Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 05.05.16 |
von Stefan Groß
In seiner Antrittsvorlesung „Der Gott des Glaubens und der Gott der
Philosophen, Ein Beitrag zum Problem der theologia naturalis“ von 1959 in Bonn
steht die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glauben und Wissen im Fokus von
Joseph Ratzinger. Wie verhalten sich Glaube und Vernunft zueinander? Diese
Frage ist auch vor dem Hintergrund des Verhältnisses zwischen Natur- und
positivem Recht zentral. In der Bonner Rede wird ausgehend von Pascals esprit
de finesse Descartes’ esprit de géometrie als eine abstrakte Spekulation über
Gott kritisiert, durch die es unmöglich sei, ein konkretes Gottesverhältnis zu
stiften, denn per Mathesis universalis
kommt das Individuum nicht zum Glauben, allein der esprit de finesse kann die
Relation herstellen.
Der Gott der Philosophen und der Gott
des Glaubens
Während der Gott der Philosophen, die theologia naturalis, sich auf die Ratio
verkürzt und damit letztendlich ein Wissen ohne Offenbarung ist, setzt die
personal-relationale Identität des Glaubens die Offenbarung voraus. Damit hängt
die Differenz zwischen dem Gott des Glaubens und dem Gott der Philosophen mit
der unterschiedlichen Bestimmung der jeweiligen Inhalte zusammen: philosophisch
ist der Begriff das Telos und die Reflexion endet im Begriff des Absoluten als
des unpersönlichen Gottes, in einem allgemeinen Abstraktum. Das philosophisch
Absolute bleibt das begriffsmäßig Bestimmbare, das sich nur der Vernunft zu
erkennen gibt, das aber Gott an sich verfehlt. Zum Absoluten, oder dem
christlichen Gott, um den es Ratzinger geht, kann man sich nur durch den Namen
Gottes nähern. Der Name Gottes bleibt dabei aber ein „Skandal“, da Gott mehr
ist, als der, als den wir ihn bestimmen. Genauer gesagt. Der Name ist nicht ein
Akt der Benennung seitens der Vernunft, sondern ein Akt Gottes selber, der
damit auch die religio oder theologia naturalis überschreitet. Die
Namensnennung fällt dabei in seine Offenbarung, oder anders: Gott offenbart
sich mit seinem Namen. Damit ist der Unterschied zwischen vernünftiger Namensgebung
als theologia naturalis und christlichem Gottesglaube benannt, denn via
causalitatis kommt das reflektierende Ich nicht zu Gott, es setzt diesen
vielmehr in ein subjektives Bestimmungsverhältnis und macht diesen zum Objekt
seiner Setzung. Erst durch den geoffenbarten Namen ist umkehrt eine
Anrufbarkeit möglich, vollzieht sich die Einheit von Gott und Mensch, geschieht
die „Relation der Mitexistenz mit ihm“[1]
Während die Hybris der Philosophie sich in der Selbstermächtigung der Vernunft
zeigt, erweitert der christliche Glaube die theologia naturalis und hat ihr
gegenüber ein Prä. Die theologia naturalis bleibt zwar die Voraussetzung der
religio vera, ist aber nicht ihr endgültiges Ziel. Anders gesagt: erst der
christliche Glaube nimmt die philosophische Gotteslehre in sich auf und
vollendet sie“.[2]
Das Neuartige des christlichen Monotheismus liegt, so Ratzinger, in der
Ansprechbarkeit Gottes, daß man zu ihm beten kann und darin, daß Gott „als Gott
zugleich das Absolute an sich und des Menschen Gott ist. […] Das kühne Wagnis
dieses Monotheismus bleibt es, daß er das Absolute – den ‚Gott der Philosophen’
anspricht, es für den Gott der Menschen – ‚Abrahams, Isaaks und Jakobs’ hält.“[3] Der Gott des Aristoteles, der
unbewegte Beweger und der Gott der Christen sind Einer, dennoch wird die
Vernunft ohne den Glauben nicht heil, und der Glaube seinerseits ohne die
Vernunft nicht menschlich. Vernunft und Glauben sind verschieden, stehen aber
in Korrelation. Damit ergibt sich mit Blick auf den Aufklärungscharakter des
Christentums, das sich mit seinem Bekenntnis zur Vernunft eindeutig auf die
Seite der theologia naturalis, also an die Seite des Gott der Philosophen
stellt, daß auch diese sich reinigen, sich vom antiken Götterverständnisund
-himmel distanzieren muß. Die purgatio ist somit eine wesentliche Selbstaufgabe
der Vernunft, auch der politisch instrumentellen Vernunft, und sichert dieser
damit zugleich ihre Unvertretbarkeit im Blick auf den Glauben. Die
Selbstreinigung der Vernunft und ihr spekulativer Unbedingtheitsanspruch, der
im Begriff des Absoluten kulminiert, geschieht daher vor dem Hintergrund des
Glaubens, soll Gott nicht zu einem bloßen Regulativ bestimmt werden, dem in der
endlichen Wirklichkeit keine Wirkmächtigkeit zugesprochen wird.[4] Umgekehrt muß der Glauben
transparent für die Vernunft sein, sich ihr gegenüber öffnen, beziehungsweise
müssen seine Inhalte vernunftgemäß sein, damit diese von der Ratio anerkannt
werden können.
