Erschienen in Ausgabe: No 124 (06/2016) | Letzte Änderung: 10.06.16 |
von Nikolaus Egel
Wir werden von Bildern überflutet – dieser Gedanke ist
selbst nur noch ein Gemeinplatz unter anderen.
Bildern in Krisenzeiten, die einen „Ausnahmezustand“
anzeigen, der nach Meinung vieler Politiker zu einem „permanenten
Ausnahmezustand“ zu werden droht. Womit wir nicht wirklich überrascht werden,
da wir an Krisen jetzt gewöhnt worden sind: Bankenkrise, Eurokrise,
Griechenlandkrise usw.
I.
Jetzt aber begegnen uns in den Bildern keine abstracta mehr, sondern: MENSCHEN.
Menschen aus aller Welt auf dem Weg zu uns. Aus einer Welt, die sich nicht
einfach so im „Naturzustand“ (um Hobbes Bild vorwegzunehmen) befunden hat,
sondern in die wir – WIR als Europäer unter Einschluß unserer transatlantischen
Freunde und Partner in den USA – sie seit Jahrhunderten, mit Nachdruck aber
seit dem vorigen Jahrhundert und seit Beginn auch dieses Jahrhunderts,
hineinmanövriert und hineingebombt haben. Es sind unsere Verträge, unsere
Ressentiments und es ist unsere Technik und „Feuerkraft“, die diesen
„Naturzustand“ hergestellt hat und der diese Menschen zu uns treibt, die nun im
Leib des LEVIATHAN, der ihre Existenz ursächlich vernichtet hat, ihre Zukunft
in einer von diesem Leviathan gesicherten Zukunft suchen. Eine Ironie der
Geschichte grenzenlosen Ausmaßes. „Mutter Merkel“, wie es zu hören war von
Flüchtlingen (und als Häme in Medien aufgegriffen), als Hort der Sicherheit.
Gegenwärtig sehen wir im TV und in den Zeitungen auf den
Titelseiten Bilder von Flüchtlingsströmen, vielen Körpern, die geordnet von
Sicherheitskräften verschiedener Staaten auf Österreich und Deutschland
zuströmen, unterbrochen von Bildern, die dieselben Flüchtlinge (Menschen,
Körper, Mengen in Massen auf dem Weg) – aufgelöst nicht in Individuen, sondern
nur in Details der Körper derselben zeigen: ihre Füße, oder Kinder im Arm ihrer
Mutter – in Matsch und Sumpf. Bilder, die Mitleid und Hilfsbereitschaft wecken.
Zugleich wecken diese selben Bilder bei denselben Betrachtern Angst: Angst vor
einem Strom von Menschen, die sie nicht kennen und vor deren Hoffnungen und
Absichten sie sich fürchten. Bei einigen unterschwellig, bei anderen ganz
deutlich und lautstark geäußert.
Wirkungsmächtig sind diese Bilder allemal. Gewöhnt an
ZDF-History oder Bildern aus Abend-Serien zur freundlichen bildungsbürgerlichen
Entspannung wie „Imperium“ meinen wir, Bilder der Völkerwanderung, Goten auf
dem Weg in das Römische Reich zu sehen, nur ohne die besänftigende Stimme
Maximilian Schells, die uns – weil vergangen – einen guten Ausgang der Sache in specie aeternatitatis verspricht: Gut
nur, weil vergangen. Die Bewohner der Provinz Raetien werden den Ansturm der
Bajuwaren nicht ebenso empfunden haben, auch die Einwohner der Provinz Dacia
nicht das Versagen der römischen Behörden nach dem von Kaiser Valens 369
erlaubten Übertritt der Goten über die Donau in das Reich, das schließlich zur
Verwüstung ihrer Provinz und am Ende zum Untergang des Reiches führte.
