Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 28.07.16 |
von Michael Lausberg
Ausgangssituation
Handel und Schifffahrt
der Griechen erstreckten sich über die ganze Welt des Mittelmeeres. Rund um
dieses Meer, bis zur Straße von Gibraltar im Westen und bis zum Schwarzen Meer
im Osten, hatten sich im Laufe der Zeit griechische Kolonisten niedergelassen.
An den Küsten von Spanien, Südfrankreich, Nordafrika, meist aber in
Unteritalien und Sizilien sowie an der dem griechischen Mutterland
gegenüberliegenden und mit ihm durch die Kette der Ägäischen Inseln verbundenen
Westküste Kleinasiens, wurden griechische Städte gegründet.
Im Verbund mit dem
Wohlstand, den Seefahrt und Handel in diese Küstenstädte brachten, erwuchsen
die Grundlagen einer allgemeinen Bildung. Immer und überall in der Geschichte
hatte das Meer und die durch es vermittelte Berührung mit fernen Kulturen und
deren Denkweise auf das geistige Leben einen befördernden Einfluss gehabt. Bis
zur Ausbildung der modernen Technik war der Verkehr über Wasser leichter als
der Landverkehr über größere Entfernungen. Zumal Griechenland mit seiner
zerklüfteten Bodengestalt im Innern, die Fülle seiner nach außen, zum Meer sich
öffnenden Tallandschaften, verwies seine Bewohner mit natürlicher Notwendigkeit
auf das Meer. Die alten Kaufleute und Seefahrer sind sicher die ersten Zweifler
an den überlieferten Lebensformen, Denkweisen und religiösen Vorstellungen
ihrer jeweiligen Heimat gewesen.
Die Küstenstädte und
Handelsplätze, zuerst an der griechisch besiedelten kleinasiatischen Küste,
dann in Italien, später erst an der Küste des Mutterlandes allen voran Athen
waren es daher, in denen sich philosophisches und wissenschaftliches Denken
zuerst regte, gefördert auch durch freiheitliche und demokratische Verfassungen
und die durch diese bedingte Entwicklung der freien öffentlichen Rede. Zu den
günstigen geographischen und gesellschaftlichen Vorbedingungen trat der
glückliche historische Umstand, dass die Griechen zwar in kulturellen Austausch
mit den älteren Kulturen des Ostens traten, ja viele Grundlagen ihrer Zivilisation
dort entlehnten, so dass der griechische Geist die fremden Anregungen
verarbeiten konnte.
Um die Mitte des 8.
Jahrhunderts v. Chr., also fast ein halbes Jahrtausend nach dem Ende der
achäischen Kolonisation beginnt die zweite Periode der griechischen Ausbreitung
im Mittelmeerraum. Sie wird von den breitesten Schichten des griechischen
Volkes, vom Adel bis zu den besitzlosen, dem ländlichen Proletariat getragen.
Sie ist, welche Gründe man auch immer anführen mag, vor allem der Ausdruck
eines elementaren neuen Lebensgefühls, dem die Grenzen der Heimat zu eng
geworden sind. So ist es kein Zufall, wenn sich das Leben des berühmten
Archilochos von Paros, in diese Bewegung mit einfügt. Gegenüber der achäischen
Expansion sind die Dimensionen, räumlich und bevölkerungspolitisch, fast bis
ins Unendliche gewachsen: als die Kolonisation um die Mitte des 6. Jahrhunderts
v. Chr. allmählich abklingt, gibt es griechische Städte fast im gesamten
Mittelmeerraum, nur im Osten haben die vorderasiatischen Großreiche die
Festsetzung der Griechen an Syriens Küste verhindert. Eine Expansion, die umso
erstaunlicher ist, als sie sich ganz als Planung und Durchführung griechischer
Einzelgemeinden und Einzelpersönlichkeiten darstellt. Irgendeine Art zentraler
Lenkung gab es nicht. Die Initiative ruhte bei den griechischen Gemeinden, den
Poleis, oder bei gewissen Gruppen innerhalb der Bevölkerung.
Die Gründe für die
Auswanderung liegen in den inneren Verhältnissen des griechischen Mutterlandes.
Es ist einmal die Überbevölkerung von Hellas, eine periodisch wiederkehrende
Erscheinung der griechischen Geschichte. Es ist unwahrscheinlich, dass sich
Gebiete wie Thessalien, Böotien und Attika nicht an der Auswanderung beteiligt
hätten. Vielmehr müssen auch sie den Überschuss an Menschen über die großen
Häfen in die Ferne abgegeben haben. Neben der Überbevölkerung sind es die
tiefgehenden sozialen Gegensätze, wie sie aus den inneren Auseinandersetzungen
in Städten wie Megara, Korinth, Athen und Mytilene zu erschließen sind, die
wiederum tausende zum Verlassen der Heimat veranlasst haben. Auch der Gegensatz
von Teilen der Bürgerschaft zu den Tyrannen hat immer wieder Menschen aller
Stände außer Landes getrieben.
Mit dem Streben nach
neuem Ackerland verbinden sich handelspolitische Gesichtspunkte. Für die
bedeutende Ausweitung der griechischen Schifffahrt und des griechischen Handels
in jener Periode, die der Kolonisation unmittelbar vorausgeht, liegen
zuverlässige Angaben nur für den Westen vor. An nicht weniger als 30 Stellen im
Raum von Apulien bis Marseille ist griechischer Import, vor allem Vasen, im 8.
und 7. Jahrhundert v. Chr. durch Bodenfunde nachgewiesen; die Vasen stammen aus
dem Bereich nahezu der gesamten griechischen Welt. Es sprechen sogar Anzeichen
dafür, dass man schon in der ersten Hälfte des 9. Jahrhundert v. Chr. mit
griechischen Künstlern in Etrurien, Falerii und Tarquinii rechnen darf. Die
Kunde von der Geographie des Westens und des Nordens hat sich in der Odyssee
und der Argonautensage niedergeschlagen. Die Kolonisation ist ein Zeitalter der
Entdeckungen vorausgegangen; an ihnen hatten im Westen chalkidische
Handelskapitäne einen großen Anteil.
Vornehmlich aus den
Dichtungen Homers kennt man das damals bereits versunkene heroische Zeitalter
der Griechen. Aus ihnen und aus dem Werke Theogonie des Hesiod und aus anderen
Quellen kann man sich ein Bild von der griechischen Religion machen. Für das
Verständnis der griechischen Philosophie ist die Kenntnis der altgriechischen
Religion nicht in gleichem Maße unerlässlich, wie das etwa in Indien der Fall
ist.
Dieser Welt von schönen,
gütigen, sehr menschliche Züge tragenden Göttern, denen die Griechen sehr frei
gegenübertraten, steht aber im griechischen Leben, vielleicht von Anbeginn an,
jedenfalls schon zu der Zeit der Vorsokratiker, eine andersartige religiöse
Strömung von ungefähr gleicher Macht gegenüber. Sie ist sicherlich nicht
griechischen Ursprungs, sondern hat aus dem Orient nach Griechenland
hinübergegriffen. Sie ist im Unterschied zu der ganzen Diesseitigkeit und Helle
der homerischen Religion dem Dunkeln und dem Jenseits zugewandt, kennt Begriffe
wie Sünde, Buße und Reinigung. Die in diese Richtung gehörenden Mysterienkulte
(Eleusinische Mysterien, Dionysuskult, Orphik) trugen durchweg den Charakter
von Geheimlehren, woraus die spärlichen Kenntnisse der Nachwelt über sie zu
erklären sind. Große Teile der griechischen, später auch der römischen
Bevölkerung hingen ihnen an. In der Philosophie erlangten aus dieser Strömung
stammende Elemente mehrfach eine herausragende Bedeutung, so bei den
Pythagoreern, bei Platon und im späteren Neuplatonismus.
Die Griechen haben zu
keiner Zeit, weder später noch in der Frühzeit, einen Priesterstand besessen,
der an gesellschaftlicher Macht oder geistigem Einfluss mit dem indischen oder
ägyptischen zu vergleichen wäre. Die griechischen Priester haben daher
insgesamt betrachtet weder die Entwicklung freien Denkens entscheidend gehemmt
wie in Ägypten, noch an der Weiterbildung religiöser Ideen zu
religiös-philosophischen Systemen maßgeblich mitgewirkt wie in Indien.
Die Zeit, in der der
griechische Geist unter allmählicher Loslösung von der überlieferten
traditionellen Religion und teilweise auch unter lebhafter Kritik an deren
Vorstellungswelt mit dem Versuch beginnt, mit dem Mittel selbständigen,
vernunftmäßigen Denkens die Welt aus natürlichen Ursachen zu erklären, liegt um
das Jahr 550 v. Chr. Es ergibt sich dabei die merkwürdige Tatsache, dass dieser
weltgeschichtlich entscheidenden Wendung in Griechenland geistige Umwälzungen
von ähnlicher Tragweite in Indien und China zeitlich entsprechen. In China muss
das Wirken des Lao Tse (ca. 609-517 v. Chr.) um die Mitte des 6. Jahrhunderts
gelegen haben. Das des Konfuzius folgt unmittelbar darauf. In Indien traten zur
gleichen Zeit Mahavira, der Stifter des Jainismus (ca. 599-527 v. Chr.), Buddha
(ca. 563-483 v. Chr.) und andere bedeutende Denker und Religionsstifter auf. In
Griechenland gab es zu dieser Zeit eine Reihe von Denkern, die die Begründer
der griechischen Philosophie und der Wissenschaft überhaupt wurden. Das Bild
vervollständigt sich, wenn man in Betracht zieht, dass um dieselbe Zeit im
alten Judentum die Propheten wie Jeremia, der um 600 v. Chr. in Jerusalem
wirkte, und Hesekiel mit seinem Wirken um 580 v. Chr. in Babylon erschienen.
