Erschienen in Ausgabe: No 125 (07/2016) | Letzte Änderung: 30.06.16 |
von Hugo Müller-Vogg
„Ein Gespenst geht um in Europa.“ Aber anders als 1848 von
Karl Marx beschworen ist es zurzeit nicht der Kommunismus, der den einen
Hoffnung geben und die anderen in Angst und Schrecken versetzen soll. Nein, 168
Jahre später ist es der Rechtspopulismus, der den etablierten
christlich-demokratischen, konservativen und sozialdemokratischen Parteien den
Angstschweiß auf die Stirn treibt, sie Stimmen kostet und manchen zu panischen
Reaktionen verleitet.
Der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der AfD bei den Landtagswahlen und
das sensationell gute Abschneiden der FPÖ bei den österreichischen
Präsidentschaftswahlen lässt bei den Großkoalitionären in Berlin die
Alarmglocken schrillen. Schließlich waren die Erfolge der deutschen
Rechtspopulisten bei den März-Wahlen in Baden-Württemberg verbunden mit dem
Absturz der CDU und der Marginalisierung der SPD im Südweststaat wie in
Sachsen-Anhalt. Auch wenn sich Geschichte nie im Maßstab eins zu eins
wiederholt, so gibt es dennoch Parallelen. Nach der ersten Großen Koalition
(1966-69) schaffte es die NPD fast ins Parlament. Am Ende der zweiten Groko
(2005-09) brachten es Union und SPD zusammen nur noch auf 57 gegenüber 70
Prozent bei der Wahl 2005. Wenn jetzt gewählt werden würde, müssten sich
CDU/CSU und SPD mit zusammen zirka 52 bis 54 Prozent bescheiden, ein Minus von
rund 15 Punkten gegenüber September 2013.
Österreich als
Menetekel
Dass Große Koalitionen die Ränder stärken und die Mitte
schwächen, ist eben nicht nur eine Lehrbuchweisheit. Beim Blick nach Österreich
muss man noch hinzufügen: Je länger Große Koalitionen dominieren, umso stärker
wird die Mitte ausgehöhlt. In den 71 Jahren seit 1949 ist Österreich 37 Jahre
lang von Schwarz-Rot oder Rot-Schwarz regiert worden. Begonnen hatten die
christlich-konservative ÖVP und die sozialdemokratische SPÖ mit zusammen mehr
als 90 Prozent. Von da an ging es bergab: 2013 kamen sie noch auf 51 Prozent.
Und wer glaubte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, wurde bei den
Präsidentschaftswahlen eines Schlechteren belehrt: Für die Kandidaten der
beiden „Großen“ stimmte gerade noch jeder fünfte Wähler (zusammen 22 Prozent).
Berlin ist nicht Wien. Wenn dort zwei ehemals starke Parteien zwischen
National-Konservativen mit völkischem Unterton und modischen Grünen zerrieben
werden, muss das nicht automatisch auch hierzulande so kommen. Aber eine
Warnung sollte Österreich für die Noch-Volksparteien CDU, CSU und SPD schon
sein. Schließlich sind der Niedergang der christlich-konservativen und der
Aufstieg rechtspopulistisch bis rechtsradikaler Kräfte ein europaweites
Phänomen. Die Zeiten, dass – unabhängig vom Auf- und Abtauchen linker und
rechter Exoten – letztlich „die Mitte“ gewinnt, sind vorbei. Hatte Ralf
Dahrendorf in den 80er-Jahren das „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“
ausgerufen, so scheint jetzt in ein neues national-konservatives,
rechtspopulistisches Jahrhundert anzubrechen. Jedenfalls befinden sich
europaweit Parteien im Vormarsch, die auf der Links-rechts-Skala viel weiter
von der CDU entfernt sind als diese von der SPD.
Nationalisten
gewinnen in ganz Europa
In Frankreich hat Marine Le Pen vom nationalistischen
„Front National“ gute Chancen, Präsidentin zu werden, in den Niederlanden liegt
die „Partei für die Freiheit“ mit Geert Wilders in den Umfragen auf Platz eins,
in Großbritannien verhindert bisher nur das Mehrheitswahrecht, dass die „UK
Independence Party“ mit Nigel Farange den Konservativen den Weg zur Mehrheit
verbaut. Bei den Europawahlen 2014 hatte sie „Labour“ und die „Tories“ hinter
sich gelassen.
Selbst im einst sozialdemokratischen Skandinavien sind die
Rechtspopulisten zu Machtfaktoren geworden. Die „Wahren Finnen“ regieren ebenso
mit wie die norwegische „Fortschrittspartei“: die „Dänische Volkspartei“
toleriert als zweitstärkste Kraft eine Minderheitsregierung. Die
„Schwedendemokraten“ wurden bei der letzten Wahl mit 13 Prozent drittstärkste
Kraft. Auch in der gerne als Muster-Demokratie bezeichneten Schweiz gibt es
einen beachtlichen Rechtsruck. Die für eine Abschottungspolitik stehende
„Schweizerische Volkspartei“ stellt im Nationalrat mit 30 Prozent die stärkste
Fraktion.