Der Bindestrich zwischen religio
naturalis uns wahrer Religion
Daß es einen Bindestrich zwischen religio naturalis und religio vera, zwischen
philosophischer Erkenntnis und wahrer Religion qua Offenbarung gibt, findet
seine Bestimmung, so Ratzinger, in der „Septuaginta“, denn durch die
Selbstaussage Gottes des „Ich bin der Ich-bin“, wodurch aus dem Ich-bin
letztendlich der Seiende wird, kommt es zur Synthese zwischen griechischen und
biblischen Gottesbegriff, da dieser sich als Seiender offenbart, als einer, in
dem Wesen und Dasein zusammenfallen. „Das heißt: Was der oberste Begriff der
Ontologie und der Schlußbegriff der philosophischen Gotteslehre ist, erscheint
hier als eine zentrale Selbstaussage des biblischen Gottes. […].“[5] Genau in der Identifizierung
zwischen Jahwe-Namen und ontologischer Definition sieht Ratzinger den Schlüssel
zu einer „Legitimität der Koexistenz von Philosophie und Glaube“ ebenso wie die
„Legitimität der analogia entis als der positiven Inbeziehungsetzung von
Vernunfterkenntnis und Glaubenserkenntnis, von Natursein und Gnadenwirklichkeit
[…].“[6]
Dem Thema der religio oder theologia naturalis nähert sich Ratzinger bei seiner
Auseinandersetzung mit der römisch-stoischen Philosophie erneut. Dabei im Blick
die Dreiteilung der Theologie des Marcus Terentius Varro. In Varros nicht
direkt überlieferter Schrift „Altertümer menschlicher und
göttlicher Einrichtungen“ („Antiquitates rerum humanarum et divinarum“,
[7] einer Caesar gewidmeten römischen Kulturgeschichte in
einundvierzig Büchern, [8] auf die auch Augustinus in „De
civitate dei“ oft zurückgriff, findet sich der älteste überlieferte Beleg für
den Terminus „Natürliche Theologie“. Bezugnehmend auf Varro, der sich auf
stoische Quellen stützt,[9]
unterscheidet Ratzinger zwischen der mythischen Theologie (theologia mythica),
der Theologie der Philosophen (theologia naturalis) und der Staatsreligion samt
ihrem Götterglauben (theologia civilis). Die mystische Theologie ordnet
Ratzinger wie Varro dem Theater, die politische der Polis und die „natürliche“
dem Kosmos zu. Theologia mythica und civilis konzentrieren sich im Unterschied
zur theologia naturalis auf einen zivilreligiösen Aspekt, auf die Ausübung des
Kultes und damit nicht auf das Göttliche. So wird die Religion als theologia
civilis von der theologia naturalis entkoppelt und die römische pietas bleibt
anthropozentrisch, denn die „Norm der Religion ist nicht Gott, sondern die
civitas.“[10] „Die theologia
naturalis hat es mit der natura deorum zu tun, die beiden andern theologiae
aber mit den divina instituta hominem. Damit ist aber letztlich der ganze
Unterschied reduziert auf den von theologischer Metaphysik einerseits und von
Kultreligion andererseits. Die civilische Theologie hat letztlich keinen Gott,
sondern nur ‚Religion’, die ‚natürliche Theologie’ hat keine Religion, sondern
nur eine Gottheit.“[11]
Dagegen haben sich die christlichen Theologen gegen das vom Götterglauben
geforderte religiöse Recht auf die Seite der Philosophie gestellt, Vernunft und
Natur in ihrem Zueinander als die für alle gültige Rechtsquelle anerkannt.“[12] Das Christentum, sofern es sich
also gegen die römische Zivilreligion und für den Gott der Philosophen
entscheidet, Ratzinger versteht dies als eigentliche Aufklärung, ist
atheistisch, wenn darunter „nicht eine Überzeugung, sondern ein kultisches
Verhalten“ verstanden wird, das sich nicht „auf den Glauben an Gott, sondern
auf das ‚religiöse’ Tun im menschlichen Raum“ bezieht.[13] In der antiken civitas wird Gott
konstruiert, zum Faktum des Gesetztseins, denn zuerst existiert die civitas,
die sich dann ihre Religion gibt. Im Gegensatz dazu steht die civitas dei
Augustinus’. „Nicht weil sie bestand, erhob sie ihren Gründer Christus zum
Gott, sondern weil Christus Gott ist, entstand sie. Nicht weil sie Christus
liebte, glaubte sie schließlich seine Gottheit, sondern weil sie durch den
Glauben auf dem Fundament seiner Gottheit ruht, liebt sie ihn. Hier ist also
zuerst Gott da und dann erst die Gemeinschaft der Menschen, die in ihm ihre
Einheit haben. Nur dadurch, daß es ihn gibt, und zwar als einen dem Menschen zugewandten,
als ein summum bonum für ihn, kann die Liebe zu ihm einende Kraft der Menschen
werden. Gott geht der civitas voran – das bedeutet auf Seiten der Menschen: Der
Glaube geht der Liebe voran, die Erfahrung des Gegenstandes […] löst den
Zustand aus, der jetzt nicht mehr schöpferisches Selbsttun, sondern
antwortendes Mittun ist. Nicht die mütterliche civitas steht hier in der Mitte,
sondern der Vater-Gott, von dem allein aus sich auch eine Mutterschaft der
civitas bestimmen läßt.“
Die Einheit der Nationen – Die Vision
der Väter
In seinem Buch „Die Einheit der Nationen, Eine Vision der Kirchenväter“[14] von 1962 thematisiert Ratzinger
den Gedanken der civitas erneut und stellt ihr die stoische Kosmologie als
„philosophische Opposition“ gegenüber. Während in der römischen civitas das
Recht gilt, also positives Recht, handelt es sich bei der Stoa um ein
individuelles, apolitisches, auf innere Vernunftfreiheit abgestimmtes Weltbild.