Möglicherweise gehört auch Zarathustra, der Stifter der alten persischen
Religion, in die gleiche Zeit, was allerdings in der Forschung sehr umstritten
ist.
Die älteste Periode des
griechischen Denkens setzt ein mit dem nahezu gleichzeitigen Auftreten einer
Reihe von Denkern, die alle das eine gemeinsam haben, dass sie unter Negierung
von theologischen Vorstellungen nach einem Urstoff auf die Suche gehen. Man
bezeichnet diese Periode als die ältere griechische Naturphilosophie. Auf sie
folgt einerseits Pythagoras und seine Schüler, deren Denken eine mystische, am
Begriff der Zahl orientierte Richtung einschlägt, andererseits die jüngeren
Schulen der Naturphilosophie in der griechischen Welt. Allen ist als Ziel
gemeinsam, dass sie auf eine Erklärung der natürlichen Welt aus sind und
insofern Naturphilosophie methodisch betreiben. Das heißt, dass sie kritisch an
Fragen der Welt herangehen und sich von mythischen Vorstellungsweisen lösen und
stattdessen mit Logik und Rationalität arbeiten.
Die griechischen Sophisten,
die die Widersprüche im bisherigen philosophischen Denken aufdecken und, indem
sie dieses als ungenügend erweisen, zugleich den Weg bereiten für die drei
größten Denker die Griechenland je hervorgebracht hat: Sokrates, Platon und
Aristoteles, von denen der Jüngere jeweils der Schüler des Älteren war. Bei
diesen drei Denkern erreicht die griechische Philosophie ihre einzigartige
Höhe. Alle uns heute bekannten Zweige philosophischer Reflexion wurden dort
ausgebildet: Logik, Metaphysik, Ethik, Natur- und Geschichtsphilosophie,
Ästhetik und Pädagogik. Diese eigentliche Blütezeit der griechischen
Philosophie, in der Athen ihr Mittelpunkt ist und die darum auch die attische
genannt wird, beginnt mit dem Auftreten der Sophisten um die Mitte des 5.
Jahrhunderts und reicht bis zum Tode des Aristoteles im Jahre 322 v. Chr. Erst
mit dem 6. Jahrhundert verschwand die griechische Philosophie als selbständige
Erscheinung vom Schauplatz der Weltgeschichte, die bildete aber einen
Grundpfeiler zur Herausbildung der abendländischen Kultur.
Von keinem einzigen
Philosophen des vorsokratischen Zeitalters ist das Werk oder auch nur eine
einzelne Schrift vollständig erhalten. Manche dieser Denker haben überhaupt
keine schriftlichen Quellen der Nachwelt hinterlassen, von deren sind die Werke
verlorengegangen oder wurden zerstört. An unmittelbaren Quellen, d.h. von den
Philosophen selbst stammenden Zeugnissen, gibt es für die ganze Zeitspanne für
Bruchstücke, die Fragmente der Vorsokratiker. Es gibt aber mittelbare Quellen,
die aus verschiedenen Bereichen stammen. Diese bestehen zum einen Teil in
Werken späterer Philosophen, die der Darlegung ihrer eigenen Ansicht eine
Auseinandersetzung mit den einschlägigen Meinungen ihrer Vorgänger vorangehen
ließen. Zum anderen Teil bestehen die mittelbaren Quellen in den vollständigen
Werken solcher Gelehrter, die sich die Darstellung der Geschichte der
Philosophie zur ausdrücklichen Aufgabe gemacht haben, wozu die Anregungen von
Aristoteles ausgegangen sind. Als Beispiel für diese letzteren sind die Bücher
des Diogenes Laertios (um 220) über Leben und Lehre der namhaften Philosophen
zu nennen. Weiterhin existieren Doxographien über die Geschichte der
Philosophie von verschiedenen Autoren. Doxographien sind antike Werke, in denen
die Lehren (doxai) verschiedener Philosophen zu bestimmten Fragen in Form einer
Übersicht nebeneinandergestellt wurden.
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Milet
Auf schmalem Küstensaum
am Westrande Kleinasiens entlang der Ägäis hatten die Ionier zwölf
wirtschaftlich blühende Städte gegründet. Hier endeten die großen
Karawanenstraßen, die aus dem Inneren des asiatischen Kontinents kamen, hier
wurden die von dort ankommenden Waren auf Schiffe verladen und nach
Griechenland verfrachtet. Mit den Waren aus dem Osten kam die Kenntnis vieler
kultureller Errungenschaften der asiatischen Völker auf diesem Wege zu den
Griechen. Astronomie und Kalender, Münzen und Gewichte, vielleicht auch die
Schrift, kamen aus dem Osten zunächst zu den kleinasiatischen Ioniern und
wurden von ihnen den übrigen Griechen vermittelt. Die südlichste der zwölf
ionischen Städte war Milet, im 6. Jahrhundert v. Chr. ein bedeutender
Handelshafen und vielleicht die reichste Stadt der damaligen griechischen Welt.
Die Stadt, wo verschiedene Völker lebten, ist die Geburtsstätte der
griechischen und damit auch der abendländischen Wissenschaft und Philosophie.
Der erste der
milesischen Naturphilosophen war Thales der in der ersten Hälfte des 6.
Jahrhunderts v. Chr. wirkte. Thales war erstens ein weitgereister und
weltgewandter Kaufmann, der unter anderem Ägypten bereist haben soll. Zweitens
war er Staatsmann, drittens ein vielseitiger Naturforscher. Er hatte
wahrscheinlich aus dem Osten bezogene astronomische Kenntnisse und sagte zum
Erstaunen seiner Zeitgenossen eine Sonnenfinsternis richtig voraus. Er
beschäftigte sich mit Magnetismus und er fand eine Anzahl grundlegender
Lehrsätze der Mathematik, die noch heute mit seinem Namen verbunden werden.
Weiterhin ermittelte er die Höhe der ägyptischen Pyramiden durch Messung ihres
Schattens zu einer bestimmten Tageszeit.
Unbestritten ist der
Ruhm des Thales als des ersten Griechen, der das orientalische Wissen auf den
Gebieten der Mathematik und Astronomie aufnahm und selbständig
weiterverarbeitete. Den Griechen galt er als der erste der „Sieben Weisen“ der
alten Welt. Wahrscheinlich ist, dass ein so überragender Kopf mit so
ausgedehntem Wissen sich auch seine eigenen Gedanken über das tiefere Wesen der
Dinge gemacht hat. Nach antiker Überlieferung antwortete er auf die Frage, was
am schwersten von allen Dingen sei, sich selbst zu kennen. Auf die Frage, was
denn am leichtesten sei, antwortete er, anderen Leuten einen Rat zu geben.
Unsicher ist, inwieweit
Thales zu allgemeinen philosophischen Schlussfolgerungen gekommen ist. Eine
philosophische Schrift ist von ihm nicht bekannt, was aber aufgrund der dünnen
Quellenlage nicht heißen muss. Als Grundgedanke seiner Naturphilosophie gilt,
dass das Wasser der Urstoff sei, aus dem aller hervorgegangen sei.
Dieser Urstoff Wasser
ist für Thales von besonderer Bedeutung, da das Wasser mit Bezug auf Okeanos
und die alten Mythen und in Bezug auf die Aussage, alles sei belebt, einen
metaphysischen Aspekt erhält. Allerdings zeigt die Beobachtung der Welt, des
Lebenden, des Wassers und ihre Verbindungen (der Wasserverbrauch der Lebewesen,
die formende Wirkung des Wassers) einen weiteren Grund auf, warum das Wasser –
von allen Legenden entledigt – auch rational als der Urgrund für die Dinge erkannt
werden könnte. Das besondere Verdienst des Thales ist also darin zu sehen, dass
er sich von dem Mythos als Erklärung der Welt abwandte und versuchte, sie in
den natürlichen Erscheinungen – wie zum Beispiel den Aggregatszuständen des
Wassers – zu finden. Hierbei ist der Einfluss der Mythen in seinen Überlegungen
und in seinen Erläuterungen immer noch deutlich. Man muss bedenken, dass Thales
noch in einer Welt mythologischer Terminologie lebte und dass sich sein Denken
somit auch in dieser Terminologie abspielte. Da sollte es nicht überraschen,
dass er, obwohl kritisch, auf die ihm bekannten Erklärungen der Welt
zurückgriff, um seine Thesen zu entwickeln und somit deren Einfluss ausgesetzt
war.
Anaximander war
milesischer Mitbürger und ungefährer Zeitgenosse von Thales. Seine Lebenszeit
wird etwa von 611-549 v. Chr. angesetzt. In ihm müssen wir, da man sich bei
Thales in der Forschung nicht sicher ist, den eigentlichen Begründer der
Philosophie als eigenständiger Disziplin sehen. Seine Ansichten legte er in
einer nicht erhaltenen Schrift dar, die wahrscheinlich den später vielfach
verwendeten Titel „Über die Natur“ hatte. Laut Anaximander sei das Urprinzip
der Welt und die Ursache allen Seins ein Unbestimmtes und Grenzenloses, aus dem
sich Kaltes und Warmes, Trockenes und Feuchtes sonderten. Mit dem Gedanken,
dass die Erde, die er frei im Raum schwebend sich dachte, zuerst im flüssigen
Zustand gewesen sei und bei ihrer allmählichen Austrocknung die Lebewesen
hervorgebracht habe, wobei diese zunächst im Wasser lebten und später auf das
Land übergewechselt seien.