Flüchtlingskrise gab den Rechtspopulisten Auftrieb
Wie im Westen Europas, so suchen auch in vielen jungen
Demokratien Osteuropas die Wähler Zuflucht bei national bis nationalistisch
orientierten Parteien. In Ungarn regiert der ebenso wie die CDU/CSU zur
Europäischen Volkspartei zählenden „Ungarische Bürgerbund – Fidesz“ von Viktor
Orban mit absoluter Mehrheit, in Polen die nationalistisch-katholische
Kaczynski-Partei „Recht und Gerechtigkeit“. In Lettland ist die „Nationale
Allianz“ ebenso Mitglied einer Koalitionsregierung wie die „Slowakische Nationalpartei“
in Bratislava und „Ordnung und Gerechtigkeit“ in Litauen.
Nicht alle diese Parteien lassen sich über einen Kamm scheren. Zu
unterschiedlich sind die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, zu
verschieden ihre Programme und Ziele. Nur ein Beispiel: Wenn offener Rassismus
und die Sorge, zu viele Zuwanderer in zu kurzer Zeit könnten die
Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft überfordern, gleichermaßen als
„rechts“ etikettiert werden, mag das zwar politisch korrekt klingen; in
Wirklichkeit ist es schlichtweg dumm. Allerdings haben die Flüchtlingsströme
der Jahre 2014/2015 und die realistische Einschätzung, dass Europa von vielen
Millionen Menschen weiterhin als Fluchtburg angesehen wird, hat den
rechtspopulistischen Parteien quer durch Europa Auftrieb gegeben.
Das Ende der
Multikulti-Illusion
Der Rechtsruck ist im Westen Europas auch das Ergebnis des
seit langem vom linken, rot-grünen Spektrum mit medialer Unterstützung
gepflegten Wunschtraums von der multikulturellen Idylle. Inzwischen kann im
Westen niemand mehr leugnen, dass Parallelgesellschaften das Gegenteil eines
harmonischen Miteinanders von Menschen unterschiedlicher Herkunft sind, dass
ein zivilisiertes Miteinander einen gemeinsamen Nenner braucht – ein
verbindliche Leitkultur. Und wer wollte den Menschen im Osten verdenken, dass
sie keine Wiederholung der multikulturellen Fehlentwicklungen im eigenen Land
erleben wollen?
Die Flüchtlingskrise, die Angst vor islamistischen Fundamentalisten wie
vor „importiertem“ Terror hat am rechten Rand wie ein Brandbeschleuniger
gewirkt. Für die Verärgerung und Enttäuschung vieler Menschen über den Kurs
sozialdemokratisch-christdemokratisch-bürgerlicher-liberaler Koalitionen gibt
es freilich noch ganz andere Gründe: ein allgemeines Unbehagen über die Allmacht
der Brüsseler Bürokraten, die Sorge um die Stabilität des Euros und der Banken,
die Enttäuschung über mäßiges Wirtschaftswachstum, Sparzwänge und geschrumpfte
Verteilungsspielräume, steigende Kriminalität, Befürchtungen, den eigenen
Kindern werde es eher schlechter gehen als einem selbst, auch eine
unterschwellige Angst vor dem eigenen wirtschaftlichen Abstieg. Dazu kommen
allerorten gesellschaftspolitische Tendenzen, die die Förderung tatsächlich
oder vermeintlich Benachteiligter ins Zentrum der Politik rücken und so die
große, arbeitende und steuerzahlende Mehrheit links liegen zu lassen.
Deutschland zahlt
den Preis der Euro-Rettung.
Das alles wird in Deutschland noch dadurch verschärft,
dass die Menschen inzwischen realisiert haben, was der unmittelbare Preis der
Euro-Rettung ist: Minizinsen und die damit verbundene faktische Enteignung der
Sparer. Auch gilt hierzulande die alte Regel nicht mehr gilt, wonach sich jede
neue politische Kraft rechts von der Union durch eine konzertierte politisch-publizistische
Aktion kurz über lang in die Nazi-Ecke stellen lässt, was ihren politischen
Exitus bedeutet.
Das Gespenst des Rechtspopulismus droht eine der größten
Errungenschaften der Nachkriegszeit zu gefährden oder gar zu zerstören – das
vereinte, friedliche Europa. Dass auch Deutschland von dieser Entwicklung
erfasst worden ist, ist kein Zufall. Die AfD ist nämlich nicht vom Himmel
gefallen. Sie ist auch das Produkt einer politischen Entwicklung, in der fast
alle Parteien in die Mitte drängen. Nur dass sich das Koordinaten-System
verschoben hat. Was früher als „links von der Mitte“ galt, nennt sich jetzt
„Mitte“. Und rechts davon ist plötzlich Platz – gefährlich viel Platz.
Veröffentlicht in „Bayernkurier“, Nr. 05/2016 (Juni)
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