Nur begleitet uns nicht die sanfte Stimme von Maximilian
Schell und sein freundliches von der Leinwand oder vom Theater gewohntes
Gesicht, sondern die in anderen Zusammenhängen trainierte Stimme und gebrochene
Rhetorik von Angela Merkel, die – wie vielleicht auch Kaiser Valens auf der
berühmten Begegnung mit dem Gotenfürsten Athanarichauf der Donau – sagt: „Wir schaffen das.“
Und uns damit in ihre politische und unsere
Lebens-Gegenwart katapultiert. In der wir (wer ist das „WIR“? Die Gesellschaft,
der Staat, die Behörden, die Bürokratie, die politische Elite?) nicht so sicher
wissen, ob wir es „schaffen“ werden. Mit jedem lächelnden „Syrier“, der im TV
sagt, daß er nach „Germany, the best Land oft he world“ will, und mit jedem
Krawall weniger. Und auch mit Frau Merkel nicht, die im Interview mit Frau Will
sagt, daß sie einen Plan nur geben könne, wenn sie ihn hätte, um nach einer
Pause in Parenthese zu sagen: „Ja, ich habe einen.“ Nur: Sie nennt ihn nicht.
Hat sie ihn? Hatte Kaiser Valens ihn? Sie spricht wie er von einer „Politik der
offenen Grenzen“. Wie er gedacht haben wird, sagt sie: „Es liegt nicht in
unserer Macht, wie viele zu uns kommen.“ Aber sie sagt in dem Interview mit
Frau Will vom 7. Oktober auch: „Es bedarf einer Ordnung.“
II.
Damit sind wir bei einem anderen wirkmächtigen Bild, einem
Bild der Ordnung: dem des Leviathan,
dem Frontispiz auf Thomas Hobbes „Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines
kirchlichen oder bürgerlichen Staates“ (1651), dessen Gestalt und Hände von
über dreihundert Körpern gebildet wird. Viele haben dazu geschrieben. Zuletzt
in Erinnerung vielleicht Carl Schmitt (Der Leviathan in der Staatslehre des
Tomas Hobbes, Hamburg-Wandsbeck 1938) wie Horst Bredekamp (Thomas Hobbes. Der
Leviathan. Das Urbild des modernen Staates und seine Gegenbilder. 1651 – 2001,
Berlin 2003),eine lucide
Auseinandersetzung mit dem Frontispiz und den Weiterungen aus ihm wie dem Text.
Beide Bücher seien herzlich zur Lektüre empfohlen.
Während aber die Blicke der aus aller Welt zu uns
Flüchtenden nach vorne auf ihre imaginierte Hoffnung, auf ihre Füße und ihren
Weg oder ihre Kinder gerichtet sind – oder in Einzelfällen des Interviews in
die Kamera und damit auf uns, die wir sie mehr oder weniger ungerührt am TV betrachten
- , sind die Blicke der Personen, die den Körper des Leviathan bilden, auf den
Kopf des Leviathan gerichtet, der wiederum uns aus dem Titelblatt anschaut.
Bredekamp schreibt dazu: „Der widersprüchliche Charakter des Staatskörpers,
Produkt der Menschen zu sein, die sich ihm unterwerfen, äußert sich bereits im
Wechselspiel der Blickformen zwischen den Bürgern, dem Leviathan und dem
Betrachter.“ (S. 15 f.)
Damit aber sind wir bei zumindest zwei weiteren Fragen:
„Staatskörper“, „Bürger“? Trifft das hier und heute noch zu? Hat es zur Zeit
Hobbes´ zugetroffen? Oder sollten wir mit dem „Bürger“ heute den aus seinem
zerstörten Staat flüchtenden Menschen als nunmehrigen „Weltbürger“ , mit dem
Leviathan vielleicht den globalisierten „Weltstaat“ imaginieren? Und was würde
das für uns bedeuten, die wir uns heute noch als „Bürger“ in glückseligem (mehr
oder minder) Vertrauen in „unseren“ Staat wähnen? In einer Welt des ewigen „War
against terror“ um uns herum? Mithin in einem „ewigen Ausnahmezustand“,
proklamiert von der gegenwärtigen Supermacht schlechthin, den USA?
III.
Dazu ein Blick auf Hobbes “sehr verrufenes Werk“, das
(weiter nach Hegel) „über die Natur der Gesellschaft und der Regierung
gesündere Gedanken, als zum Teil noch im Umlauf sind“ enthält unddas er auf Grund eben der Angst vor einem
ewigen Bürgerkrieg in seinem Heimatland schrieb, in einer Zeit, in der der
Dreissigjährige Krieg mit dem Westfälischen Frieden 1648 gerade erst mit der
Erschöpfung zumindest der Territorien des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation“ zu seinem Ende gekommen war. Eine Erschöpfungs-Angst, die zumindest
einige Kolumnisten dieser Tage auch wieder zu schüren meinen müssen.