Mit der Lehre, dass ein
ursprünglich die Erde umgebener Feuerkreis nach seinem Zerspringen Feuer
auslösend um die Erde rotiere, macht er den ersten Versuch, die Gestirne
physikalisch zu deuten. Nach ewigem Gesetz gehen aus dem
Unbestimmt-Grenzenlosen immer wieder neue Welten hervor und kehren wieder in
dasselbe zurück, die „einander Strafe und Buße gebend für die Ungerechtigkeit
nach der Ordnung der Zeit“, wie es in seinem einzig erhaltenen Fragment heißt.
Der dritte der
milesischen Naturphilosophen, Zeitgenosse des Anaximander, ist Anaximenes,
dessen Tod auf 527 v. Chr. geschätzt wird. Anaximenes hat die Luft als den
Urstoff angesehen, freilich wohl nicht im wörtlichen Sinne, denn er begreift
darunter als belebenden Atem auch die Seele. Wie Aniximander lehrte er auch
einen periodischen Wechsel zwischen Weltentstehung und Weltzerstörung.
Das Gemeinsame in den
Lehren der drei Milesier liegt in dem Bestreben, die Entstehung alles Seienden
aus einem letzten Urstoff oder stofflich aufgefassten Urprinzips zu erklären.
Ihre Wichtigkeit für die weitere griechische Philosophieentwicklung liegt
weniger in der Art und Weise, wie sie dies im Einzelnen versuchten, sondern in
der Tatsache, dass sie erstmalig den Versuch machen, an diese Frage
unvoreingenommen mit naturwissenschaftlichem Denken heranzugehen und in dem
Mut, mit der sie die Vielfalt der Erscheinungen auf ein einziges Urprinzip
zurückzuführen suchen.
Pythagoras und die
Pythagoreer
Der Ruhm, die griechische
Wissenschaft und dabei insbesondere die Mathematik begründet zu haben, kann mit
gleichem Recht wie den milesischen Naturphilosophen auch dem Pythagoras
zugebilligt werden. Der gebürtig aus Samos stammende Mathematiker, Astronom und
Philosoph lebte zwischen 580-500 v. Chr. Nach langen Wanderjahren, die ihn nach
antiken Quellen auch nach Ägypten und in den Orient geführt haben sollen,
entfaltete er seine Wirksamkeit als Lehrer und Begründer eines religiösen
Ordens in Kroton in Unteritalien. Seine Heimat verließ er der Überlieferung
zufolge, da er die Tyrannei des Polykrates missbilligte und zu einem freien Ort
auswandern wollte.
In der Mathematik ist
der Name der Pythagoras vor allem mit dem bekannten Lehrsatz verknüpft, dass
das Quadrat über der längsten Seite eines rechtwinkligen Dreiecks gleich groß
ist wie die Summe der Quadrate über den beiden anderen Dreieckseiten. Auch die
Erkenntnis, dass die Summe der Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten ist,
wird auf ihn zurückgeführt. Pythagoras betrieb die Mathematik nicht als
Selbstzweck oder begrenzte Fachwissenschaft. Er stellte sie, vor allem die
Lehre von den Zahlen, in den Mittelpunkt seiner Philosophie. Pythagoras war
wahrscheinlich der erste Mensch, der das Wort Philosophie in dem uns heute
geläufigen Sinne verwandte. Es erschien ihm nämlich anmaßend, sich nach der bis
dahin üblichen Manier einen „sophos“, also einen Weisen zu nennen, und so
nannte er sich in bescheidener Manier, einen Freund oder Liebenden der
Weisheit.
In den Zahlen sieht die
pythagoreische Lehre das eigentliche Geheimnis und die wesentlichen Bausteine
der Welt. Jede der Grundzahlen von 1 bis 10 hat ihre besondere Kraft und
Bedeutung, allen voran die vollkommenste und umfassende 10. Die Harmonie der
Welt beruhe darauf, dass alles in ihr nach Zahlenverhältnissen geordnet sei.
Dies zeigte sich für Pythagoras vor allem an der Musik. Er scheint der erste
gewesen zu sein, der den harmonischen Zusammenklang der Töne und die Stufen der
Tonleiter auf zahlenmäßige Verhältnisse zurückgeführt hat, nicht zwar
Verhältnisse der Schwingungszahl, aber der Länge der klingenden Saiten. Die
musikalische Harmonie findet Pythagoras im Aufbau des Weltalls wieder. Wie
jeder bewegte Körper ein Geräusch verursacht, das von dessen Größe und der
Schnelligkeit der Bewegung abhängt, so rufen die Himmelskörper beim Durchlaufen
ihrer Bahn eine ununterbrochen erklingende, nur vom Menschen nicht wahrnehmbare
Sphärenmusik hervor. Dieser Gedanke einer musikalisch verstandenen Harmonie des
Weltalls ist seit Pythagoras nicht nur als dichterisches Bild, sondern auch in
den physikalischen oder astronomischen Wissenschaften immer wieder aufgetaucht.
Der große Astronom Johannes Kepler hat Pythagoras ein Buch gewidmet als Zeichen
seiner Anerkennung.
Daraus wird ersichtlich,
dass Pythagoras das Geheimnis der Welt nicht wie die milesischen
Naturphilosophen in einem einzigen Urstoff sucht, sondern in einem Urgesetz,
nämlich der unveränderlichen zahlenmäßigen Beziehungen unter den Bestandteilen
der Welt. Wer das periodische System der Elemente und seine Ausdeutung durch
die moderne Naturwissenschaft kennt, dem muss dieser Gedanke als geniale
Vorahnung unserer heutigen Erkenntnis auf diesem Gebiet erscheinen. Mit der
Zahlenlehre sind bei Pythagoras tiefreligiöse und mystische Ideen von wahrscheinlich
orientalischem Ursprung verbunden, insbesondere ein dem indischen Denken eng
verwandter Seelenwanderungsglaube. Danach durchläuft die unsterbliche
Menschenseele einen langen Läuterungsprozess durch immer erneute
Wiederverkörperungen, die auch in Tiergestalt erfolgen können. Dementsprechend
findet sich wie in Indien das Gebot, kein Tier zu töten oder zu opfern und kein
Fleisch zu sich zu nehmen. Da es als Ziel des Lebens angesehen wird, die Seele
durch Reinheit und Frömmigkeit vom Kreislauf der Wiedergeburten zu erlösen,
zeigt auch die pythagoreische Ethik der indischen verwandte Züge:
Selbstdisziplin, Enthaltsamkeit und Genügsamkeit werden gefordert.
Eine Reihe strenger
Regeln machte den von Pythagoras nach seinen Richtlinien gegründeten religiösen
Bund zu einer nach außen abgeschlossenen und ihre Geheimnisse wahrenden
Gemeinschaft, fast zu einem Staat im Staate nach eigenen Regeln. Die Mitglieder
dieses Bundes mussten bei ihrer Aufnahme geloben, enthaltsam und bescheiden zu
leben, kein Tier zu töten, das nicht den Menschen angreift, und jeden Abend ihr
Gewissen zu prüfen, welche Fehler sie begangen haben und welche Gebote sie
vernachlässigt haben. Außerdem waren sie zu unbedingtem Gehorsam und zur
Verschwiegenheit verpflichtet. Der Bund nahm auch Frauen auf, und die in
Philosophie und Literatur, aber auch in häuslichen Fertigkeiten gebildeten
Frauen sollen im Altertum als der höchste Frauentypus, den Griechenland je
hervorbrachte, verehrt worden sein. Vorgeschrieben war weiterhin ein fünfjähriges,
unter Bewahrung strikten Schweigens zu absolvierendes Studium. Die
wissenschaftliche Bildung wurde neben Musik, Gymnastik, Heilkunde von den
Pythagoreern besonders hochgehalten und gefördert. Die Autorität des Meisters
stand dabei stets über allem; die im Orden gemachten wissenschaftlichen
Entdeckungen wurden ihm stets zugeschrieben.
Der Versuch, das Gewicht
des pythagoreischen Bundes auf dem Gebiet der Politik einzusetzen und zwar nach
Pythagoras eigener Einstellung mit ausgesprochen aristokratischen Tendenzen,
führte bald zu Angriffen gegen ihn und seine Anhänger und schließlich zu seiner
gewaltsamen Zersprengung des pythagoreischen Versammlungshauses in Kroton. Nach
verschiedenen Berichten soll Pythagoras selbst mit vielen seiner Anhänger dabei
ums Leben gekommen sein. Nach abweichenden Darstellungen verließ er daraufhin
den Ort und starb im hohen Alter im Metapont. Historisch gesehen bleibt der
Bund der Pythagoreer bedeutsam als ein Versuch, religiöse und philosophische
Gedanken in einer abgeschlossenen und disziplinierten Gemeinschaft in die
Praxis umgesetzt zu haben.
Die Lehren des
Pythagoras sind uns heute hauptsächlich aus den später abgefassten Schriften
des griechischen Historikers Philolaos bekannt, von Pythagoras selbst ist keine
Schrift erhalten. Ihr Einfluss war nicht mit dem Untergang des Ordens zu Ende.
Er erstreckte sich vielmehr, weit über den Kreis ihrer unmittelbaren Anhänger
hinaus, durch die gesamte Welt der Antike. In den postchristlichen
Jahrhunderten kam die an Pythagoras anknüpfende Schule des Neopythagoreismus
eine Zeitlang zu Blüte und Ansehen.
Die Eleaten
An der italienischen
Westküste südlich des heutigen Salerno lag die Stadt Elea im italienischen
Kolonisationsraum der Griechen. Dort entstand gleichzeitig mit Pythagoras eine
Schule von Philosophen, die wegen ihres Heimatortes die Eleaten genannt wurden.
Ihre bedeutendsten Vertreter sind Xenophanes, Parmenides und Zenon.
Xenophanes wurde
wahrscheinlich um 570 v. Chr. in Elea geboren und stammte von der griechisch
besiedelten Westküste Kleinasiens. Er durchwanderte jahrzehntelang als
fahrender Dichter und Sänger die Städte der Griechen, bis er in Elea eine
bleibende Stätte fand und zum Begründer der dortigen Philosophenschule wurde.