Die Stoa, so Ratzinger, hatte die Einheit des Menschen entdeckt, daß es Eine
Menschlichkeit gibt, „daß die ganze Menschheit ein einziger Körper war“, der
„quer über alle Zeiten und Räume besteht“.[15]
Die stoische Philosophie erweist sich damit als Ursprung eines übernatürlichen
Rechts, eines überpositiven Rechtes, als Naturrecht, das sich aus der Natur des
Menschen ableitet, das das „ganze All in des Zeus großem Leibe“[16] abbildet. Damit stehen sich zwei
Bestimmungen des Rechts gegenüber, das Naturrecht des geist-stofflichen Pneuma,
das aber pantheistisch begründet wird und die politische Religion oder
Theologie Roms, wie sie sich der pax humana als Instrument des Staates zeigt.
Sowohl die Stoa als auch die römisch-politische Theologie leiten ihren
Geltungsanspruch damit entweder rein metaphysisch oder als irdisch bestimmte Geltungsmacht
ab.Beide bleiben einseitig. Denn die Stoa reduziert sich auf den Egoismus von
Einzelinteressen, auf die private Glückseligkeit und vernachlässigt den
universalen Anspruch der Moral. Die Theologie Roms hingegen verschafft zwar der
praktischen Philosophie Geltung, jedoch um den Preis, daß sie diese nur aus dem
Recht begründet. Letztendlich wird damit die praktische Philosophie zur Magd
der Politik, was schon zu Zeiten Roms, aber mehr, so Ratzinger, im 20.
Jahrhundert, zu einer Unterordnung des Rechts unter die Macht geführt hat, die
in der Hölle von Auschwitz sich als Macht der Ungerechtigkeit die
zweifelhafteste Geltung verschafft hat.
Beiden gegenüber, Pantheismus und römischer Staatsreligion, tritt als dritte
prägende Kraft der Antike und ihrer widerstreitenden Rechtsauffassungen die
Idee der Einheit von Gott und Mensch gegenüber, wie sie sich im biblischen
Glauben, im Bekenntnis zum einzig-wahren Gott und der Verwurzelung aller
Geschichte in Adam zeigte. Im Christentum als aufgeklärter Religion, die sich
sowohl vom Götterglauben der Vorsokratiker distanziert und den Polytheismus wie
Sokrates kritisiert, wird nicht nur zwischen dem „Gegenüberstehen“ von Gott und
Welt unterschieden, sondern hier zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß sich
kein weltlicher princeps zum Vollstrecker der göttlichen Weltmacht erheben
darf. Um dies zu erklären, greift Ratzinger auf die Zwei-Adam-Lehre zurück.
Die strikte Trennung – wie sie in der alten Zwei-Polis-Lehre und in der
Zwei-Adam-Lehre zum Ausdruck kommt –, läßt zwar die Einheit der römischen Polis
bestehen, nur überbietet sie deren radikalen Anspruch, ihre normativen
Gesetzlichkeiten, die einzige Kosmologie zu sein. Gerade im Christentum, das
die römische Welt und Gesetzgebung anerkennt, zeigt sich der revolutionäre
Geist eben nicht in der politischen Aneignung, in der Macht der Waffen, sondern
im Sinne einer eschatologischen Hoffnung, die letztendlich bei Gott liegt und
eine universale Gerechtigkeit zwischen den Menschen stiftet. Das Reich Gottes,
die christliche Einheitsidee, beschränkt sich damit nicht auf eine weltliche
Theokratie, sondern bekräftigt sich in der Anerkennung von Tod und Auferstehung
Christi; ihre eigentliche Hoffnung ist die Überwindung des alten Adam in
Christi. Jedwede irdische Theokratie bleibt vorläufig. Zu ihrer Dialektik
gehört, religiös gesprochen, die Selbstüberwindung, die dann im neuen Adam zu
einer „zweiten Humanität“ wird, die nicht nur dem sich selbstverherrlichenden
Menschen eine Absage erteilt, sondern für sich in Anspruch nimmt, die einzige
und endgültige Menschheit zu sein. Diese christliche Hoffnung, oder um mit Karl
Rahner zu sprechen, die „Vision der Väter“ ist eben dahingehend revolutionär,
weil sie die griechisch-römischen Kosmopolis zugunsten der Idee der einen
Menschheit austauscht, für die letztendlich die Idee von der christlichen
Kirche steht. Anders gesagt: An die Stelle von der Idee der einen
Menschlichkeit der Stoa und dem einheitlichen römischen Staatsglauben – samt
seinem universalem Geltungsanspruch und der Gesamtheit der positivierten Rechte
–tritt die Idee der Kirche, verkörpert durch das Christusmysterium. „Das
Christusmysterium ist für die Väter als solches und ganzes ein Mysterium der
Einheit. […] Die Einheit ist darin nicht irgendein Thema, sondern das Leitmotiv
des Ganzen.“[17] Anders gesagt:
In der Menschwerdung Jesu Christi inkarniert sich Gott in jeden Menschen. Der
„Leib Christi“ wird zum Stellvertreter der gesamten Menschheit, die Kirche
dabei zum Träger, in der sich diese Einheit darstellt, zum Volk Gottes, wie
Ratzinger in seiner Promotion schreibt. Gegenüber der griechischen Polis sind
die Kirche der Väter und die durch sie verkörperte eschatologische Hoffnung auf
den neuen Adam tatsächlich übernational, hier wird das partikular-politische
Sonderinteresse zugunsten des einen Glaubens aufgehoben und relativiert.