Hobbes´ Leviathan
ist ein hypothetisches Konstrukt eines Staatsgebildes, das er zum Wohl des
Lebens der einzelnen Bürger entworfen hat. Auch wenn seine Schlussfolgerung,
dass nur eine starke Autorität wie die seines Leviathan-Souveräns dieser
Konstruktion Dauerhaftigkeit verbürge, für seine Zeitgenossen wie für uns so
nicht naheliegt, so gewinnt uns doch sein emanzipatorischer Impetus wie seine
Radikalität des Vertrauens in die Möglichkeiten der Vernunft, die ihn hoffen
lässt, dass den Menschen gelingen könnte, nachdem sie begonnen hatten,
„unvollkommene, zum Rückfall in Unordnung neigende Staaten zu errichten, durch
eifriges Nachdenken Vernunftprinzipien“ auszumachen, „um ihre Verfassung
dauerhaft zu machen“.
Er entwirft dazu als ein artefactum gegen die menschliche Natur, in der für ihn die drei
hauptursächlichen Konfliktursachen gegründet sind: Konkurrenz, Misstrauen,
Ruhmsucht, den Staat als eine künstliche Konstruktion.
In aller Deutlichkeit muss darauf hingewiesen werden: Der
Staat, die Ordnung und der Friede, den die Menschen suchen, muss Hobbes zufolge
– und wer will das heute abweisen – gegen den Menschen und seine natürlichen
Neigungen durchgesetzt werden.
Anhand der Erfahrung sowohl der Relativität wie der
Volatilität von Glaubenssätzen und ihrer Verschränkung und Korrespondenzen mit
ökonomischen und politischen Forderungen und Erwartungen sowie den verheerenden
Folgen von deren Durchsetzung, versucht Hobbes im Interesse der Bürger die
Befriedung dieser Konflikte durch die neue Bedeutung des Politischen als
eigenen Sektor des herrschaftlichen Verhältnisses erkennbar zu machen und
spekulativ-methodologisch zu begründen. Dazu rechtfertigt und begründet er die
nahezu unbegrenzte Macht der staatlichen Souveränität über den Bürger. (Eine
Macht, die heute wohl von den Bürgern zunehmend als weniger politisch
verpflichtend begriffen wird, was sich vielleicht auch in der zunehmend
sinkenden Wahlbeteiligung deutlich macht, die die Berufspolitiker dann
regelmäßig nach den Wahlen beklagen und gegen die sie jetzt mit der Aufstellung
der Wahlurnen in Supermärkten kämpfen wollen: als wäre die absinkende Wahlbeteiligung
einem Zeitproblem der Wahlbürger geschuldet und nicht vielmehr einem
Akzeptanzverlust des „Leviathans“, zu dem halt keiner mehr „aufschaut“, um im
Bild des Frontispiz von Hobbes Leviathan zu bleiben.)
Das Bild dieses Staates und sein Herangehen an seine
Darstellung beschreibt Hobbes überwältigend in seiner Einleitung zum Leviathan:
„Die Natur (das ist die Kunst, mit der Gott die Welt gemacht hat und lenkt)
wird durch die Kunst des Menschen wie in vielen anderen Dingen so auch darin
nachgeahmt, daß sie ein künstliches Tier herstellen kann. (…) Die Kunst geht
noch weiter, indem sie auch jenes vernünftige, hervorragendste Werk der Natur
nachahmt, den Menschen. Denn durch die Kunst wird jener große Leviathan
geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch, wenn
auch von größerer Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung
er ersonnen wurde. Die Souveränität stellt darin eine künstliche Seele dar, die
dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt, die Beamten und andere Bediensteten
der Jurisdiktion und Exekutive künstliche Gelenke, Belohnung und Strafe, die
mit dem Sitz der Souveränität verknüpft sind und durch die jedes Gelenkund Glied zur Verrichtung seines Dienstes veranlaßt
wird, sind die Nerven, die in dem natürlichen Körper die gleiche Aufgabe
erfüllen. Wohlstand und Reichtum aller einzelnen Glieder stellen die Stärke
dar, salus populi (die Sicherheit des
Volkes) seine Aufgabe; die Ratgeber, die ihm alle Dinge vortragen, die er
unbedingt wissen muß, sind das Gedächtnis, Billigkeit und Gesetze künstliche
Vernunft und künstlicher Wille; Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit
und Bürgerkrieg Tod. Endlich aber gleichen die Verträge und Übereinkommen,
durch welche die Teile dieses politischen Körpers zuerst geschaffen,
zusammengesetzt und vereint wurden, jenem „Fiat“ oder „laßt uns Menschen
machen“, das Gott bei der Schöpfung aussprach. Um die Natur dieses künstlichen
Menschen zu beschreiben, möchte ich untersuchen: Erstens, Werkstoff und Konstrukteur; beides ist der Mensch. Zweitens, wie und durch welche Verträge
er entsteht, was die Rechte und die gerechte Macht oder Autorität eines
Souveräns sind, und was ihn erhält oder auflöst.“ (Hobbes, Leviathan, Hamburg
1996, S. 5 f.)