Die aus dieser Zeit enthaltenen Fragmente stellen Teilstücke aus Gedichten dar,
möglicherweise sogar philosophische Lehrgedichte.
Xenophanes eröffnet den
Sturmangriff der Philosophie gegen die alte griechische Religion. Unwürdig des
göttlichen Namens erscheinen ihm viele menschliche Züge tragenden Götter dieser
Zeit. Homer und Hesiod warf er vor, Taten, die unter den Menschen als
schändlich gelten wie Diebstahl, Betrug und Ehebruch, den Göttern angedichtet
zu haben. In dem von ihm stammenden Lehrgedicht, von dem noch Teile erhalten
sind, macht er die vermenschlichte Vorstellung von den Göttern lächerlich: Die
Menschen würden sich einbilden, dass die Götter wie sie geboren werden,
menschliche Gestalt haben, sich von Ort zu Ort bewegen, Kleidung tragen usw.
Besäßen aber Ochsen, Pferde und Löwen Hände und könnten damit Bilder oder
Statuen ihrer Götter anfertigen, so würden sie ohne Zweifel ihren Göttern die
Gestalt von Ochsen, Pferden und Löwen verleihen, wie die Menschen den ihren die
menschliche Gestalt. In Wahrheit haben die Menschen niemals Genaueres über die
Götter gewusst und werden es auch niemals wissen. Nur eines ist für Xenophanes
in seinen religiösen Vorstellungen gewiß: Es kann nicht eine Vielfalt an
Göttern geben, es kann nicht ein Gott über den anderen herrschen. Das Höchste
und Beste kann nur eines sein. Dieser eine Gott sei allgegenwärtig und den
Sterblichen weder an Gestalt noch an Gedanken vergleichbar. Der höchste Gott
ist für Xenophanes zugleich identisch mit der Einheit des Weltganzen, so dass
man seine Lehre als pantheistisch bezeichnen kann.
Xenophanes ist so
wahrscheinlich der erste unter den griechischen Philosophen, der als nüchterner
Logiker gegen die althergebrachte Religion und auch gegen jede Art von
Aberglauben und damit auch gegen die Seelenwanderungslehre wettert. Mit seiner
Gleichsetzung des höchsten Wesens mit der Einheit des Weltganzen ist er
zugleich der Begründer der Lehre von einem ewigen, unveränderlichen Sein hinter
der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen.
Parmenides wurde ca. 525
v. Chr. in Elea geboren und war ein angesehener Bürger der Stadt. Es könnte
sein, dass er ein Schüler des Xenophanes war. Parmenides entwickelte sich zum
bedeutendsten Denker der eleatischen Schule. In der Antike war er einer der
angesehensten Philosophen in Griechenland und darüber hinaus. Er griff den
Gedanken des Xenophanes von einem unveränderlich Seienden auf und gab ihm eine
systematische Form. Es ist nicht feststellbar, welche Gedanken Parmenides von
Xenophanes übernommen hat und welche diesem vielleicht irrtümlicherweise
zugeschrieben wurden. Platon hat einem seiner Dialoge den Titel Parmenides
gegeben. Dort lässt er den schon gealterten Parmenides, dessen Schüler Zenon
und Sokrates miteinander diskutieren.
Ein in Bruchstücken
erhaltenes Lehrgedicht, das etwa 150 Zeilen in Hexametern umfasst, schildert
eine Reise des Parmenides aus dem Reich der Nacht zu einer Göttin im Land des
Lichts, was gleichbedeutend mit der Wahrheit verstanden werden muss. Wahrheit
und Wissen einerseits, Schein und bloße Meinung andererseits werden in dem
Gedicht gegenübergestellt. Nach Parmenides erlangt man wahres Wissen durch
reine Vernunfterkenntnis. Diese aber lehrt, dass es nur ein Sein, nicht jedoch
Nichtseiendes geben kann. Nur das Seiende ist, das Nichtseiende ist nicht und
kann nicht gedacht werden. Unter Seiendem versteht Parmenides Raumerfüllendes,
geleugnet wird also die Möglichkeit eines leeren Raumes. Die Annahme einer
Bewegung setze immer Nichtseiendes voraus, denn damit sich ein Körper an einen
bestimmten Ort bewegen kann, muss vorher dort leerer Raum, also nichts gewesen
sein. Ebenso verhält es sich mit der Annahme der Entwicklung eines Werdens,
denn was erst werden soll, ist zuvor noch nicht vorhanden.
Aus diesen
Gedankenspielen folgt für Parmenides der Schluss, dass es in Wahrheit weder
Werden noch Bewegung geben kann, sondern nur unveränderliches beharrendes Sein.
Da das Seiende alles erfüllt, gibt es auch kein dem Sein gegenüberstehendes
Denken. Vielmehr ist Denken und Seiendes eins. Die Sinne, die den Menschen eine
Welt ständigen Werdens und Vergehens und steter Bewegung vorführen, seien eine
Täuschung und die Quelle allen Irrtums. Hier wie bei praktisch allen
Vorsokratikern ist allerdings jede Deutung aus den Textfragmenten unsicher und
umstritten.
Die Lehre des Parmenides
mit ihrer Leugnung jeglicher Veränderung klingt sehr angreifbar, und an
Angriffen auf ihn und seine Lehre scheint es wohl auch nicht gemangelt zu
haben, Sein Schüler Zenon, der um 490 v. Chr. geboren wurde, betrachtete es als
seine Hauptaufgabe, die Lehren des Parmenides gegen kritische Einwände zu
verteidigen. Dabei entwickelte er eine so scharfsinnige und überspitzte Kunst
der Beweisführung, dass er als Begründer der in Griechenland später zur hohen
Blüte gelangten Dialektik angesehen worden ist. Bei Zenon sind wie auch bei
anderen Vorsokratikern im ursprünglichen Wortlaut nur wenige Fragmente
erhalten; alles übrige, was man von Zenon und seine Philosophie weiß, beruht
auf den Schriften Platons, Aristoteles und anderen späteren Quellen.
Zenon geht aus von dem
Vorwurf der Widersprüchlichkeit, der gegen die von Parmenides gelehrte Leugnung
der Vielheit und der Veränderung erhoben worden war, und macht sich daran, zu
beweisen, dass vielmehr gerade die Annahme einer Vielheit des Seienden und die
Annahme der Realität der Bewegung zu unauflösbaren Widersprüchen führen. Als
Argumentation gegen die Bewegung führt er folgende Beispiele an. Bei einem
Wettlauf zwischen Achilles und einer Schildkröte, bei dem diese auch nur einen
geringen Vorsprung hätte, könnte Achill sie niemals einholen. Denn in dem
Augenblick, in dem Achilles einen bestimmten Punkt A erreicht, an dem sich die
Schildkröte unmittelbar vorher befand, ist diese gerade nach Punkt B
weitergerückt. Erreicht er den Punkt, hat die Schildkröte diesen gerade wieder
verlassen und rückt nach Punkt C weiter und so weiter. Somit kann also der
Vorsprung der Schildkröte auf Achill zwar geringer werden, aber niemals
eingeholt werden. Als zweites Beispiel geht Zenon von einem fliegenden Pfeil
aus, der sich in jedem beliebigen Einzelmoment seines Fluges betrachtet an
einer bestimmten Stelle des Raumes befindet, an dem er in diesem Moment ruht.
Wenn er aber in jedem einzelnen Zeitpunkt seines Fluges ruht, so ruht er auch
im Ganzen. Dies bedeutet für Zenon, dass der fliegende Pfeil sich nicht bewegt.
Natürlich ist nicht
anzunehmen, dass Zenon im Ernst davon überzeugt war, die Schildkröte sein nicht
einzuholen. Der Zweck seiner Beispiele und Argumente war ein negativer. Er
wollte damit den Gegnern des Parmenides zeigen, dass es leicht sei, auch in
ihren eigenen Ansichten Widersprüche nachzuweisen. Doch darf der von Zenon
angewandte Scharfsinn nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in seiner
Beweisführung elementare Schwächen gibt. Wenn jemand in der Zeit, in der der
Pfeil fliegt, in eine Reihe von Einzelmomenten zerlege, so muss, wenn die
Einzelelemente unendlich kurz gewählt sind, der Pfeil in jedem von ihnen als
ruhend erscheinen. Die Zeit besteht aber in Wirklichkeit nicht aus einer Reihe
von Zeitpunkten; ihr Wesen ist gerade ein stetiges, jeden Punkt hindurchlaufendes
Fließen. Die Zerhackung in Einzelmomenten ist nicht der Zeit eigen, sondern
stammt aus dem Denken des Menschen.
Es lässt sich
feststellen, dass Zenons Beweisführung zumindest in einem bahnbrechend
geblieben ist für alle nachfolgenden Philosophien: Sie haben den Blick dafür
geschärft, dass die einleuchtenden, selbstverständlich scheinenden Annahmen und
Aussagen, wenn man ihnen kritisch auf den Grund geht, sich als zweifelhaft,
brüchig, widersprüchlich herausstellen können
Die Naturphilosophen im
5. Jahrhundert v. Chr.
Möglicherweise noch im
6. Jahrhundert v. Chr. und immer noch auf griechischem Kolonialboden in Italien
außerhalb des Mutterlandes, diesmal im kleinasiatischen Ionien, wirkte
Heraklit. In Ephesos, einer damals blühenden Metropole, wurde in einer
vornehmen Familie um das Jahr 540 v. Chr. Heraklit geboren, dem die Nachwelt
als Beinamen des Dunklen verliehen hat.
