Erschienen in Ausgabe: No 125 (07/2016) | Letzte Änderung: 12.07.16 |
von Hugo Müller-Vogg
Der
unkontrollierte und ungesteuerte Zustrom von Flüchtlingen hat im vergangenen
Jahr nicht nur eine außergewöhnlich große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung
ausgelöst. Zu Tage gefördert hat er auch niedrige Instinkte: üble Hetze gegen
Ausländer, menschenverachtende Übergriffe und Anschläge. Das schlägt sich im
Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2015 nieder, der in der vergangenen Woche
vorgestellt wurde. Darin ist die Rede von einem “exorbitanten Anstieg
rechtsextremistischer Gewalt” und von “enthemmter Hetze im Internet”. So weit,
so schlecht.
Entsprechend fiel das Medienecho aus. „Radikaler und gewaltbereiter:
Rechte Szene wächst“ schrieb die Frankfurter Rundschau. Und weiter: „Es
läuft nicht schlecht für die rechte Szene. Das vergangene Jahr hat den Neonazis
und Fremdenfeinden der Republik ein neues Thema beschert. Sie nutzten die
Flüchtlingskrise mit Wucht für ihre Zwecke, für eine lautstarke Agitation gegen
Asylbewerber und Hetze gegen alles Fremde. Es gelang ihnen, mehr Anhänger und
Sympathisanten zu gewinnen – und neues Selbstbewusstsein. Die Szene wächst, und
sie ist gewaltbereiter denn je. Das ist einer von mehreren beunruhigenden
Befunden im neuen Verfassungsschutzbericht.“
Auf tagesschau.de
und bei heute.de lauteten Überschriften übereinstimmend:
„Verfassungsschutzbericht: Rechte Szene wächst und neigt zu Gewalt“. Die Frankfurter
Allgemeine berichtete unter der Überschrift „Drastischer Anstieg
rechtsextremer Gewalttaten“: „Politisch motivierte extremistische Gewalt hat in
Deutschland im vergangenen Jahr massiv zugenommen und neue Dimensionen im
Internet erreicht. Das Bundesamt für Verfassungsschutz spricht in seinem am
Dienstag in Berlin veröffentlichten Jahresbericht 2015 vor allem von einem
„drastischen Anstieg“ rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten – sie stiegen
um mehr als 42 Prozent auf 1408 Fälle.“
Die Rechtsextremen haben Zulauf, und sie werden gewalttätiger. Das ist
die traurige Wahrheit – aber nicht die ganze. Denn gleichzeitig hat im
vergangenen Jahr auch die Gewaltbereitschaft der Linksextremisten deutlich
zugenommen. Das aber erfuhr nur, wer die entsprechenden Artikel bis zu Ende
las, und selbst dann nur bruchstückhaft. Denn der Anstieg der
rechtsextremistischen Taten wird in den meisten Redaktionen offenbar für
gefährlicher und verdammungswürdiger angesehen als die wachsende Gewalt von
Linksaußen. Dabei wird mehr oder weniger unterschlagen, dass es am ganz linken
Rand viel mehr politisch motivierte Gewalt gibt als am ganz rechten. So widmete
die FAZ in ihrem Artikel über den Verfassungsschutzbericht der
linksextremistischen Gewalt nur einen Satz.
Werden
linksextemer Gewalt edle Motive attestiert?
Wer den
Verfassungsschutzbericht genauer anschaut, stößt auf Fakten, die sich in der
Berichterstattung nur unvollständig niederschlugen. So ist die Zahl der
rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten 2015 auf 1.408 (2014: 990)
angestiegen, also um 42 Prozent. Die linksextremistisch motivierten Gewalttaten
stiegen von 995 auf 1.608, also um 62 Prozent. Auch beim „rechtsextremistischen
Personenpotenzial“ gab es einen Zuwachs auf 23.850 (22.150). Dass die
Verfassungsschützer die potenziellen linksextremistischen Gewalttäter – trotz
eines leichten Rückgangs – auf 26.700 schätzen, ging in der Berichterstattung weitgehend
unter. Während die Medien – zu recht – den gewalttätigen Rechtsextremismus
beklagten, maßen sie den folgenden Fakten weniger Bedeutung bei:
1) Es
gab 2015 mehr links- als rechtsextremistische Gewalttaten, nämlich 1.608
gegenüber 1.408.
2) Der
Anstieg bei den politisch motivierten Gewalttaten war „links“ mit 62 Prozent
deutlich höher als „rechts“ mit 42 Prozent.
3) In
diesem Land sind deutlich mehr potenzielle linksextremistische Gewalttäter
unterwegs als rechtsextremistische (26.700 gegenüber 22.600).
Dies
alles war so deutlich so nur selten zu lesen, zu sehen und zu hören. Das lässt
sich wohl nur mit dem einseitigen Blickwinkel vieler Journalisten erklären:
Rechtsextremistische Gewalttaten sind ganz schlimm, linksextremistische
hingegen dank der tendenziell edleren Motive der Täter eher zu ertragen. Dabei
ist es doch ganz einfach: Wer andere Menschen aus politischen Motiven
beleidigt, ihnen physische Gewalt antut oder sie gar mit dem Tod bedroht, der
ist ein Verbrecher, ganz gleich ob er dies völkisch oder rassistisch begründet
oder als Kampf gegen Ausbeutung und für eine gerechtere Gesellschaft
glorifiziert. Jedes Verbrechen dieser Art ist eines zu viel. Doch warum fällt
es großen Teilen der Medien nur so schwer, Gleiches gleich zu behandeln?
Veröffentlicht
in „Huffington Post“ (7. Juli 2016 und „Tichys Einblick“ (6. Juli 2016)
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