Erschienen in Ausgabe: No 125 (07/2016) | Letzte Änderung: 30.06.16 |
Das bevorstehende Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union stellt einerseits fundamental die europäische Idee in Frage und frustriert viele überzeugte Europäerinnen und Europäer. Gerade jetzt aber gilt es, nicht kleinmütig zu resignieren.
von Bernd Westermeyer
Das vor Monaten
verharmlosend-salopp "Brexit" getaufte Ausscheiden der Briten aus der
Europäischen Union entwickelte sich unerwartet zur sich langsam verstetigenden
Katastrophe. Zehntausende offener politischer, wirtschaftlicher und rechtlicher
Fragestellungen, die in vielen Fällen interdependent verwoben sind, bilden einen
ganzen Sack voller hochkomplexer harter Nüsse. Es dürfte einige Zeit dauern,
sie nach und nach zu knacken, und selbst, wenn im Herbst auch noch Donald Trump
zum US-amerikanischen Präsidenten gewählt werden sollte, dürfte die (In-) Stabilität
Europas die kontinentaleuropäische Berichterstattung der Zukunft vorrangig
bestimmen.
Bildung ohne
Europa - ebenso unvorstellbar wie Europa ohne Bildung
Im toten Winkel
der ersten Bericht- und Kommentarwelle liegen derzeit unsere Schulen und
Universitäten. Hier wurde in den letzten Jahrzehnten nicht nur über Europa
informiert. Hier wurde aktiv und erfolgreich für die europäische Idee geworben.
Hier begegneten und begegnen sich junge Menschen aus allen europäischen Ländern
im Rahmen von Austauschprogrammen und gemeinsamen Projekten. Hier bemühen sich
engagierte Lehrerinnen und Lehrer sowie Professorinnen und Professoren seit Jahrzehnten
erfolgreich, jungen Hoffnungsträgern eine europäische Identität zu vermitteln
und sie – unbesehen völlig normaler
patriotischer Gefühle – zu Trägern und Botschaftern einer weltweit geachteten
Wertegemeinschaft zu erziehen.
Was können wir
für die Zukunft lernen und lehren?
Das bevorstehende
Ausscheiden Großbritanniens aus der Europäischen Union stellt einerseits
fundamental die europäische Idee in Frage und frustriert viele überzeugte
Europäerinnen und Europäer - auch auf den britischen Inseln.
Gerade jetzt aber
gilt es, nicht kleinmütig zu resignieren. Unsere Bildungseinrichtungen müssen
das aktuelle politische Desaster auf beiden Seiten des Ärmelkanals nutzen, um
das politische Bewusstsein ihrer Schüler und Studierenden nachhaltig zu
schärfen! An welchem Beispiel etwa könnte man die unkalkulierbaren Risiken von
Plebisziten, die zuletzt ja gerade auch in Deutschland verstärkt gefordert
wurden, besser verdeutlichen als am Brexit? Und an welchem Szenario ließen sich
die Vorzüge eines geeinten Europa besser illustrieren, als an den hilflosen
Versuchen britischer Politiker, die gerade skrupellos erwirkte
"Freiheit" Großbritanniens von der Europäischen Union durch die
Forderung nach einer Art privilegierten Partnerschaft mit der Europäischen
Union umgehend ad absurdum zu führen?
Jetzt erst
recht!
Die Europäische
Union steht zum ersten Mal und wahrscheinlich gerade noch rechtzeitig vor einer
existentiellen Zerreißprobe:
Die Regierungen der
verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten der EU dürfen nicht in kurzsichtiges
nationalstaatliches Denken und Handeln zurückfallen, sondern müssen sich auf
ihre gemeinsamen Interessen rückbesinnen und die Staatengemeinschaft bürgernah
neu fokussieren. Es gilt, uns Bürgerinnen und Bürgern so schnell wie möglich
neu aufzeigen, für welche Ziele und Werte die Europäische Union künftig stehen
soll und - zum Beispiel angesichts der Flüchtlingsströme der Gegenwart und
Zukunft – gemeinsam verlässlich einzutreten gedenkt.
Parallel müssen unsere
Schulen den nachvollziehbarer Weise verunsicherten Kindern und Jugendlichen auf
dem europäischen Kontinent engagierter denn je zuvor verdeutlichen, was wir
Europäer der nach dem Zweiten Weltkrieg fruchtbar gemachten Idee eines starken
europäischen Staatenbundes zu verdanken haben: 70 Jahre Frieden in Freiheit (!)
und präzedenzlose Prosperität. Und auch wir Erwachsene können Verantwortung
übernehmen. Vor allem, indem wir uns negativer Stimmungsmache von links und
rechts zum Trotz im Alltag wieder positiv und mit berechtigtem Stolz zur
Europäischen Union und der ihr zu Grunde liegenden Vision bekennen.
Eines nämlich ist
klar: Am Ende bekommt ein jeder von uns das Europa, das er (sich) verdient!
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