Kelsos contra Origenes
Ratzinger weißt in diesem Zusammenhang auf Kelsos Lehre von den Völkerengeln
hin, auf die Lehre, das jedem einzelnen Volk ein derartiger Engel
korrespondiert, der die Einzelinteressen der Völker vertritt und die Religion
damit zugleich auf den nationalen Fokus reduziert. Kelsos begreift das
Nationale nicht nur als den Ort der jeweiligen Religion und des Rechts, sondern
als Verordnung der göttlichen Weltregierung und damit letztendlich als
religiöses Gebot, was sich in der griechischen Fassung von „Deuteronomium 32, 8
deutlich zeigt, wenn dort steht: „Als der Höchste die Völker teilte, als er die
Söhne Adams zerstreute, setzte er den Nationen Grenzen, entsprechend der Zahl
der Engel Gottes.“
Während Kelsos also den religiös-nationalen Charakter hervorhebt, vertritt
Origenes die Einheit der Idee der Menschheit, die sich im Mysterium von Jesu
Christi zeigt. Denn: „Das Sein Jesu Christi und die Botschaft Jesu Christi
haben eine neue Dynamik in die Menschheit getragen, die Dynamik des Übergangs
aus dem zerrissenen Sein der vielen einzelnen in die Einheit Jesu Christi, in
die Einheit Gottes hinein. Und die Kirche ist gleichsam nichts anderes als
diese Dynamik, dieses In-Bewegung-Kommen der Menschheit auf die Einheit Gottes
hin. Sie ist ihrem Wesen nach Übergang. Vom zerrissenen, gegen den andern
gewandeten Menschsein zum neuen Menschsein, zur Vereinigung des Zerscherbten
hin. Genau das wollen die Väter ausdrücken, wenn sie die Kirche ‚Leib Christi’
nennen.“[18]
Dieser „Leib Christi“ als transnationale Bestimmung der Kirche – auch im
Stadium ihrer Vorläufigkeit – steht nicht nur in Opposition gegen die
verschiedenen Regenten (oder himmlische Herrscher), sondern wird von Origenes
negativ als Abfall von Gott, als eine Strafe der Völker, die ihre geistige
Einheit verraten haben, interpretiert. Die entzweite Menschheit hat sich in die
Hände ungnädiger Engel begeben, die den einzelnen Völkern ihre Sprache und
Religion verliehen haben. Diese Regentschaft der sogenannten Archonten, wie
Origenes die Völkerengel nennt, sind Usurpatoren, die analog zur Gottlosigkeit
der Menschen sich ihre Herrschaftsgebiete gesucht haben. Die Archonten erzeugen
Unordnung, Chaos und Ungesetzlichkeit. Diese Herrschaft des Chaos, die sie
aufrichten, wird letztendlich mit dem Heilswerk Jesu aufgebrochen, denn er
besiegt die dunklen Mächte der Finsternis und damit das Prinzip des Bösen und
errichtet demgegenüber die neue Friedensordnung als Synthese zwischen „Altem“
und „Neuen Bund“, zwischen Dekalog und Bergpredigt. Er führt die Menschen aus
dem Gefängnis des Nationalen in die Einheit Gottes und damit schließlich zur
Idee der einen Menschheit, die sich dem Prinzip der nationalen Vielheit
widersetzt. Damit wird, so Ratzinger deutlich, daß nur die Kirche für die
übernationale Einheit stehen und nur ein Gott regieren kann, der sich in Jesu
Christi opfert. Aber auch im Hinblick auf die politische Theologie agieren die
Nationen, samt ihren Völkerengeln und ihren Rechtsansprüchen, nur im Range
bloßer Vorläufigkeiten, deren eigentliches Ziel das himmlische Jerusalem
bleibt, was sich in der theologischen Metaphysik der Nationen bei Origenes
zeigt. Letztendlich, so Ratzinger, siegt Origenes gegenüber Kelsos, der beim
Christentum ein überregionales Sonderinteresse kritisiert hatte – samt dem
Vorwurf, daß sie es seien, die das völkische Gesetz verraten und sich so
außerhalb der Gesetzlichkeit des Nationalen und der jeweiligen regionalen
göttlichen Ordnung gestellt haben.
Das Übernationale als Korrektiv
Sowohl im Blick auf die Religion als auch auf verschiedenen
politisch-religiösen Ordnungen und Bindungen[19]
erweist sich das Übernationale als eigentliches Korrektiv, auch – und damit
kommt die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glauben wieder ins Spiel –
im Blick auf Origenes Lehre von der dreifachen Weisheit; der Weisheit Gottes,
der Welt und der „Fürsten“ dieser Welt. Während die Weisheit Gottes, die sich
in Jesus offenbart, für die übernationale Weisheit steht, ist von ihr die
Weisheit der Welt sowohl graduell als auch qualitativ verschieden. Diese
Weisheit als Wissenschaft, „Weltwissenschaft“[20]
hat ihren Ort in der Poesie, Grammatik, Rhetorik, Geometrie, Musik und Medizin.
Von dieser wiederum ist die Weisheit der „Fürsten“ zu unterscheiden, wobei
Origenes dazu die Geheimlehren der Ägypter, die Astrologie der Chaldäer, die
indischen wie auch die griechischen Spekulationen zählt. Und Ratzinger betont,
daß diese „volksgebundenen Philosophien“ von den Völkerengeln inspiriert sind
und damit nichts weiter als nationale Weisheiten bleiben, wenngleich diese
Lehren, und damit positiv, Weisheitslehren sind, in denen sich auch die
Vernunft ausspricht, aber eben nicht die universale, gottgegebene Vernunft. Der
Protest der „Fürsten“ der Welt gegenüber dem Christentum ist dann nichts
anderes als eine Verschwörung gegen das sich im Christentum offenbarende
Übernationale. Und mit dem Christentum, so Ratzinger im Anschluß an Origenes,
wird auch die Vorläufigkeit des Nationalen deutlich, und nicht nur das: das
Nationale kann „nur noch in der Form der wahrheitswidrigen Selbstbehauptung
einer überholten Ordnung weiterexistieren“, es hat nach Christus keine
Legitimität mehr.[21] Kurzum:
Der christliche Glaube durchbricht das alte Ordnungsprinzip des
national-religiösen, er setzt anstelle des Vaterlandes die weltumspannende
Kirche, die mit ihrer Friedensbotschaft endgültig den Kampf der Kulturen
beendet. An die Stelle der absoluten Herrschaft der nationalen Gesetze ist das
göttliche Gesetz getreten, das durch die eine Kirche über alle Völker der Welt
regiert. Diesen idealen, weltumspannenden Staat als Kirche begreift Ratzinger
dann als konkrete Vollendung der platonischen Idee vom ideellen Staat, der die
endliche Welt nicht aufhebt, wie der gnostische Dualismus Kelsos’, sondern
diese zum Ort des geschichtlichen Heils werden läßt.
