser und
Papst einzufordern), daraus folgend die Religionsfreiheit aber auch die
staatliche Gewaltenteilung, die soziale Marktwirtschaft, die Demokratie als
Herrschaftsform, die Gleichheit aller vor dem Gesetz, die Gleichberechtigung
von Mann und Frau und die Sorge um den Schwächeren nach dem Gebot der
Nächstenliebe. Vor diesem Hintergrund können wir unsere
europäisch-abendländische Identität erspüren, die auf ganz natürliche Weise die
nationale und regionale Identität ergänzt und erweitert.
Fast alle segensreichen Entscheidungen nach dem 2. Weltkrieg sind durch die
europäische Zusammenarbeit ermöglicht oder erleichtert worden: Dies gilt für
die Wiedervereinigung, den Zusammenbruch des Kommunismus, die Versöhnung mit
unseren Nachbarn, die Abschaffung der Diktaturen in Europa, die Wiederaufnahme
Deutschlands in den Kreis der angesehenen Nationen und nicht zuletzt unsere
gute wirtschaftliche Situation. Und ich bin überzeugt, dass auch die künftig zu
erwartenden großen Herausforderungen nämlich der Kampf gegen den Terrorismus
mit entsprechenden Austausch der Daten, der Umgang mit dem Islam, mehr
Gerechtigkeit zwischen arm und reich, der Klimawandel, die Flüchtlingsfrage,
die Globalisierung, die wirtschaftliche Stabilität und die innere und äußere
Sicherheit gemeinsam im europäischen Verbund besser zu bewältigen sind als
durch nationale Alleingänge. A propos Islam: Wir müssen zur Kenntnis nehmen,
dass es im Koran zweierlei Wurzeln des Islam gibt: eine die sehr ähnlich dem
christlichen Erbe Nächstenliebe und Toleranz predigt und eine zweite Wurzel,
die alles Heidnische gewaltsam bekämpft. Diese zweite Wurzel des Islam gehört
weder zu Deutschland noch zu Europa. Und diese zweite Wurzel liefert auch dem
radikalislamischen Terror seine Begründung.
In Kenntnis und Berücksichtigung unserer 2000jährigen geistigen Entwicklung gilt
es mutig nach vorne schauen und darauf zu vertrauen, dass die europäische
Erfolgsstory fortgesetzt werden kann, weil sie in der Logik der Geschichte
liegt und weil sie eine kluge und tragfähige Antwort auf die Herausforderungen
des 21. Jahrhunderts gibt. Eine Zukunft mit Europa wird uns auch zukünftig
immer wieder mit schwierigen Problemen konfrontieren aber eine Zukunft ohne
Europa würde uns in eine dunkle Vergangenheit zurückwerfen. Europa besser zu
machen statt jammernd aufzugeben, ist der schmale aber richtige Weg für uns und
unsere Kinder.
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