Er galt seit seiner
Jugend als Einzelgänger, Verächter der Masse und Feind der Demokratie. Er
suchte im Leben wie im Denken eigene bis dahin unbetretene Wege. Seine
Philosophie legte er in einer Schrift über die Natur nieder. Sie ist in einem
höchst zugespitzten und eigenwilligen, an Bildern und Vergleichen reichen Stil
gehalten, auf knappen Ausdruck bedacht und wegen ihrer aphoristischen Kürze
dunkel gehalten. Jedenfalls vermitteln die mehr denn hundert einzelnen
Bruchstücke, die von der Schrift erhalten sind, diesen Eindruck. Im hohen Alter
soll sich Heraklit gänzlich von seiner Umgebung abgesondert und in den Bergen
das Leben eines Einsiedlers geführt haben.
Gelehrtheit im Sinne
bloßen Vielwissens schätzte Heraklit gering ein. Dies formt nicht den Geist,
könnte sie das, so würde sie sicher Hesiod, Pythagoras und Xenophanes
erleuchtet haben. Vielmehr komme es darauf an, den einen Gedanken zu finden,
der das Geheimnis der Welt aufschließt. Auch Heraklit sieht wie seine Vorgänger
ein Einheitliches jenseits der Vielheit. Aber er sieht es nicht wie etwa
Parmenides einfach in einem unabänderlich beharrenden Sein, und in Werden und
Vielheit bloße Täuschungen. Er sieht es aber auch nicht im Gegenteil, also in
einem endlosen Fließen aller Dinge. Heraklit hat gesagt, dass wir nicht zweimal
in denselben Fluss steigen können, denn neue Wasser sind inzwischen
herangeströmt und auch die Menschen selbst sind schon beim zweiten Mal andere
geworden. Sein berühmtes Wort „Alles fließt, nicht besteht“ findet sich zwar
nicht unter seinen Fragmenten, wird Heraklit aber in der Forschung einhellig
zugeschrieben. Wohl also hat er das Geheimnis der Zeit und des ewigen Wandels
tief empfunden. Aber nicht darin liegt die Größe seiner Erkenntnis, sondern
erst darin, dass er hinter und dem unaufhörlichen Fluss doch eine Einheit,
nämlich ein einheitliches Gesetz erblickt.
Der Logos, der nach
Heraklit das Geschehen in der Welt leitet und auf den die Menschen hören
sollten, kann als „Aussage“ oder „Prinzip“ übersetzt werden. Die Deutung bleibt
jedoch unsicher, zumal sich Heraklit keine Gedanken darüber gemacht hat, eine
saubere Definition vorzulegen. Er scheint auch eine Ursubstanz angenommen zu
haben, aber nicht wie die Milesier das Wasser oder die Luft. Heraklit sprach in
diesem Zusammenhang von einem Urfeuer, aus dem nach ewigem Gesetz, indem es
aufbrennt und wieder erlischt, die Welt nur in Gegensätzen hervortritt und in
das sie wieder zurückfällt. Wahrscheinlich dachte Heraklit nicht so sehr an
Feuer im wörtlichen Sinne als vielmehr in einer allgemeineren und übertragenen
Bedeutung im Sinne von Feuer als Energie. Dafür spricht, dass das Urfeuer ihm
anscheinend zugleich das Göttliche ist und er in der menschlichen Seele einen
Teil desselben sieht.
Das große Gesetz, nach
dem sich aus der einen Energie unablässig die Vielheit entfaltet, ist die
Einheit der Gegensätze. Alle Entwicklung geschieht im polaren Zusammenspiel
gegensätzlicher Kräfte: „Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und
Frieden, Überfluß und Hunger.“ Im Kampf zwischen Idee und Idee, Mensch und
Mensch, Mann und Frau, Klasse und Klasse gestaltet sich die harmonische
Ganzheit der Welt. In diesem Sinne ist Kampf, ist Krieg „aller Dinge Vater“.
Jedes Ding bedarf zu seinem Sein seines Gegenteils, nicht steht für sich: „Sie
verstehen nicht, wie es auseinandergetragen mit sich selbst im Sinn zugeht:
gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.“
Darum haben laut
Heraklit diejenigen Unrecht, die ein Ende des Krieges und den ewigen Frieden
herbeisehnen. Denn mit dem Aufhören der „schöpferischen Spannungen“ würde
angeblich totaler Stillstand und Tod eintreten. Darum auch wäre es für die
Menschen nicht gut, wenn er ans Ziel aller seiner Wünsche käme. Denn es ist die
Krankheit, die die Gesundheit angenehm macht, nur am Übel gemessen tritt das
Gute in Erscheinung, am Hunger die Sättigung, an der Mühsal und Arbeit, die
Ruhe und Entspannung.
Mit dieser Lehre vom
Zusammengehören und Zusammenwirken des Gegensätzlichen schuf Heraklit ein
erstes Modell der dialektischen Entwicklungslehre, die mehr als zwei
Jahrtausende nach seinem Tod bei Hegel und im dialektischen Materialismus der
Marxisten wieder auferstand und die vielleicht den bisher gelungensten Versuch
des Menschengeistes darstellt, dem Geheimnis des Werdens mit dem Denken auf die
Spur zu kommen.
Heraklit befindet sich
auf dem Wege, der von der griechischen Göttervielfalt wegführt, hin zum
Gedanken des einen Gottes, in dem alles ruht, in dem alle Gegensätze aufgehoben
sind. Heraklit sagte: „Für (den) Gott sind alle Dinge schön und gut und
gerecht, die Menschen halten das eine für gerecht, das andere für schlecht.“ Er
blickt nicht nur wie seine Vorgänger oder Zeitgenossen auf die stoffliche Welt
und ihre vermeintlichen Ursachen. Er blickt zugleich in die Tiefen der
menschlichen Seele und ordnet den Menschen und sein soziales Verhalten in einen
metaphysischen Sinnzusammenhang ein. Dabei schließt er von sich selbst auf alle
anderen Menschen: „Mich selbst habe ich erforscht“ ist ein bekanntes Zitat von
Heraklit.
Nur bei Platon und
Aristoteles erreicht das griechische philosophische Denken wohl eine ihm
vergleichbare Tiefe und alles umgreifende Weise. Die Nachwirkungen der Gedanken
des Heraklit liegen weniger in einer besonderen Schule, die es wohl auch in
Ansätzen gab. Sie reicht bis in die heutige Moderne; der von ihm eingeführte
Begriff des Logos wurde zum göttlichen Wort der christlichen Theologie. Seine
Lehre von der Einheit der Gegensätze kehrt spätestens bei der Hegelschen
Philosophie wieder. Auch die Entwicklungslehre von Herbert Spencer ist mit ihr
verwandt. Heraklits Gedanke vom Kampf als Väter aller Dinge klingt immer wieder
auf, speziell bei Nietzsche und Darwin. Die Fragmente, die diese dunkle und von
Geheimnis umwitterte Gestalt in der Geschichte der Philosophie hinterlassen
hat, bestehen weiter wie niemals ausgeschöpfte tiefe Brunnen eines urtümlichen
Wissens.
Empedokles wurde ca. 490
v. Chr. in Akragas auf Sizilien geboren. Er galt als Multitalent im Altertum;
er war Staatsmann, Dichter, Religionslehrer, Prophet, Arzt und Philosoph
zugleich. Empedokles ist für die Geschichte der Philosophie weniger als
origineller Denker bedeutsam denn als ein Mann, der aus vorausgegangenen
Systemen Gedanken auswählte und sie zu einem neuen Ganzen zusammenzufügen
suchte. Er wurde daher als Eklektizist (Auswähler) bezeichnet. In den
Bruchstücken der von ihm verfassten Lehrgedichte begegnet man zum Beispiel in
dichterisch gehaltener Form den auch von Pythagoras vertretenen und aus Indien
bekannten Gedanken der Seelenwanderung. Außerdem enthalten die Lehrgedichte den
von Heraklit und anderen Denkern entwickelten Gedanken eines periodischen
Wechsels von Weltentstehung und Weltvernichtung. Manche Gedanken aber wurden
von Empedokles zuerst, jedenfalls in der bei ihm geprägten Form, ausgesprochen,
und auf diesen beruht hauptsächlich seine bleibende Bedeutung.
In der milesischen
Naturphilosophie war zuerst das Wasser, später die Luft, von Heraklit war das
Feuer zum Urstoff aller Dinge erklärt worden. Bei den Eleaten war die Erde als
Urstoff aller Dinge stärker in Betracht gezogen worden. Empedokles stellt nun
erstmalig diese vier Grundstoffe gleichberechtigt nebeneinander und begründet
damit die im Bewusstsein der Menschen bis heute erhaltene Vorstellung von den
vier Elementen (Feuer, Wasser, Luft, Erde) Er bringt damit die auf einen
Urstoff ausgehende alte Naturphilosophie zu einem gewissen Abschluss und zu einer
neuen Harmonie.
Als treibende und
formende Kräfte allen Geschehens erscheinen bei Empedokles eine vereinigende
und eine trennende, die er Liebe und Hass, Anziehung und Abstoßung nennt. In
dem Entwicklungsgang der Welt herrscht abwechselnd die eine oder die andere
Kraft vor. Bald sind alle Elemente durch die Liebe zu einer vollkommenen
seligen Einheit zusammengeführt, bald sind sie durch den Hass wieder
auseinandergerissen. Dazwischen gibt es allerdings Übergangszustände, in denen
die Einzelwesen entstehen und vergehen.