Das Christentum stellt durch seinen Begründungsanspruch den bestehenden
politischen Kosmos in Frage, wenn es diesen seine eschatologische Sicht
gegenüberstellt, die darin kulminiert, daß er zwar das vernünftige Naturgesetz
und das positive Recht als die zwei möglichen gäbe, aber letztendlich das
göttliche Naturgesetz über das positive obsiegt, die Ethik über dem Recht
steht. Weil das Vernünftige dem Christentum innewohnt, stellt es sich an die
Seite der philosophischen Opposition und vermag aus der besseren Einsicht die
vaterländischen Gesetze zugunsten des göttlichen Gesetzes relativieren. Was die
Philosophie und das Christentum damit verbindet, ist, daß sie sich auch gegen
die Weisungen der politischen Macht, die Gesetze, gegen das positive Recht
entscheiden können. Die Christen haben darüber hinaus noch eine propädeutische
Aufgabe, eine erzieherische Funktion: „Die christliche Revolution erscheint
aber so erst recht nicht mehr als Angriff auf den Kosmos als solchen, sondern
geschieht – wie die philosophische Opposition – letztendlich sogar zu dessen
eigenem Nutzen.“[22] Die
Christen sind, so Ratzinger mit Origenes, die wahren „Priester der Menschheit“,
weil sie die „Frömmigkeit gegenüber dem Gott aller Staaten lehrten“.[23] Wie Origenes so hebt auch
Ratzinger hervor, daß die Unterordnung des Heiligen unter das Politische und
Nationale letztendlich die Freiheit des einzelnen Menschen aufhebt, weil sie
nur seine endliche Freiheit im Fokus hat, aber nicht seine Freiheit als Bild
Gottes, der auch den Kosmos samt seinen Regenten und irdischen Mächten
geschaffen hat. Die Bejahung des geschaffenen Kosmos durch das Christentum weiß
sich letztendlich in der Opposition zum platonischen und gnostischen Dualismus.
Augustinus’ civitas caelestis
Wenn Origenes in seiner Schrift „Contra Celsum“ den gnostischen Dualismus und
die Trennung von Schöpfergott und Erlösergott kritisiert, entwickelt der
Kirchenvater Augustinus in seinem Werk „De civitate dei“ seine Polemik gegen
die römische Polis und politische Kosmologie, also gegen Recht- und
Rechtsstaatlichkeit mit dem Anspruch auf Universalität. Sieht Origenes in den
Völkerengeln jene Dämonen am Werk, die der christlichen Idee des Übernationalen
sich entgegenstellen, so kritisiert Augustinus die Wahrheitslosigkeit der
politischen Religion Roms, ja die Selbstermächtigung der Polis gegenüber Gott,
ihre Vergöttlichung und den darin eingeschlossenen Werterelativismus, der
letztendlich diese Werte absolut setzt. Die Religion wird dem Staat
unterstellt, sie hat nur die Funktion eines Gebrauchwertes, der als
Dienstleister innerhalb des Apparates zu funktionieren hat. Damit verkommt sie
zugleich eben zu bloßer religiöser Gewohnheit und stellt sich letztendlich
gegen die geoffenbarte Wahrheit. Mehr noch: In dieser ihrer Reduktion auf den
Staat folgt sie letztendlich den gottabgewandten Dämonen, liefert den Menschen
diesen aus. Demgegenüber ist das Christentum dann eine Befreiung zur Wahrheit,
eine „Befreiung von der Macht der Dämonen, die hinter der Gewohnheit stehen“.[24]
Mit seiner politischen Theologie stellt sich Augustinus somit nicht nur gegen
den Platonismus, sondern auch gegen das stoische Weltbild. Während innerhalb
der Stoa die Differenz zwischen Gott und Welt verschmilzt, weil im stoischen
Monismus die Welt vergöttlicht wird, ist innerhalb des platonischen Dualismus
keine Verbindung zwischen Gott und Welt her mehr möglich. Die radikale
Transzendenz Gottes kann keine Verbindung zwischen sich und dem Menschen
stiften. Diesem Grunddogma, daß es zwischen Gott und Mensch keine Berührung
gibt, stellt Augustinus seine Theologie gegenüber, die die Erde als Werk Gottes
begreift. Der transzendente Gott der platonischen Philosophie wird dann in der
Grundtatsache aufgehoben, daß Gott Mensch geworden ist; der Schöpfer der Welt
bleibt dieser zugewendet, zeigt ihr sein Antlitz und ist als Schöpfergott
zugleich in der Geschichte präsent, wobei das irdische Reich Abglanz des ewigen
ist. Für Augustinus werden die irdischen Theokratien zweitrangig; über ihnen
allen gemeinsam steht der Gottesstaat als Vaterland aller Menschen. Dennoch
sind sie als irdische Reiche notwendige Ordnungen und damit Rechtens, und als
Bürger dieser Staaten muß sich auch der Christ ihnen fügen, allein er muß ihr
relatives Sein erkennen. „Die letzte Sorge gehört allein der ewigen Heimat
aller Menschen, der civitas caelestis.“[25]
Und darin kommen, so Ratzinger, Origenes und Augustinus überein, wenn sie mit
dem Namen „civitas caelestis“ „nicht nur das kommende himmlische Jerusalem“
[…], sondern auch schon das Gottesvolk auf der Wanderschaft durch die Wüste der
Erdenzeit: die Kirche“ meinen.[26]
Sie unterscheiden sich aber dann, so Ratzinger, wenn Origenes die christliche
Revolution der Kirche durch eine eschatologische Radikalität überbieten will
und damit die irdischen Reiche auf-gibt, während Augustinus mit seiner
ekklesiastischen-sakramentalen Theologie, Rom nicht nur als sein Vaterland
begreift, sondern sich auch mit der Unvollkommenheit irdischer Macht und Recht