Hier liegen alle Themen Hobbes´ und seines Staatsentwurfes in nuce vor. Selten ist eine Einführung
in ein Werk und eine so glänzende Darstellung der nachfolgenden Inhalte in so
zwingender Gewalt geschrieben worden.
Hobbes in diesen Tagen immer wieder einmal zu lesen, kann
nur dringend empfohlen werden. Sowohl unseren Politikern wie auch ihren
Kritikern, insbesondere denen, die lautstark auf der Straße gegen sie pöbeln:
„Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit und Bürgerkrieg Tod.“ Wollen wir
daran deutlich erinnern.
Denn womöglich brauchen wir den Staat, den Leviathan, der
das Schwert in seiner Rechten hält, wie in dem wirkungsmächtigen Frontispiz zu
seinem Leviathan gezeichnet: „Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit,
Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere
so zu behandeln wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne
die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlaßt, unseren natürlichen
Leidenschaften entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht
und Ähnlichem verleiten. Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und
besitzen nicht die Kraft, einem Menschen nur die geringste Sicherheit zu
bieten.“ (Hobbes, 17. Kapitel, a.a.O., S. 131.)
IV.
Widmen wir uns noch kurz – kürzer als es der Stoff, den
Hobbes uns bietet, eigentlich erlaubt – dem zweiten Punkt seiner Erörterung:
„Wie und durch welche Verträge er (der Staat) entsteht, was die Rechte und die
gerechte Macht oder Autorität eines Souveräns sind, und was ihn erhält oder
auflöst.“
Da bei Hobbes bürgerliches oder staatliches Recht aus dem
„Naturrecht“ eines von ihm konstruierten „Naturzustandes“ abgeleitet und mit
dem Entstehen des Staates auf den Souverän übertragen wird, soll auf die
Hobbessche Konstruktion der Entstehung des Staates eingegangen werden: Der
Staat entsteht im Hobbesschen Modell anhand der Rechtsübertragung des
natürlichen Rechts von Privatpersonen im Naturzustand durch einen fiktiven
Vertrag auf einen Dritten – den Souverän.
Man kann das Naturrecht als Recht charakterisieren, das
jemand im Naturzustand hat. Der Naturzustand ist der zentrale
Operationalisierungsmechanismus des Hobesschen Staats- und Rechtsentwurfs. Er
ist, um ihn kurz zu charakterisieren, ein vorstaatlicher Zustand (er ist der
„Zustand des Menschen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft“ – so der Titel
des ersten Kapitels von Hobbes „Vom Bürger“), in dem die Menschen ein
unangenehmes Leben führen und sich in einem ständigen Kriegszustand befinden.
Der Mensch strebt aber Hobbes zufolge, solange er lebt,
nach Glück, das in seinem Menschenbild für ihn allein im Fortschreiten von
einer Begierde zur nächsten zu erreichen ist. Das Mittel, um diese Begierde
aktuell und in Zukunft zu befriedigen, ist Macht: sowohl angeborene natürliche Macht
als auch erworbene zweckdienliche Macht. So ist das Leben im Naturzustand
nichts anderes als „ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer
Macht“, wie er im Leviathan schreibt. In Folge dessen „herrscht … beständige
Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam,
armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“.
Der Naturzustand bildet die Negativfolie, der gegenüber der
Staat bei Hobbes als positiver Ausweg gedacht werden kann. Denn der Krieg aller
gegen alle und die mit ihm einhergehende Gefahr für Leib und Leben lässt das
Verlangen nach Frieden und Sicherheit entstehen.
