Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 08.05.16 |
von Thomas Berger
Wenn wir an Europa denken oder das Wort aussprechen, werden
nicht nur geographische Assoziationen hervorgerufen, sondern zweifellos auch
kulturelle. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist keineswegs bloß eine Frage
nationalstaatlicher Natur. Es geht bei diesem Thema nicht allein um
territoriale Eigenständigkeit und Sicherheit der Grenzen einzelner europäischer
Länder. Vielmehr gilt es, die aktuelle Problematik auch unter dem Blickwinkel
der Kultur, besonders der Wertvorstellungen, in Europa zu betrachten.
Mentalität, Sitten und Gebräuche europäischer Staaten und Regionen sind gewiss
unterschiedlich. Dennoch gibt es das einigende Band der gemeinsamen Geschichte.
Und zur Geschichte Europas gehört die Verwurzelung in der jüdisch-christlichen
Religion. Immer schon gab es Wanderungsbewegungen und Flüchtlingsströme, sie
sind ein fester Bestandteil der europäischen Geschichte.
Ihr geistiges Fundament hat diese Tradition in der hebräischen Glaubensurkunde,
die mit dem christlichen Neuen Testament zu einer Einheit verbunden wurde. Die
Verschmelzung der griechisch-römischen Antike mit biblischem Gedankengut prägte
dann nachhaltig die Geschichte Europas.
Von den israelitischen Urvätern Abraham, Isaak und Jakob erzählt die Bibel, sie
seien Fremdlinge im Lande Kanaan gewesen. Zudem hätten Notsituationen,
beispielsweise Hungersnöte, sie gezwungen, Zuflucht in anderen Ländern zu
suchen. Der Exodus, der Auszug aus der Sklaverei in Ägypten, sei schließlich
zum Zentralereignis der jüdischen Geschichte geworden. Das Thema der Errettung
aus schwerwiegenden Notlagen durchzieht jedenfalls die Religion bis hin zur
Theologie der Befreiung im 20. Jahrhundert. Und es hat auch säkulare Geister
bewegt, denken wir etwa an Ernst Bloch.
Wenn wir heute̶nicht selten leichtfertig − von einer Flüchtlingskrise sprechen,
dürfen wir die europäische Tradition von Flucht und Vertreibung und deren
Fundament nicht vergessen. Eine Krise ist, definitionsgemäß, der Höhepunkt
einer gefährlichen Entwicklung. Stellen Flüchtlinge den Höhepunkt einer
gefährlichen Entwicklung dar? Haben wir es, statt mit einer Flüchtlingskrise, nicht
eher mit einer kulturellen Krise, mit einer Krise der Humanität zu tun? Sollten
wir als Europäer nicht in das Bekenntnis einstimmen, das im Buch Deuteronomium
mit Blick auf den Erzvater Jakob so formuliert ist: „Unser Stammvater war ein
heimatloser Aramäer.“?
Es bleibt schließlich zu bedenken, dass nach religiösem Verständnis allen
Menschen das Los beschieden ist, Pilger zu sein. „Ich bin ein Gast auf Erden“,
bekennt Paul Gerhardt in einem bekannten Liedtext aus dem 17. Jahrhundert. Wir
sind, unabhängig davon, ob wir einen festen Wohnsitz haben oder fliehen müssen,
Fremdlinge in der Welt̶unsere Heimat, heißt es im Buch der Christen, ist der
Himmel. Das verbindet uns, darin wurzelt der Appell, Herausforderungen
anzunehmen und in solidarischem Miteinander nach Lösungen zu suchen, die allen
ein menschenwürdiges Leben ermöglichen.
Wenn wir uns dessen besinnen und uns ins Bewusstsein rufen, dass Not und Flucht
zur Signatur der europäischen Geschichte gehören, werden auch wir, wie die
Menschen vor uns, die mit den gegenwärtigen Flüchtlingsströmen fraglos
verbundenen Probleme meistern.
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Rothe 22.05.2016 21:57
Der Autor zeigt sehr überzeugend, dass hier mehr zu sagen sein muss als "Wir schaffen das". So wie dieses Schlagwort im englischen Original "Yes we can" spätestens seit 2008 bekannt ist, so auch die kulturelle Krise, in die sich die "Flüchtlingskrise" nur als Teilaspekt einfügt: Mit der Abschaffung des Leiharbeitsverbots für Asylbewerber (und geduldete abgelehnte Asylbewerber) durch das "Beschleunigungsgesetz" vom Oktober 2015 wird klar dass wir es mit einer zweiten Eskalationsstufe derselben Krise zu tun haben, die in Deutschland seit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder mit den Begriffen Leiharbeit, HartzIV und Prekarisierung der Lohnarbeit verknüft ist.