abgefunden hat. Dieser Ungerechtigkeit stellt er das Martyrium als Gegengröße
dem Staat gegenüber. Augustinus’ Sieg liegt im „Nein-Sagen“ gegenüber den
Mächten, die die Öffentlichkeit bestimmen. Die Kirche lebt in dieser Welt in
der Form des Leidens. „Seine Lehre von den zwei Staaten zielt weder auf eine
Verkirchlichung des Staates noch auf eine Verstaatlichung der Kirche ab,
sondern darauf, inmitten der Ordnungen dieser Welt, die Weltordnungen bleiben
müssen, die neue Kraft des Glaubens an die Einheit der Menschen im Leibe
Christi gegenwärtig zu setzen […].“[27]
Erst durch Augustinus, wie Ratzinger betont, und damit kommen wir an den Anfang
zurück, wird die theologia naturalis zur wahren Religion. „Der Bindestrich, den
Augustinus ‚zwischen neuplatonischer Ontologie und biblischer Gotteserkenntnis’
gesetzt hat, ist also von der Sache des Monotheismus her legitim, er ist die
konkrete Weise, wie sich für ihn der Bindestrich zwischen Gott der Philosophen
und Gott es Glaubens, Gott der Menschen darstellen mußte. Ja, er hat mit der
Feststellung, daß der stumme und unaussprechbare Gott der Philosophen in Jesus
Christus zum redenden und hörenden Gott geworden ist, gerade erst den vollen
inneren Anspruch des biblischen Glaubens vollstreckt.“[28]
Der Bogen in die Gegenwart – Der Papst
vor dem Bundestag
Auch in seiner Enzyklika „Caritas in veritate“ hat Benedikt XVI. die Bedeutung
eines universalen Sittengesetzes oder Naturrechtes hervorgehoben, wenn er
schreibt: „In allen Kulturen gibt es besondere und vielfältige ethische
Übereinstimmungen, die Ausdruck derselben menschlichen, vom Schöpfer gewollten
Natur sind und die von der ethischen Weisheit der Menschheit Naturrecht genannt
wird. Ein solches universales Sittengesetz ist die feste Grundlage eines jeden
kulturellen, religiösen und politischen Dialogs und erlaubt dem vielfältigen
Pluralismus der verschiedenen Kulturen, sich nicht von der gemeinsamen Suche
nach dem Wahren und Guten und nach Gott zu lösen. Die Zustimmung zu diesem in
die Herzen eingeschriebenen Gesetz ist daher die Voraussetzung für jede
konstruktive soziale Zusammenarbeit.“[29]
Anders gesagt: Das Gesetz, daß dem positiven Recht, die Korrelation im
interkulturellen Diskurs stiftet, diese ermöglicht, ist das Naturgesetz, als
das dem Menschen eingeschriebene universale Menschenrecht, die ihre Legalität
und Legitimität durch die Vernunft und als analogia entis erfährt. Das
Naturrecht – entweder aus der Quelle der reinen Vernunft oder als lex
aeternatis – widerstreiten sich auch im 21. Jahrhundert nicht, so Ratzinger,
sofern ihre Geltungsbereiche jeweils unterschiedlich begründet werden. Entweder
in den positiven Gesetzen der jeweiligen Staaten oder in einer dieser Gesetzmäßigkeit
vorangegangenen absoluten Idee der universalen Gerechtigkeit oder des
göttlichen Rechts. Ratzinger bleibt damit auf Schiene zu Origenes und
Augustinus und verschiebt in Analogie zu den beiden Kirchenvätern die Idee der
„Einheit der Nationen“ in die Post- oder Postpostmoderne. Die politischen
Religionen haben ihren Ort in der Endlichkeit und Fragwürdigkeit endlicher
Existenz und bedürfen, wie er im Diskurs mit Habermas hervorhebt, aber dann
eine Korrektur, wenn sie widermenschlich, ungerecht, auf einem ungerechten
Mehrheitswillen oder selbst gegen die Natur des Menschen als Schöpfungswesen
agieren, beziehungsweise dem Humanum widersprechen, sich die Natur als Bild
Gottes widerrechtlich aneignen, was sich explizit für Ratzinger in der modernen
Biotechnologie und den Neurowissenschaften zeigt. Experimentelle Forschung wie
das Klonen oder die Präimplantationsdiagnostik, so dann hart formuliert, gehört
nicht unter das Kuratel der technisch-säkular entgrenzten Vernunft, sondern
umgekehrt des Glaubens, der zum Korrektiv dieser Vernunft wird, die ins Maßlose
greift, die Hybris und Selbstermächtigung ist. Es gilt, und da spricht der
Theologe, dem das Verhältnis zwischen Glaube und Vernunft das tiefste
Verhältnis ist, das zu denken ist, hier, wie er es in seiner Rede vor dem
Deutschen Bundestag formuliert, auf ein hörendes Herz zu achten, auf das
Gewissen „als die in der Sprache des Seins geöffnete Vernunft“, das in Distanz
geht, wenn positives universales Recht transzendiert, wenn das Recht gegen die
Natur des Menschen, gegen alle Menschen, streitet. Der Mensch hat, und darauf
spricht der Papst im Bundestag an wenn er den Begriff der Ökologie verwendet,
eine Natur, auf die er „achten muß und die er nicht beliebig manipulieren
kann“. Als Einheit von Vernunft, Wille und Natur handelt er gerecht, wenn er
auf die „Natur hört […] und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht
selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche
Freiheit.“[30] Bezugnehmend auf
denRechtspositivismus Kelsens betont Ratzinger die Abhängigkeit von Normen aus
einer voluntativen Begründung heraus, da die Natur Normen nur enthält, „wenn
ein Wille diese Normen in sie hineingelegt hat.“ Dies geht, und das begreift
Ratzinger als Skandal des Christentums, nur durch einen Schöpfergott, „dessen
Wille in die Natur miteingegangen ist.“ Und dann stellt sich auch im 21.