Die Kraft, die die
Einheit aus der Vielheit hervorzubringen vermag, ist die Liebe. Der Antipod
dazu, also das, was in der Lage ist, die Einheit auf die Stufe der Vielheit
zurückzuwerfen, ist der Streit. Diese zwei personifizierten Kräfte sind laut
Empedokles göttlich, unsterblich, unsichtbar, gleichgewichtig und gleichaltrig
und darüber hinaus in alle Richtungen gleichmäßig ausgespannt im Raum, folglich
gleich an Länge und Breite. Anders gesagt könnte man sie sich auch als
ausgespanntes, isotropes und homogenes Kraftfeld vorstellen, das sich sowohl
auf die materielle als auch auf die belebte Welt auswirkt und so die Ursache
für alle Ereignisse und Erscheinungen in der Welt ist. Die zwei Prinzipien
müssen immer zusammen mit den vier Elementen gedacht werden, da sie zwar von
diesen unabhängig, aber ohne diese keinerlei Funktion hätten. Folglich sind sie
nicht, wie häufiger vermutet, zwei zusätzliche Elemente, sondern eher die
Situation der Elemente ausdrückende Modi, denn ohne die Liebe kann die
Situation der Anziehung nicht erklärt werden und ohne den Streit nicht der
Umstand der Abstoßung. Dennoch scheint sich eine Asymmetrie zwischen den beiden
Grundmodi abzuzeichnen, denn Empedokles wähnt selbst, dass sich die Liebe in
und durch alle Wurzeln bewegt, also als in diesen „angelegt“ erscheint, während
der Streit außerhalb stehend, in den Hintergrund tretend, keinen Rückhalt in
den für die natürlichen Dinge Fundamentalen findet. Wenn dem aber so ist, warum
setzt sich dann Empedokles durch die Doppelung der Kräfte von Parmenides ab,
anstatt sich wie dieser nur auf die Kraft der Liebe zu beschränken? Er könnte
doch auch selbst, wenn er ein solches Phänomen wie Vergehen annehmen möchte,
dieses mit weniger Anziehungskraft (Schwinden der Liebe) erklären. Dem ist aber
nicht so, denn eine solche Annahme würde wiederum die Frage aufwerfen, weshalb
etwas, sich einst stark Anziehendes, auf einmal diese Kraft verlieren sollte.
Da Empedokles sich die durch Liebe und Streit begünstigte Mischung und den
Austausch als „Zusammenwachsen“ und „Auseinanderwachsen“ dachte, brauchte er
zwei als Attraktion und Repulsion wirkende Kräfte, da er ansonsten nicht
erklären könnte, warum Verbundenes zerfällt.
Die Entstehung der
Lebewesen ist nach Empedokles so vor sich gegangen, dass erst niedere, dann die
höheren Organismen entstanden. Erst sind die Pflanzen und Tiere entstanden,
dann die Menschen. Erst waren Wesen vorhanden, die beide Geschlechter in sich
vereinigten, später traten die Geschlechter in zwei selbstständige Individuen
auseinander. Dies waren Vorstellungen, die Anklänge an die spätere und moderne
Entwicklungslehre aufwiesen. Für die Erkenntnis stellt Empedokles den Grundsatz
auf, dass jedes Element der Außenwelt durch ein gleichartiges Element in uns
selbsterkannt wird. Um die zu seinen
Lebzeiten verbreitete Ansicht von seiner Göttlichkeit zu stützen, soll sich
Empedokles nach antiker Überlieferung in den Krater des Ätna gestürzt haben, so
dass jede Spur von seinem Tode getilgt werde und eine Legende von einem übernatürlichen
Ende sich bilden sollte. Jedoch soll der Vulkan diese Absicht vereitelt haben,
indem er einen Schuh des Empedokles wieder ausspie.
Leukipp gilt als der
Begründer des wichtigsten naturphilosophischen Systems der alten griechischen
Philosophie. Er stammte aus Milet oder aus Abdera, das in Thrakien an der
Nordküste der Ägäis lag, wo er um die Mitte des 5. Jahrhunderts gewirkt hatte.
Ein einziges Fragment seiner Lehre ist im Wortlaut erhalten. Dort heißt es:
Kein Ding entsteht planlos, sondern alles aus Sinn und unter Notwendigkeit.“
Dies war das erste klare Diktum des Kausalgesetzes in der abendländischen
Philosophie. Seine Atomlehre kennt die Nachwelt nur durch seiner Schüler
Demokrit, der vermutlich alle Gedanken von Leukipp in sein System aufgenommen
hat.
Demokrit stammte aus
Abdera, der Wirkungsstätte seines Lehrers, und soll nach der antiken
Überlieferung 109 Jahre alt geworden sein. Sein beträchtlich ererbtes Vermögen
gab Demokrit für Studienreisen aus, die ihn nach Ägypten, Persien und Indien
geführt haben sollen. Er sagte über sich selber: „Ich aber bin von meinen
Zeitgenossen am weitesten auf der Erde herumgekommen, wobei ich am
weitesgehendste forschte, und ich habe die meisten Himmelsstriche und Länder
gesehen und die meisten gelehrten Männer gehört.“ Nach seiner Heimkehr führte
er bis an sein Lebensende in seiner Heimatstadt in bescheidener Zurückhaltung
ein ganz dem Studium und dem Nachdenken gewidmetes Leben. Von öffentlichen
Debatten hielt er sich fern und begründete auch keine Schule nach seinen
Lebensgrundsätzen. Seine Studien waren von vielseitiger Art: Seine
Veröffentlichungen erstreckten sich nach antiker Quelle auf die Fächer
Mathematik, Physik, Astronomie, Navigation, Geographie, Anatomie, Physiologie,
Psychologie, Medizin, Musik und Philosophie. Demokrit hat also das von seinem
Lehrer Leukipp erworbene Wissen zu einem geschlossenen System ausgebaut.
Die eleatischen
Philosophen, insbesondere Parmenides, hatten gezeigt, dass Vielheit, Bewegung,
Veränderung, Entstehung und Vergehen nicht denkbar seien, wenn man ein
Nichtseiendes, den völlig leeren Raum, als existierend annehme. Da ihnen diese
Annahme unmöglich schien, waren sie dazu gekommen, Bewegung, Vielheit und die
anderen Bezeichnungen einfach zu leugnen und die alleinige Wirklichkeit eines
unveränderten Seienden zu behaupten. Demokrit war nun einerseits überzeugt,
dass ein absolutes Entstehen aus dem Nichts undenkbar sei, dies hätte auch dem
Lehrsatz des Leukipp von der Notwendigkeit allen Geschehens widersprochen.
Andererseits erschien es ihm aber auch nicht haltbar, wie die eleatischen
Philosophen Bewegung und Vielheit zu leugnen. So entschloss er sich, im
Gegensatz zu Parmenides doch ein Nichtseiendes, eben leeren Raum, als bestehend
anzunehmen. Demnach besteht die Welt nach Leukipp aus zahllosen winzigen, wegen
ihrer Kleinheit nicht wahrnehmbaren Körpern. Diese selbst haben kein Leeres in
sich, sondern füllen den Raum vollständig aus. Sie sind auch nicht teilbar,
weshalb sie Atome, also unteilbare Körper genannt werden. Damit warfen Demokrit
und sein Lehrer Leukipp diesen Begriff zum ersten Male in die wissenschaftliche
und philosophische Debatte. Sie konnten damals noch nicht ahnen, welche
theoretische und praktische Bedeutung dies einst haben sollte. Die Atome sind
unvergänglich und unveränderlich, bestehen alle aus dem gleichen Stoff, sind
dabei aber von verschiedener Größe und einen dieser entsprechenden Gewichtes.
Alles Zusammengesetzte entsteht durch Zusammentreten getrennter Atome. Alles
Vergehen besteht im Auseinandertreten der bis dahin verbundenen Atome. Die
Atome selbst seien ungeschaffen und unzerstörbar. Die Anzahl der Atome sei nach
Demokrit unbegrenzt.
Alle Eigenschaften der
Dinge beruhen auf den Unterschieden in der Gestalt, Lage, Größe und Anordnung
der Atome, aus denen sie zusammengesetzt sind. Jedoch kommen nur die
Eigenschaften der der Schwere, Dichtigkeit und Härte den Dingen an sich zu.
Diese wurden später als primäre Eigenschaften bezeichnet. Alles andere, was den
Menschen als Eigenschaft eines Dinges erscheint, wie Farbe, Wärme, Geruch,
Geschmack, hervorbringende Töne – all das liegt nicht in den Dingen selbst,
sondern hat seine Ursache nur in der Eigenart der Sinne und des
Wahrnehmungsvermögens. Dies ist eine Zutat, die wir zu den Dingen hinzutun.
Dies ist keine objektive, sondern nur subjektive Realität und wird
dementsprechend als sekundäre Eigenschaft klassifiziert.
Von der Ewigkeit her
bewegen sich die unzähligen Atome nach dem Gesetz der Schwerkraft im
unendlichen Raum. Aus ihrem Zusammenstoß und Abprallen entstehen
Wirbelbewegungen, in denen die Atome zu Zusammenballungen, Atomkomplexen,
zusammengeführt werden. So wird Gleiches zu Gleichem gefügt, und es entstehen
die sichtbaren Dinge, so entstehen und vergehen von Ewigkeit her zahllose
Welten, deren die Menschen einer von diesen Welten angehören. Solche
Weltentstehung erfordert keinen planenden und lenkenden Geist, auch keine
bewegenden Kräfte wie Liebe und Hass des Empedokles, aber ebensowenig ist die
dem Zufall unterworfen. Demokrit verwirft den Zufall ausdrücklich als eine
Erfindung, die nur die Unkenntnis der Menschen verhüllen soll. Alles geschieht
mit eherner, dem Seiendem innewohnender immanenter Gesetzmäßigkeit.
Auch Leib und Seele des
Menschen besteht aus Atomen. Die Seele ist insofern etwas, wenn auch sehr
feines Körperliches. Nach dem Tod des Menschen zerstreuen sich die Seelenatome.
