Erschienen in Ausgabe: No 124 (06/2016) | Letzte Änderung: 10.06.16 |
von Hugo Müller-Vogg
Wir haben alles im Griff, verkündet die Bundesregierung seit
Wochen. Flüchtlingskrise? Das war angeblich einmal. Es kommt angeblich ja kaum
noch jemand. Was Regierungssprecher Steffen Seibert regelmäßig als großen
Erfolg verkauft, wird von Lautsprechern wie CDU-Generalsekretär Peter Tauber
zusätzlich verbreitet: Leute entspannt euch. Die Kanzlerin hat’s geregelt – mal
wieder.
Das schöne Bild wird freilich durch nicht so schöne Zahlen
konterkariert. In den ersten vier Monaten hat das Bundesamt für Migration und
Flüchtlinge (BAMF) knapp 200.000 neue Flüchtlinge registriert, also
Asylbewerber, Schutzsuchende nach der Genfern Konvention und illegale
Migranten. So berichtet es das Redaktionsnetzwerk Deutschland. Knapp 200.000 –
das hört sich beruhigend an gegenüber mehr als einer Million im Jahr 2015. Man
kann es aber auch nüchtern sehen: Zwischen Januar und April 2016 sind genauso
viele Flüchtlinge gekommen wie im ganzen Jahr 2014. Damals waren es 203.000,
die höchste Zahl seit dem Balkankrieg Anfang der 1990er-Jahre. Und schon im
Jahr 2014 hatten wir eine veritable Krise.
Hält dieser Trend an, dann müssen wir – hochgerechnet auf
das ganze Jahr 2016 – mit 600.000 Flüchtlingen rechnen. Das wäre dann eine
Verdreifachung gegenüber 2014. Und das trotz der von der Bundesregierung
kritisierten Schließung der Balkan-Route und ungeachtet des Abkommens der EU
mit der Türkei, von dem niemand weiß, wie lange es hält. Selbst wenn wir nur
den Zugang im April – 26.000 neu registrierte Flüchtlinge – hochrechnen, müssen
wir bis Ende des Jahres nochmals mit mehr als 200.000 Neuankömmlingen rechnen.
Man kann, wenn man will, alles relativieren. Aber die
regierungsamtlichen und großkoalitionären Schönrechner können zweierlei nicht
leugnen. Dass wir – erstens – Ende Mai 2016 noch immer nicht wissen, wie viele
Flüchtlinge 2015 tatsächlich ins Land gekommen sind, ob sich zusätzlich zu der
gut einen Million weitere 200.000 oder 400.000 unregistriert und illegal hier
aufhalten. Das in einem Land, wo die Zahl der Legehennen ebenso genau
statistisch erfasst wird wie die der Nebenerwerbs-Winzer. Und dass – zweitens –
niemand sagen kann, wie viele nicht erfasste Migranten in diesem Jahr
zusätzlich zu den 200.000 gekommen sind. Diese Gruppe der Illegalen belastet
zwar unsere Sozialsysteme nicht. Aber offenbar können diese Menschen hier ihren
Lebensunterhalt bestreiten – wie auch immer.
„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Philosophen mögen sich an
diesem Satz des Sokrates begeistern. In der Politik ähnelt amtliches
Nichtwissen jedoch einem Offenbarungseid.
Veröffentlicht in „Tichys Einblick“ vom 22. Mai 2016
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