Jahrhundert die Frage, ob die „objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt,
nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus“ voranstellt.[31]
Das Christum jüngster Geschichte hat im Unterschied zu anderen großen
Religionen, dem Staat und der Gesellschaft nie ein Offenbarungsrecht, eine
Rechtsordnung aus Offenbarung vorgegeben.“ Dagegen hat es auf die Natur und die
Vernunft „als die wahren Rechtsquellen verwiesen – auf den Zusammenklang von
objektiver und subjektiver Vernunft, der freilich das Gegründetsein beider
Sphären in der schöpferischen Vernunft Gottes voraussetzt.“[32]
Auch im demokratischen Staat, wo das Recht die Grundlage gesellschaftlichen
Miteinanders bildet, die Trennung zwischen Kirche und Staat (Neutralitätsthese)
akzeptiert und als uneinholbar gesetzt ist, Naturrecht und positives Gesetz
unhintergehbar sind, dürfen die vorpolitischen Grundlagen des Rechts nicht
wahllos ausgeklammert werden – das Böckenförde-Argument, denn der freiheitliche
Rechtsstaat verdankt sich einer Quelle, die er nicht selbst geschaffen hat. Und
wenn die Würde des Menschen unantastbar ist, die Gesetzgebung aber dieser
–selbst auf demokratischen Weg – zuwiderläuft und sich gegen die Natur des
Menschen entscheidet, dann muß das Naturrecht in Form des universalen
Menschenrechts diese korrigieren und eingreifen. Dies hatte schon Gustav
Radbruch mit seiner Radbruchschen Formel vor Augen. Wenn ein Gesetz Unrecht
ist, bedarf es einer Korrektur seitens des Naturrechts, selbst wenn das Recht
auf legalem Weg in die Rechtsgültigkeit getreten ist. Das Recht auf
Verweigerung hat der Papst in Berlin mit Rückgriff auf Origenes hervorgehoben,
der den Widerstand der Christen gegen bestimmte geltende Rechtsordnungen so
begründet hatte: „Wenn jemand sich bei den Skythen befände, die gottlose
Gesetze haben, und gezwungen wäre, bei ihnen zu leben […], dann würde er wohl
sehr vernünftig handeln, wenn er im Namen des Gesetzes der Wahrheit, das bei
den Skythen ja Gesetzwidrigkeit ist, zusammen mit Gleichgesinnten auch entgegen
der bei jenen bestehenden Ordnung Vereinigungen bilden würde […].“[33]
Die Gefahr, daß das Recht zugunsten der Macht der Religion gebrochen wird,
sieht aber Ratzinger nicht so sehr mehr in den „Pathologien der Religion“, die
durch die europäische Aufklärung vor zweihundert Jahren, mit Immanuel Kant,
eine Katharsis erfahren haben, sondern in einer sich exklusiv gebenden
positivistischen Vernunft, „die über das Funktionieren hinaus nichts wahrnehmen
kann.“ Sie gleicht, fast monadisch, „den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir
uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes
beziehen wollen. Und dabei können wir uns doch nicht verbergen, daß wir in
dieser selbstgemachten Welt im stillen doch aus den Vorräten Gottes schöpfen,
die wir zu unseren Produkten umgestalten.“[34]
Damit votiert Ratzinger gegen eine Vernunft, die sich ihres Ursprunges
entfremdet hat und qua Vernunft letztendlich dem demokratischen Rechtsstaat
ihre Maximen, Regulative und Imperative auferlegt und zeigt ihre Grenzen auf.
Mit einer rein utilitaristischen Vernunft, die sich dem technischen
Positivismus ausliefert, kann sich Ratzinger nicht abfinden, zumal, so seine
Meinung, sich diese in einer Gesellschaft ohne Gott eben in
den Aporien des rein Faktischen, des Machbaren, verfängt. Benedikt XVI.
plädiert daher eher für ein postmodernes als für ein „vormodernes“ Verhältnis
von Vernunft und Glaube, von Glaube und Politik. Dies betont er in
seiner Sozialenzyklika „Caritas in veritate“. Auch dort findet sich der Hinweis
auf den unverzichtbaren vorpolitischen Beitrag des Christentums in einer Zeit,
wo die Herausforderung der Globalisierung und die Krise der Freiheit der
freiheitlich-säkularen Grundordnung die Vernunft permanent herausfordern, wo
ein nutzenkalkulierendes, vom Egoismus getriebenes Menschenbild regiert. In
einem säkularisierten Staat eignet dem Christentum dann aber doch ein zivilisatorischerAspekt,
der sich keineswegs, wie Jürgen Habermas aber meint, auf ein Christentum als
Zivilreligion reduzieren läßt, sondern aus der kulturellen Vielfalt der
Kulturen und der Gläubigen resultiert – dies auch vor dem Hintergrund eines
Europa, das seine christlichen Wurzeln zunehmend verleugnet und sich dagegen
für die reine aufgeklärte Vernunft, für eine politische Weltformel aus reiner
Vernunft entschieden hat. Es gibt diese Weltformel aber nicht, was es dagegen
gibt, ist ein Hinhören und eine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen, von
Glaubensüberzeugungen geprägten Traditionen, wobei der Glaube eben nicht auf
die Vernunft allein reduziert werden darf.