Die für die Menschen erreichbare Glückseligkeit besteht in heiterer
Zufriedenheit des Gemüts (ataraxia). Der Weg zu dieser Glücksseligkeit ist
Mäßigung, Geringsschätzung des Sinnengenusses, vor allem der Hochschätzung der
geistigen Güter. Körperkraft sei die Sache von Lasttieren, die Menschen aber
streben dagegen nach Seelenstärke. Die Ethik Demokrits erhebt sich etwas
unvermittelt neben seinem naturphilosophischen System. Dieses ist mit
einzigartiger Folgerichtigkeit durchgeführt. Es wird materialistisch genannt,
weil in der Welt nur stoffliche Atome vorkommen, und es ist das klassische
materialistische System des Altertums, ohne dass alle späteren
gleichgerichteten Systeme nicht denkbar sind
Demokrits Einfluss
reicht in ununterbrochener Linie bis in das wissenschaftliche Weltbild der
Gegenwart hinein. Allerdings ist das, was bislang Atom hieß, nun als ein weiter
Teilbares erkannt worden und man sollte bei den Atomen des Demokrit vielleicht
eher an die nunmehr kleinsten Bestandteile des Seienden angesehenen
Elementarteilchen denken. Anscheinend hat Demokrit keinen Versuch unternommen,
seine Ethik mit seiner Atomtheorie wissenschaftlich zu verknüpfen und so in ein
beide umfassendes philosophisches System einzufügen.
Auch Anaxagoras
entstammte, wie alle bisher behandelten Denker aus dem griechischen
Kolonialreich. Er wurde um 500 in Klazomenai in Kleinasien geboren. Er ist der
erste Denker gewesen, der die Philosophie nach Athen getragen hat, der Stadt,
in der sie nach ihm ihre höchste Blüte entfalten konnte. Zur Zeit des
Anaxagoras fand sie allerdings noch keine günstigen Voraussetzungen. Die
Aufnahme, die ihm in Athen zuteilwurde, das Schicksal, das ihm dort, wie nach
ihm Sokrates bereitet wurde, zeigen dies eindeutig.
Wie sich jetzt zeigte,
war es kein Zufall gewesen, dass das freie philosophische Denken sich bis dahin
nur in den kleinasiatischen, unteritalienischen und thrakischen Kolonien der
Griechen hatte entfalten können. Offenbar war die dem Mutterland und seinen
festen Traditionen ferngerückte Atmosphäre des kolonialen Neulandes viel
günstiger als Athen und das Mutterland, wo diese Traditionen, insbesondere die
religiösen, in kaum verminderter Stärke fortwirkten. Anaxagoras, der sein
Interesse vor allem den Himmelsrichtungen zuwandte und diese auf natürlichem
Wege zu erklären unternahm, geriet in Athen in heftigen Widerstreit mit den
konservativen starren Anschauungen der alteingesessenen Einwohner, dass ihm
schließlich der Prozess wegen Gottlosigkeit gemacht wurde. Auch der Einfluss
des mit ihm befreundeten Staatsmannes Perikles konnte ihn nicht davor bewahren.
Der Vollstreckung des Todesurteils konnte er sich nur durch die Flucht aus
Athen entziehen. Anaxagoras starb dann schließlich verbittert im Exil.
Die philosophischen
Ansichten des Anaxagoras sind mit denen der anderen Naturphilosophen verwandt.
Während aber die alten Milesier nur einen Urstoff annahmen, Empedokles deren
vier, und die atomistische Schule gegenüber diesen eine quantitative Vielheit
der Weltbausteine lehrt, nimmt Anaxagoras eine unbegrenzte Vielheit voneinander
verschiedener Urstoffe an, die er „Samen“ oder „Keime“ der Dinge nannte.
Was Anaxagoras jedoch
von jenen weit stärker unterscheidet und worin seine eigentliche Bedeutung für
die Philosophiegeschichte beruht, ist die von ihm erstmalig vorgenommene
Einführung eines abstrakten philosophischen Prinzips, des Nous. Nous steht für
einen denkenden, vernünftigen und allmächtigen, dabei unpersönlich gedachten
Geist. Dieser Geist hat Anstoß dazu gegeben, dass sich aus dem ursprünglichen
Chaos das schöne und zweckvoll geordnete Ganze der Welt bildete. Hierin
erschöpft such auch bei Anaxagoras die Wirklichkeit des Nous. Überall dort, wo
er im Einzelnen die Erscheinungen und die Ursachen erforscht, sucht er rein
natürliche, mechanische Ursachen auf. Es scheint also, dass Anaxagoras den
göttlichen Geist nur als die erste Bewegung angesehen hat, der der Schöpfung
zwar den ersten bewegenden Anstoß gegeben hat, sie dann aber ihrer
eigengesetzlichen Entwicklung überlassen hat. Aristoteles hat später über
Anaxagoras geäußert, dieser sei mit dem Begriff eines weltordnenden Geistes
unter die vorsokratischen Philosophen wie ein Nüchterner unter betrunkenen
Leuten getreten.
Die Sophisten
Das 6. und das 5.
Jahrhundert v. Chr., in denen an den verschiedensten Stellen des griechischen
Gebietes nahezu gleichzeitig das philosophische Denken erwacht und sich in
zahlreichen originellen Beiträgen zu einer philosophischen Weltansicht
verdichtet, bietet ein Schauspiel, das in der Geistesgeschichte kaum
seinesgleichen findet. Gleichsam treten die verschiedensten Möglichkeiten einer
natürlichen Welterklärung auf. Alle Richtungen der griechischen und
abendländischen Philosophie haben ihre Wurzeln und ihre Vorgänger. Es gibt kaum
ein Problem, das in der späteren Philosophie eine Rolle gespielt hat, das nicht
schon in jener Zeit vorgedacht oder gar gelöst wurde. Die Fragmente der
Vorsokratiker stehen vor uns wie Wissensbrocken, für die Nachwelt vieldeutiger
Auslegung fähig und in ihrer ursprünglichen Ganzheit nur noch zu erahnen.
Gerade die Vielzahl der
Lehren und die zwischen ihnen bestehenden Widersprüche waren es nun aber, die
den nächsten Schritt in der philosophischen Entwicklung fast zwangsläufig
herbeiführten. Je mehr Systeme es gab, umso näher lag die Möglichkeit, und umso
mehr drängte sich die Notwendigkeit auf, zu prüfen und zu vergleichen und den
Widersprüchen auf den Grund zu gehen. Und aus dem Misstrauen, das manche Philosophen
gegen die Zuverlässigkeit der sinnlichen Wahrnehmung als Erkenntnismittel
verbreitet hatten, konnte leicht ein allgemeiner Zweifel an der
Erkenntnisfähigkeit des Menschen überhaupt werden. Damit begann die Tätigkeit
der Sophisten.
Man kann diesen Protagonisten
und ihren besonderen Leistungen nur gerecht werden, wenn man außer der
damaligen Lage der Philosophie die großen Umwälzungen berücksichtigt, die
inzwischen im politischen und gesellschaftlichen Leben Griechenlands vor sich
gegangen waren. Seit der siegreichen Verteidigung der griechischen Autonomie in
den Kriegen gegen die Perser (500-449 v. Chr.) entstand in Griechenland und vor
allem in Athen, das nun zum geistigen und politischen Mittelpunkt Griechenlands
wurde, in der gehobenen Klasse Reichtum und Luxus und damit auch das Bedürfnis
nach höherer Bildung. Die demokratische Verfassung Athens erhob die Kunst der
öffentlichen Rede zu wachsender Bedeutung. In den Volksversammlungen in Athen
und vor den Volksgerichtshöfen hatten diejenigen Personen einen entscheidenden
Vorteil, die ihre Angelegenheit mit den besten Argumenten und in der
geschicktesten Form vertreten konnten. Wer also in Athen Karriere im
politischen Bereich machen wollte, musste eine gründliche Ausbildung als
Staatsmann und Redner vorweisen können.
Diesem Bedürfnis der
Zeit kamen die Sophisten entgegen. Das griechische Wort „Sophistai“ bedeutet
„Lehrer der Weisheit“. Zunächst hatte es auch nur diese Bedeutung, ohne jeden
Beigeschmack. Die Sophisten zogen als Wanderlehrer von Stadt zu Stadt und
erteilten gegen nicht geringe Bezahlung Unterricht in den verschiedensten
Künsten und Fertigkeiten, besonders aber in der Beredsamkeit. Sie waren also
keine Philosophen im eigentlichen Sinne, sondern Praktiker, die theoretischen
Erkenntnissen nur geringen Wert beimaßen. Dieser Umstand wirkte zusammen mit
der oben geschilderten Situation der Philosophie in Griechenland zu dieser Zeit
dahin, dass die meisten Sophisten sich alsbald der Auffassung verschrieben,
eine objektive Erkenntnis sei überhaupt unmöglich. Dabei wirkte auch mit, dass
die steigende Bildung weiterer Kreise die Möglichkeit eröffnet hatte, fremde Völker,
Sitten und Religionen kennenzulernen, wodurch bis dahin nicht erschütterte
Vorurteile ins Wanken geraten waren. Gibt es aber keinen objektiven Maßstab, um
zu entscheiden, wer in einer bestimmten Frage recht hat, so wird es eben darauf
ankommen, wer recht behält, also wer seinen Standpunkt am geschicktesten
durchzusetzen versteht.