Dieses Recht auf die Erhaltung des eigenen Lebens und damit
auf alles, was dieser Selbsterhaltung dienlich ist, bezeichnet Hobbes als
natürliches Recht: „Das natürliche Recht, in der Literatur gewöhnlich jus naturale genannt, ist die Freiheit
eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner Natur,
das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er
nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste
Mittel ansieht.“ Und an anderer Stelle schreibt er m Leviathan: „Freiheit
bedeutet genau genommen das Fehlen von Widerstand, wobei ich unter Widerstand
äußere Bewegungshindernisse verstehe.“
Das natürliche Recht eines jeden Individuums im
Naturzustand ist demnach seine uneingeschränkte Freiheit. Da alle im
Naturzustand ein Recht auf alles haben, folgt, dass nichts ungerecht genannt
werden kann, ja mehr noch: Die persönliche uneingeschränkte Freiheit führt
geradewegs zum Kriegszustand. Die einzige Möglichkeit, diesem Zustand zu
entgehen, ist das Vernunftgebot, Frieden zu suchen, indem man die Bedingungen
des Naturzustandes ändert. Dieses Gebot der Friedensbereitschaft formuliert Hobbes
als natürliches Gesetz, als „eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder
allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein
Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann“. Und er
schreibt – als zweites natürliches Gesetz - weiter: „Jedermann soll freiwillig,
wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten,
soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig
hält, und er soll sich mit so viel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben,
wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde.“
Von Bedeutung ist, dass Hobbes an dieses zweite Gesetz die
Bedingung knüpft, dass das natürliche Gesetz niederzulegen und nicht
beizubehalten sei. Diese Rechtsniederlegung wird von Hobbes – und das ist
zentral – entweder als Verzicht oder als vertragliche Rechtsübertragung
verstanden: „Ein Recht wird niedergelegt, indem man entweder einfach darauf
verzichtet oder es auf einen anderen überträgt.“ Die wechselseitige
Rechtsübertragung funktioniert mittels eines Vertrages, der hier so gedacht
ist, daß alle mit allen einen Vertrag schließen. Erst von diesem Akt her kann
man überhauptvon einem Gemeinwesen und
fixierbaren Recht sprechen, das durch den Vertrag gesetzt worden ist. Um es
deutlich zu sagen: Recht wird erst durch den Vertrag gesetzt.
Aus diesem Grundsatz folgt das dritte natürliche Gesetz:
„Abgeschlossene Verträge sind zu halten.“ Und: „So liegt also das Wesen der
Gerechtigkeit im Einhalten gültiger Verträge. Aber die Gültigkeit von Verträgen
beginnt erst mit der Errichtung einer bürgerlichen Gewalt, die dazu ausreicht,
die Menschen zu ihrer Einhaltung zu zwingen, und mit diesem Zeitpunkt beginnt
auch das Eigentum.“
Um diese gegenseitige Rechtsübertragung und die Einhaltung
der Verträge auch abzusichern, durchsetzbar und auch für die Zukunft gültig zu
machen, braucht es in Hobbes Logik und nach seinem Bild vom Menschen eine
absolute Zwangsgewalt, denn wie die Menschen auf Grund der Furcht voreinander
aus dem Naturzustand heraustretenwollen, so werden sie sich auch nur „aus Furcht vor einer üblen Folge
des Wortbruchs“ an den geschlossenen Vertrag halten. Diese Zwangsgewalt darf
kein Partner des Vertrages sein.
Hierfür konstruiert Hobbes im Rückgriff auf die spätrömische
Antike (Boethius: persona est
rationabilis naturae individua substantia) das Konzept der „politischen
Person“, um so die begriffliche Möglichkeit zu schaffen, die Rechtsübertragung
vieler einzelner Willen auf eine Gewalt darstellbar zu machen: „Hierin liegt
das Wesen des Staates, der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei
der sich jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines
jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zweck, daß sie
die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den
Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt. Wer diese Person verkörpert,
wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt, und jeder
andere daneben ist Untertan.“
Der Souverän hat absolute Verfügungsgewalt über die
Untertanen, da er und die Untertanen – so denkt es Hobbes und so hat er es in
seinem Titelkupfer stechen lassen – eine Person sind. Zentral für diese
Rechtskonzeption ist die Zustimmung resp. Rechtsüberweisung durch die
Untertanen, der Akt der Autorisation. Die Etablierung des Herrschaftsrechts ist
für Hobbes nur durch die vertragliche Selbstbindung der Individuen zu
bewerkstelligen. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Durch Autorisierung
macht sich jedes Element der Menge der Vertretenen zum Autor der Handlung der
„künstlichen Person“, des Souveräns.
