Erschienen in Ausgabe: No 125 (07/2016) | Letzte Änderung: 30.06.16 |
von Boris Palmer
Ich habe eine aufwühlende Stunde in einer Flüchtlingsunterkunft hinter mir.
Die Stadt hat dem Kreis vor einem halben Jahr die Shedhalle als Notunterkunft
angeboten. Damals kamen täglich 10.000 Asylbewerber, der Kreis war auf diese
Hilfe dringend angewiesen. Die Kultur, die seit langem die Halle nutzt, musste
weichen. Ein notwendiges Opfer.
Nun leben dort etwas mehr als 100 Menschen. Das entspricht dem von Grün-Rot
geforderten Standard von 7qm pro Person, nicht den zulässigen 4,5qm. Die
Unzufriedenheit mit der Unterkunft ist aber in letzter Zeit laut formuliert
worden. Als Vertreter des Eigentümers habe ich mir daher heute ein Bild
gemacht.
Die Unterkunft hat alle Nachteile einer Hallenunterkunft. Es gibt keine
Privatsphäre. Immer sechs Menschen, nach Möglichkeit jeweils eine Familie,
teilen sich einen abgetrennten Bereich ohne Decke. Die Sanitäranlagen
(Container) waren aber neu, ihre Zahl ist ausreichend, es gibt zwei
Gemeinschaftsräume, ein Arztzimmer. Nicht schön, aber für die vorübergehende
Unterkunft während des laufenden Asylverfahrens - anerkannt ist hier niemand -
annehmbar. Und bei einer Belegung von 100 Personen eine Größe, die in
Deutschland bis heute üblich ist, mit der Fläche pro Person sogar über dem
Schnitt. Kein Vergleich zur Unterbringung von fast 400 Personen in einer
Turnhalle. Das hatten wir auch bis vor wenigen Wochen.
Als ich die Halle betrete, kommen mir zunächst nur die Männer entgegen.
Denen reiche ich die Hand. In der Halle erwartet mich eine Demonstration
ausschließlich von Kindern. Sie alle halten Schilder hoch, die
menschenunwürdige Zustände beklagen. Die Frauen sind so weit im Hintergrund und
alle verschleiert, dass sich kein Kontakt ergibt. Ich lasse mir die Einrichtung
zeigen und dabei setzt sich der Tross von ca. 25 Leuten lautstark in Bewegung.
Es spricht niemand deutsch oder englisch. Als zwei Dolmetscher ihre Hilfe
anbieten, kommt eine Diskussion zustande.
Der Tonfall ist empört, fordernd, fast schon aggressiv. Ich erkläre, dass
ich verstehe, dass niemand so auf Dauer leben möchte und wir nur um eines
bitten: Zeit, die wir für die Lösung brauchen. Der Landkreis Tübingen hat so
viele Flüchtlinge aufgenommen wie die gesamten USA (2500). Eine ältere Dame aus
dem Unterstützerkreis sagt: „Ich verstehe die Kritik nicht. Die Halle ist doch
gut. Hier sind alle sicher.“ Einer der Männer entgegnet auf dieses Argument: „Lieber
leben wir mit Bomben als hier.“ Die Gruppe, die etwa ein Viertel der
Flüchtlinge in der Halle ausmacht, stammt größtenteils aus Syrien und
Afghanistan. Die Erwartungen sind offensichtlich fürchterlich enttäuscht, die
Stimmung ist beängstigend bis depressiv.
Draußen berede ich das Erlebte mit dem Helferkreis und den täglich hier im
Einsatz befindlichen Hausmeistern, die teilweise selbst vor 20 Jahren als
Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Aus dem Helferkreis höre ich Sorge, aber
mehrheitlich Hoffnung. Das Engagement ist ungebrochen. Drei Viertel der
Flüchtlinge seien zufrieden, eine Demonstration wie eben in meiner Gegenwart
haben sie nie erlebt. In letzter Zeit habe eine dubiose Gruppe von
Linksautonomen die Flüchtlinge aufgewiegelt und ihnen wohl den Eindruck
gegeben, durch öffentlichen Druck könnten sie die Halle schneller verlassen.
Die meisten seien dankbar.
Die Hausmeister widersprechen: „Die haben sich vorgestellt, sie bekommen
hier sofort ein Haus und alles läuft von selbst. Die Erwartungshaltung ist
maßlos. Dankbarkeit gibt es nicht. Und wir hatten vor 20 Jahren nichts von der
Unterstützung, die es heute gibt.“ Letzte Nacht habe es wegen Streitereien
wieder eine Polizeieinsatzes bedurft, um zwei war der Mitarbeiter im Bett, um
sieben Uhr wieder in der Halle. Am Ende ist man sich einig, dass es beides
gibt, Dankbarkeit und Undankbarkeit, nur über die Verteilung gehen die
Meinungen auseinander.
Währenddessen haben sich die Frauen und Männer wieder strikt getrennt zu je
einer Gruppe zusammen gefunden. Es fällt mir ungeheuer schwer, mir
vorzustellen, wie wir diese Menschen in unsere Gesellschaft, unser
Bildungssystem unseren Arbeitsmarkt integrieren sollen. Wenn das gelingen soll,
dann ist das eine Riesenanstrengung über ein Jahrzehnt und überhaupt nur denkbar,
wenn die Zahl weiterer Neuankömmlinge begrenzt bleibt. Und ganz bestimmt wird
es nicht leicht, wenn auf der einen Seite die AFD vor Islamisierung des
Abendlandes warnt und auf der anderen Seite linke Splittergruppen die Chance sehen,
„das System“ ordentlich vorzuführen.
Nun ahne ich schon, was kommen könnte. Das schreibt ja der Palmer, der will
ja nur seine Kassandra-Rufe bestätigen. Nein, das war gewiss nicht meine
Absicht. Und wenn ich auch früh darauf hingewiesen habe, dass eine solche
Entwicklung wahrscheinlicher ist, als die schnelle Lösung für das den Mangel an
qualifizierten Handwerkern, so muss ich sagen, dass ich diese Intensität nicht
annähernd erwartet hätte. Und darf man so ein Erlebnis zur Diskussion stellen?
Ich meine nach wie vor, es nutzt niemandem, die Situation anders zu
beschreiben, als man sie sieht. Dass sie so ernst sein kann, bedrückt mich.
Ich kehre mit dem Bewusstsein zurück, dass wir weit mehr tun müssen, als wir
bisher getan haben.
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