Um dem zerstörerischen und den Frieden gefährdenden Potential einer rein
technischen Vernunft, die sich jenseits der kulturellen Tradition und
religiöser Werte positioniert, zu entgegnen, stellt Ratzinger dem
methodologische Kriterium der politischen Vernunft der Moderne, Hugo Grotius’
„etsi Deus non daretur“, einer Verfassung der politischen Ordnung durch ein
„als ob es Gott nicht gäbe,“[35]
sein „veluti si Deus daretur“ entgegen, das darin kulminiert, daß der Mensch
seine Würde wieder entdeckt, die aber in einer transzendenten Dimension seines
eigenen Menschseins liegt. Diese kann dann zum „methodologischen“ und nicht
„religiösen“ Kriterium der säkularen politischen Ordnung im 21. Jahrhundert
werden. Nur so gelingt es, die Unverfügbarkeit des Menschen gegen die
politisch-technologische Vernunft zu verteidigen. In seinem Postulat, „das
Axiom der Aufklärer um(zu)kehren,“ [36]
das „als ob es Gott gäbe“, in dem Ratzinger das moderne Verständnis der
verkürzten Würde sieht, geht es ihm darum, den Allzuständigkeitsanspruch einer
technischen Vernunft für alle politischen Belange zu unterbrechen.
Unterbrechung, darauf hatte Johann Baptist Metz hingewiesen, ist der Inbegriff
von Religion im politischen Diskurs. [37]
Die Aufgabe der Religion besteht damit einerseits darin zu verhindern, daß die
Vernunft „perfektistisch“ der Utopie von Sozialismus, Kommunismus verfällt, wie
andererseits in ihrem Anspruch, alle sozialethischen Probleme mit Hilfe einer
rein durchtechnisierten Organisation zu lösen.[38]
Damit erinnert Ratzinger an die fundamentale Bedeutung der menschlichen Würde,
wie sie „sich aus dem politisch nicht verhandelbaren, sondern stets
vorauszusetzenden Transzendenzbezug der menschlichen Person ergibt.“ [39]
Europas Kultur, so der Papst, ist das Resultat der„Begegnung von Jerusalem,
Athen und Rom“ – „der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der
philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms.“ Diese
dreifache Begegnung bildet die Identität Europas ab und sie hat „im Bewußtsein
der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der
unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen Maßstäbe des Rechts
gesetzt, die zu verteidigen uns […] aufgegeben ist.“ [40]
[1] Ratzinger, Der Gott des
Glaubens und der Gott der Philosophen, A. a. O., S. 18.
[2] A.a.O., S. 16.
[3] A.a.O., S. 28.
[4] Ratzinger, Wie weit trägt
der Konsens über die Rechtfertigungslehre?, in: IkaZ 29 (2000), S. 429.
[5] Ratzinger, Der Gott des
Glaubens und der Gott der Philosophen, Dritte Auflage, Trier 2006, A. a. O., S.
20.
[6] A.a.O., S. 22.
[7] Übersetzt: Altertümer
menschlicher und göttlicher Einrichtungen.
[8] Zu Varro: Vgl. Burkhart
Cardauns, Marcus Terentius Varro, Einführung in sein Werk, Heidelberg 2001. Vgl. Yves
Lehmann, Varron théologien et philosophe romain. Latomus, Bruxelles 1997.
[9] Wolfgang Speyer, Frühes
Christentum im antiken Strahlungsfeld, Tübingen 1989, S. 416-419.
[10] Ratzinger, Volk und Haus
Gottes in Augustins Lehre von der Kirche, St. Ottilien 1992, S. 268.
[11] A.a.O., S. 270.
[12] Ratzinger, Rede vor dem
Deutschen Bundestag. http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/rede/250244.
[13] Ratzinger, Volk und Haus
Gottes in Augustins Lehre von der Kirche, St. Ottilien 1992, S. 272.
[14] Ratzinger, Die Einheit der
Nationen, Eine Vision der Kirchenväter, Salzburg, München 2005, S. 13ff.
[15] A.a.O., S. 14.
[16] A.a.O., S. 19f.
[17] A.a.O., S. 31.
[18] A.a.O., S. 34.
[19] A.a.O., S. 58.
[20] A.a.O., S. 55.
[21] A.a.O., S. 56.
[22] A.a.O., S. 63.
[23] A.a.O., S. 64 und S. 63.
[24] A.a.O., S. 76.
[25] A.a.O., S. 95.
[26] Ebenda.
[27] Ratzinger, Der Gott des
Glaubens und der Gott der Philosophen, S. 102.
[28] A.a.O., S. 28.
[29] Ratzinger, Caritas in
veritate.
[30] Ratzinger, Rede vor dem
Deutschen Bundestag.
http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/geschichte/gastredner/benedict/rede/250244
[31] Ebenda.
[32] Ebenda.
[33] Ebenda.
[34] Ebenda.
[35] Vgl. H. Grotius, De Iure Belli ac Pacis Libri Tres,
Prolegomena, 11, 10.
[36] Ratzinger, Europa in der Krise, 82.
[37] J. B. Metz, Glaube in Geschichte
und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz
1977, 150.
[38] Vgl. zu diesem Begriff A.
Rosmini, Philosophie der Politik, hg. von C. Liermann, Innebruck-Wien 1999,
118.
[39] Markus Krienke, Der
sozialethische Beitrag Joseph Ratzingers
[40] Ratzinger, Rede vor dem
Deutschen Bundestag.
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