Doch was geschieht Untertanen, die keine Lust darauf haben,
sich regieren zu lassen und die das Recht des Souveräns nicht anerkennen, die
nicht das tun wollen, „was seinem Urteil zufolge die Menschen zumeist zum
Dienst am Staat ermuntert“? Darauf hat Hobbes eine radikale, aber in der Logik
seiner Konstruktion nur folgerichtige Antwort: „Da die Mehrzahl übereinstimmend
einen Souverän ernannte, hat derjenige, welcher dagegen stimmte, nunmehr mit
den übrigen übereinzustimmen, das heißt, sich mit der Anerkennung aller
zukünftigen Handlungen des Souveräns zufriedenzugeben, oder aber er wird
rechtmäßig von den übrigen vernichtet.“
Dies gilt dann im Folgenden auch für Bürger anderer Staaten
in Folge von Okkupation und Unterwerfung: „Sie ist die Herrschaft des Herrn
über seinen Knecht. Und diese Herrschaft erwirbt sich der Sieger dann, wenn der
Besiegte, um der bevorstehenden Tötung zu entgehen, entweder durch ausdrückliche
Worte oder andere ausreichende Willenszeichen vertraglich übereinkommt, daß
solange ihm Leben und körperliche Freiheit zugestanden werden, der Sieger nach
Belieben daraus Nutzen ziehen darf. (…) Deshalb verleiht nicht der Sieg das
Herrschaftsrecht über den Besiegten, sondern dessen eigener Vertrag …, weil er
damit einverstanden ist und sich dem Sieger unterwirft.“
Was hier zum Ausdruck kommt, ist allein das Recht des
Stärkeren. Recht bekommt Hobbes zu Folge derjenige, der die Macht hat, sein
Recht durchzusetzen, wer die Macht hat, Herr über seine Knechte zu sein. Wenn
sich diese aus Angst vor den Konsequenzen nicht wehren, haben sie der
gewaltsamen Aneignung still zugestimmt.
Für Gegner dieser Denkweise – die sich auch bald meldeten –
hatte Hobbes vorab folgendes parat: „Sie bedenken nicht, daß der Zustand der
Menschen nie ohne die eine oder andere Unannehmlichkeit sein kann, und daß die
größte, die in jeder Regierungsform dem Volk gewöhnlich zustoßen mag, kaum
fühlbar ist, wenn man sie mit dem Elend und den schrecklichen Nöten vergleicht,
die ein Bürgerkrieg oder die Zügellosigkeit herrenloser Menschen ohne
Unterwerfung unter Gesetze und unter eine Zwangsgewalt, die ihre Hände von Raub
und Rache abhält, mit sich bringen.“ Eine Überlegung, die uns auch Asinius
Pollio, einer von Caesars Generalen, in seinen wenigen erhaltenen Reflexionen
nahebringt: „Jeder, auch der unwürdigste, Frieden sei besser, als ein
Bürgerkrieg.“
Um dem zu entkommen – und dies war die große Angst von
Thomas Hobbes, der ihn erlebt hatte – sollten sich die Menschen lieber unter
die Herrschaft des von ihm konstruierten Souveräns begeben: des Leviathan, den
sie selbst geschaffen haben und in den sie inkorporiert sind, der sie am Ende
selbst in ihrer Gemeinschaft sind.
V.
Übrig und frei ließ Hobbes die Bürger aber in der „Freiheit
des Kaufs und Verkaufs oder anderer gegenseitiger Verträge, der Wahl der
eigenen Wohnung, der eigenen Ernährung, des eigenen Berufs, der
Kindererziehung, die sie für geeignet halten und dergleichen mehr.“ Ebenso
begnügte er sich in Glaubens- und Meinungsfragen mit einem Unterwerfungsgestus,
ohne auf „Gewissenserforschung“ oder „Gewissensunterwerfung“ zu bestehen.
Die letzte und abschließende Freiheit genießt der Bürger
bei Hobbes beim Zusammenbruch des Staates. Der Untertan wird wieder frei.