Diese zunächst nur
theoretische Skepsis dehnte sich bald auf das Gebiet der Ethik aus. Auch hier
wurde nun gelehrt, dass schließlich beim menschlichen Handeln, wie bei
theoretischen Auseinandersetzungen, der Erfolg allein entscheidet. So wurde die
Redekunst der Sophisten zu einem Mittel der Überredung mehr als der Überzeugung
und in ethischer Hinsicht gab es für die Sophisten kein objektives, alle
bindendes Recht, sondern nur das Recht des Redegewandteren, der letztlich am
überzeugendsten wirkt. Platon lässt einen Sophisten die Rhetorik mit folgenden
Worten kennzeichnen: „Wenn man durch Worte zu überzeugen imstande ist, sowohl
vor Gericht die Richter als in der Ratsversammlung die Ratsherren und in der
Volksversammlung das Volk. (…) Dann hast du dies in deiner Gewalt, so wird der
Arzt dein Knecht sein, der Turnmeister dein Knecht sein, und auch bei dem
Bankier wird sich zeigen, daß er für andere erwirbt und nicht für sich, sondern
für dich, der du verstehst zu sprechen und die Menge zu überzeugen.“
Derselbe Sophist bemerkt
zum Thema Recht und Gesetz folgendes: „Gesetz und Brauch stellen immer die
Schwachen und die Menge auf. (…) Dadurch wollen sie den stärkeren Menschen, die
die Kraft besäßen, sich mehr Vorteile zu verschaffen als sie, einschüchtern
und, damit sie dies nicht tun, sagen sie, es sei häßlich und ungerecht, auf
mehr Vorteile auszugehen. (…) Denn sie, meine ich, sind ganz zufrieden, wenn
Gleichheit herrscht, weil sie die Minderwertigen sind. (…) Meines Erachtens
beweist die Natur selbst, die Gerechtigkeit bestehe darin, daß der Edlere mehr
Vorteile hat als der Geringe, und der Leistungsfähigere mehr als der minder
Leistungsfähige. An vielen Fällen, sowohl bei den übrigen Lebewesen als auch
bei den Menschen, an ganzen Staaten und Geschlechtern sieht man, daß es sich so
verhält: daß nämlich das als gerecht anerkannt wird, daß der Stärkere über den
Schwächeren herrscht. (…) Oder welches Recht konnte Xerxes für sich in Anspruch
nehmen, als er gegen Griechenland zu Felde zog? – man könnte ja tausend solcher
Beispiele anführen! Wahrhaftig, ich meine, diese Männer handeln so nach der
Natur der Gerechtigkeit und – beim Zeus!- nach dem Gesetz der Natur, freilich
nicht nach dem Gesetz, was wir fingieren, die wir die tüchtigsten und stärksten
Persönlichkeiten unter uns schon in der Jugend vornehmen und wie Löwen bändigen,
indem wir sie hypnotisieren und ihnen suggerieren, es müsse Gleichheit
bestehen, und das sei gut und recht. Wenn aber, mein ich, ein Mann ersteht, der
die genügende Kraft dazu hat, dann schüttelt er das alles ab, zerreißt seine
Bande (…) tritt unser Buchstabenwerk, unsere Hypnose, unsere Suggestion und die
sämtlichen naturwidrigen Gesetze und Bräuche mit Füßen, unser bisheriger Sklave
tritt auf einmal vor uns hin und erweist sich als unser Herr, und das leuchtet
in seinem Glanz das Recht der Natur!“
Die Leugnung objektiver
Maßstäbe für Wahrheit und Gerechtigkeit, in Verbindung mit der Tatsache, dass
die Sophisten für ihren Unterricht eine hohe Bezahlung zu nehmen pflegten,
während ihnen die dem Erwerb dienende Arbeit an sich als verächtlich galt,
führte zu dem negativen Bild der Sophisten bei Platon und Aristoteles, die sich
gegen die Sophisten und ihre Weltdeutung auflehnten.
Die Sophisten bildeten
niemals eine zusammenhängende Schule, sondern lebten und lehrten als einzelne
Personen. Sie wichen daher in verschiedener Weise voneinander ab. Der
wichtigste der Sophisten war Protagoras von Abdera, der etwa von 480-410 v.
Chr. lebte. Er durchwanderte ganz Griechenland und lehrte als einer der ersten
die Kunst, im Bereich des Rechtswesens und der Politik die eigene Sache so
überzeugend darzustellen, und erwarb sich dabei in Athen Ruhm und Reichtum. Der
berühmteste Ausdruck des Protagoras lautete: „Der Mensch ist das Maß aller
Dinge, des Seienden für sein Sein, des Nichtseienden für sein Nichtsein.“ Damit
wollte er andeuten, dass es keine absolute Wahrheit, sondern nur eine relative
gibt. Es gibt auch keine objektive, sondern nur eine subjektive, eben für den
Menschen. Ein und derselbe Satz kann einmal wahr und einmal falsch sein, je
nachdem, von wem und unter welchen Umständen er ausgesprochen wird. Für diese
Lehre hat sich Protagoras sowohl auf das ewige Fließen des Heraklit wie dessen
Gesetz von der Einheit der Gegensätze berufen. Die Skepsis des Protagoras
schließt auch die Religion nicht aus. Eine Schrift von ihm soll nach antiker
Überlieferung mit dem Satz begonnen haben, dass man von den Göttern weder
wissen könne, ob sie existieren oder auch nicht. Dies zu ermitteln sei die
Sache als solche viel zu dunkel und unser Leben viel zu kurz. Dies führte dazu,
dass Protagoras der Gottlosigkeit angeklagt wurde und aus Athen verbannt wurde.
Neben Protagoras ist
Gorgias von Leontinoi der bekannteste Sophist in dieser Zeit. Er lebte etwa zur
selben Zeit wie Protagoras. In seiner Schrift „Über das Nichtseiende oder die Natur“
bewies er mit einem an Zenons Dialektik geschulten Argumentationsmuster, dass
erstens überhaupt nichts existiere, zweitens, wenn doch etwas existieren würde,
es jedenfalls unerkennbar wäre und drittens, selbst wenn etwas erkannt werden
könnte, solche Erkenntnis nicht mitteilbar wäre. Die skeptische Philosophie des
Protagoras wurde hier von Gorgias noch einmal radikalisiert.
Für die Geschichte der
Philosophie liegt der Wert der Sophistik nicht so sehr in den einzelnen von ihr
hinterlassenen Lehrsätzen und Einstellungsmustern, sondern in drei
verschiedenen Verdiensten. Erstens haben die Sophisten zum ersten Mal in der
griechischen Philosophie den Blick von der Natur weg auf den Menschen gelenkt.
Zweitens haben sie das Denken selbst erstmals zum Gegenstand des Denkens
gemacht und mit einer Kritik seiner Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen
begonnen. Sie haben auch die ethischen Wertmaßstäbe einer ganz vernunftgemäßen
Betrachtung unterzogen und damit die Möglichkeit für die kommende Philosophie
eröffnet, die Ethik wissenschaftlich zu behandeln und sie in ein
philosophisches System folgerichtig mit aufzunehmen. Daneben haben die
Sophisten aufgrund ihrer eingehenden Beschäftigung mit Stilkunde und
Beredsamkeit auch Sprachwissenschaften und die dazu gehörige Grammatik
vorangebracht. Die Sophistik war aber insgesamt gesehen nur eine
Übergangserscheinung, aber eine so bedeutsame, dass ohne sie die folgende
Blütezeit der griechischen und genauer gesagt attischen Philosophie nicht
denkbar gewesen wäre.
Die Lehre des Sokrates
ist unmittelbar verbunden mit dem Aufkommen der Sophistik im antiken
Griechenland. Sokrates war ein tiefreligiöser Mensch, der die Pflichten
gegenüber den Göttern zu den wichtigsten Pflichten des Menschen zählte. Sein
Instinkt ließ ihn an dem bloßen dialektischen Spiel, das alles und nichts
beweist und am Ende eine Zerstörung jeden Maßstabes zutage fördert, keinen
Gefallen finden. Er fühlte, dass eine innere Stimme in ihm war, die ihn leitete
und von ungerechten Handlungen abhielt. Diese nannte er „daimonion“, das
Gewissen. Für ihn bedeutete Tugend gleich Einsicht. Wo es unmöglich ist, das
Rechte zu tun, wenn man es nicht kennt, so war es nach Sokrates auch unmöglich,
das Rechte nicht zu tun, sofern man es nur kennt. Denn da niemand anderes tut, was
seinem eigenen Besten dient, das sittlich Gute aber nichts anderes ist als
dieses, so braucht man den Menschen nur über die wahre Tugend belehren, um sie
tugendhaft zu machen.
Diese Verknüpfung der
Tugend mit dem Wissen ist das eigentlich Neue an der Lehre des Sokrates. Mit
der Aufdeckung des Nichtwissens will er seine Zeitgenossen zur Selbstprüfung
und Selbsteinkehr aufrufen. Wenn die Menschen durch Selbstbesinnung und Einkehr
in ihr inneres Wesen zur Einsicht in die sittliche Armut und Blindheit gebracht
sind, in der sie leben, werden sie laut Sokrates zum Suchen und Sehnen nach dem
sittlichen Ideal kommen. Sokrates wandte sich niemals an eine allgemeine
Menschenmenge, sondern immer nur an den vor ihm stehenden einzelnen Menschen.
Als Menschenbildner, vom Glauben an die Menschen und Liebe zu ihm getrieben,
muss man ihn und seine Lehre verstehen, er war niemals ein Lehrer allgemeiner
abstrakter Sätze. Die Nachwirkung des Sokrates beruht auf seiner einzigartigen
Persönlichkeit, die den Nachkommen noch immer menschlich nahe sein kann, als
auf dem, was er lehrte, indem nämlich mit ihm etwas in die Menschheit eintrat,
was von da an zu einer immer weiter wirkenden ethischen und gesellschaftlichen
Kraft wurde: die an sich unerschütterlich gegründete, autonome sittliche
Persönlichkeit. Das ist das Vermächtnis von Sokrates vom innerlich freien
Menschen, der das Gute um seine selbst willen tut.
Buchheim, T.: Die
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