Sollte der Souverän die Machtmittel nicht mehr haben, seine Untertanen gegen
äußere oder innere Feinde zu schützen, so ist der Vertrag erloschen und sind
die Untertanen ihrer Verpflichtung ledig. Alle sind wieder frei, sich loyal in
die Obhut eines neuen Souveräns zu begeben: „Denn ein Schutzloser darf überall
Schutz suchen … ist aber die Macht einer Versammlung einmal beseitigt, so
erlischt auch ihr Recht völlig, da die Versammlung selbst aufgehoben ist und
die Souveränität folglich nicht zurückkehren kann.“
VI.
Damit sind wir wiederam Anfang und der Angst erregenden Gegenwart angelangt. Angst erregend
ist die Gegenwart wohl immer - nur haben wir es nicht empfunden, da wir während
des „Kalten Krieges“ die Gnade eines langanhaltenden Friedens zumindest in
unserer Region Europa unter den jeweiligen atomaren „Schutzschirmen“ der
jeweiligen Großmächte hatten. Die Generationen vor uns – nehmen wir nur zwei:
die unserer Väter und Großväter, Mütter und Großmütter-haben es noch anders erlebt. Ohne uns in Diskussionen zu
Horkheimer/Adornos Dialektik der Aufklärung, in Carl Schmitts
Veröffentlichungen zu Hobbes´ Leviathan, die Zeitgenossen der Kriege und
Verwerfungen dazwischen waren,oder zu
Giorgio Agambens oder Negris Schriften eingelassen zu haben, sind wir einfach
durch die aktuelle Geschichte und ihr Miterleben betroffen und auf das Äußerste
verstört. Jeden Tag mit jeder Zeitung und ihren Bildern neu, jeden Abend mit
den ewig gleichen Bildern von Flüchtlingen im TV neu und immer wieder gleich
betroffen und hilflos.
Am Ende stimme ich unserer Bundeskanzlerin, Angela Merkel,
zu, die in dem eingangs genannten Gespräch mit Frau Will ihre Hilflosigkeit für
uns alle bekannt hat: „Ich weiß nicht, was morgen ist … ich weiß es auch nicht.“
„Sie können die Grenzen nicht schließen … es gibt den Aufnahmestopp nicht.“
Vielleicht mit Kaiser Valens vor gut 1 700 Jahren einig:
Was würden wir an widerwärtigen Handlungen befehlen müssen, um diesen Menschen
den Zugang zu unserem Land und Reichtum zu verwehren! Nachdem wir in
Jahrhunderten – und seit 20 Jahren aktuell und brutal - ihren Lebensraum
zerstört haben? Könnten wir diese Bilder dann ertragen? Das Problem der Bilder
hatte Kaiser Valens nicht. Er hat sich aus militärischer Opportunität – und
vielleicht als Christ – so entschieden, wie er es tat. Vielleicht auch Frau
Merkel?
Ich würde es ihr gerne zurechnen: „Was ihr den Geringsten
getan habt, das habt ihr mir getan.“
Der Hobbessche Souverän (als Brite) hatte dieses Problem
nicht. Hobbes war zwar auch Europäer, aber im Eigentlichen galt seine
Aufmerksamkeit einem begrenzten Inselreich und dessen Bürgerkriegen bzw. deren
Befriedung und Hegung.
Der LEVIATHAN ist im Alten Testament ein Seeungeheuer, das
Hobbes wohl mit Bedacht ausgewählt hat (ohne jetzt auf die ausgebreitete
Diskussion dazu eingehen zu wollen), dem BEHEMOTH als Landtier – dargestellt
als Stier - gegenübersteht. Diese mythischen Bilder weiterzuverfolgen bis in
ihre heutigen geopolitischen Konsequenzen wollen wir uns jetzt versagen. Daß es
sie gab und gibt sei hier damit nur angedeutet – und daß sie aktuell
auszudeuten reizvoll wäre, auch.
Bleiben wir bei Hobbes. Er wollte einen Bürgerkrieg durch
Ratio einhegen und künftig vermeiden.
Heute haben wir nun einen Weltbürgerkrieg zum Teil mit
Partisanen, verursacht durch Staaten, die kurzfristigen Gewinn daraus erhofften
und sich vielleicht der Langzeitwirkungdaraus nicht bewußt waren und sich der Verpflichtungen daraus nun zu
entziehen suchen. Die Schutzsuchenden aus den Regionen dieser Kriege kommen nun
zu uns. Wir müssen sie zwangsläufig aufnehmen.
Der Große Kurfürst gründete die Gewerbe in Brandenburg –
Preussen neu mit hugenottischen Flüchtlingen und stellte ein Monument der
Toleranz auf in seinen vom Dreissigjährigen Krieg verheerten Ländern, dito sein
so oft als „Soldatenkönig“ verkannter Enkel, der zur „Peuplierung“ seiner Lande
auch Flüchtlinge rief und über Moslems sagte: „Wenn sie denn kämen, ich wollte
ihnen Moscheen bauen.“ Ebenso sein Sohn, der Große Friedrich, dessen Wort, daß
in seinem Reich jeder nach seiner Façon selig werden könne, zwar gegen den
Papst gerichtet war, aber doch ein Wort der Toleranz war.
Bleiben wir bei unserer Geschichte und sowohl bei unserer
europäischen Ratio wie bei dem, was wir gerne als unser christliches Erbe
heraufrufen, versuchen wir, es zu verbinden und nicht im ersten Schrecken zu
vergessen: Mit Hegel ist „das, was vernünftig ist, wirklich. Und das, was
wirklich ist, ist vernünftig“.
Die Liebe aber ist das höchste von allem.
Das steht nun nicht bei Hobbes, sondern dies hat der
Apostel Paulus uns vermittelt. Und Augustinus schrieb: „Dilige et quod vis
fac.“
Vielleicht ist dies heute das Gebot der Stunde und
Wegweiser in eine vielleicht gelingende Zukunft für uns alle. Und Angela Merkel
hat mehr Mut bewiesen und sich mehr als Europäerin erwiesen als alle ihre
verzagten Kritiker, auch wenn sie „stark im Bestehen sich wähnen“.
Und gegen alles schnell geäußerte Raisonnement gegen eine
als planlos gesehene Regierungspolitik rascher Humanität, wollen wir die
Kritiker und sorgenvolle Zeitungsleser daran erinnern, dass die dieser Tage so
viel gescholtene Bundeskanzlerin früher ebenso oft als „Physikerin der Politik“
gelobt wurde, die Politik wie ein Experiment in einem Labor betriebe. Ob das
nun stimmt oder nicht: Wenn es so sein sollte so ist sie sich in diesem Geist
des Experimentes und der künstlichen Experimentalanordnung Hobbes näher, als
ihre Kritiker, denn Hobbes als Sekretär des großen Liebhabers des Experiments
und Lordkanzlers Francis Bacon hat auch sein Staatskonstrukt und seinen
Souverän gleichsam als Uhrwerk und äußerst artefizielle Maschine nach Galileis
Methode der Resolution und Komposition entworfen. Er schreibt: „Zeit und Arbeit
bringen alle Tage neue Erkenntnisse hervor. Die Kunst, (…) gut zu bauen, wurde
aus Vernunftprinzipien entwickelt, die tüchtige Menschen erkannten (…) Genauso
können lange, nachdem die Menschen begonnen hatten, unvollkommene, zum Rückfall
in Unordnung neigende Staaten zu errichten, durch eifriges Nachdenken
Vernunftprinzipien ausgemacht werden, um ihre Verfassung dauerhaft zu
machen.“
Und schließlich wollen wir noch einmal Hobbes Titelkupfer
des LEVIATHAN in Erinnerung rufen, mit dem wir begonnen haben und über dessen
Haupt der Vers aus dem Buch Hiob steht: „Keine Macht auf Erden, die ihm zu
vergleichen ist.“ In seiner Rechten hält er das Schwert, in seiner Linken aber
streckt er den Bischofsstab über die Erde und die Stadt, die im Bild zu sehen
ist. Und wie Symbole der weltlichen Macht unter dem Schwert angeordnet sind, so
die der geistlichen Macht unter dem Bischofsstab. Der Mittelteil aber ist mit
einem Vorhang verhüllt, das an velum der Stiftshütte wie an den Vorhang vor dem
Allerheiligsten im Jerusalemer Tempel erinnert.
Bauen wir auf die Kraft dieses verborgenen Arkanums und auf
die des Bildes, in dem wir selbst als Staatskörper abgebildet uns sehen können:
„Non est potestas Super terram quae Comparatur ei!“ Einfach gesagt, um starke
Worte zu meiden: „Wir schaffen es!“
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