Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 30.07.16 |
Heiligt das Streben nach übermenschlicher Perfektion längst schon alle Mittel?
von Bernd Westermeyer
Wer sich nicht länger über den
US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf, den neuen politischen Kurs der
Türkei oder die Verstärkung der Einschüchterungsversuche von Terroristen durch
sensationsheischenden "soziale" und andere Medien aufregen möchte, wendet
sich zur Ablenkung vielleicht hoffnungsvoll der Sportberichterstattung zu. Nach
einer Fußball-Europameisterschaft, die die gewaltigen sozialen Probleme
Frankreichs und Europas nicht als Sommermärchen zu kaschieren vermochte, ist
diese inzwischen allerdings vom Thema "Doping" und dem Ausschluss der
meisten russischer Athleten von den anstehenden Olympischen Spielen in
Brasilien bestimmt.
Staatlich organisiertes „Doping“ wird vom
IOC leider nur halbherzig sanktioniert, durch Fachverbände, die Politik sowie
Medienvertreter aber völlig zu Recht sehr kritisch angesprochen.
Überheblichkeit gegenüber Russland ist gleichwohl fehl am Platze, denn im toten
Winkel bleibt die Tatsache, dass Doping gerade auch in der westlichen Welt
längst nicht mehr nur im Bereich des Sports zum Problem geworden ist.
Verdienst statt
Verdienste
Das deutsche Wort „Leistungsgesellschaft“
wird im Englischen mit „meritocracy“ übersetzt. Tatsächlich wird in unserer
durch Konkurrenz und Profitmaximierung getriebenen globalisierten Welt
allerdings zunehmend weniger dafür geworben, Idealen zu folgen und sich zum
Beispiel um das Gemeinwesen verdient zu machen. Stattdessen liegt der Fokus
klar auf Leistung, auf maximaler Leistung, von der ein jeder Leistungsträger
hofft, dass sie in besonderer Weise belohnt oder mit einem besonders hohen
Verdienst einhergehen möge.
Fataler Weise glaubt man mittlerweile
selbst im Bildungsbereich, Leistung sei stets objektiv messbar, damit
vergleichbar und erlaube in der Zusammenschau die unausgesetzte Auslese der
oder des Besten im freien Wettbewerb. Im Wettbewerb um die besten Schulen, im
Wettbewerb um die besten Ausbildungs- und Studienplätze, im Wettbewerb um die
interessantesten Stipendien, Praktika und Arbeitsplätze oder – aus Perspektive
eines Arbeitnehmers bzw. Selbständigen – auch im Wettbewerb um die lukrativsten
Kundenaufträge. Vor diesem Hintergrund wächst der Druck auf Kinder, Jugendliche
und Berufstätige, der Druck auf jeden Einzelnen von uns, jederzeit
Höchstleistung zu erbringen und dazu auch das Letzte aus sich herauszuholen.
Erkenne Dich
selbst!
Kurt Hahn, dem international überaus
wirkmächtigen Gründer der Schule Schloss Salem, wird das Motto „Plus est en
vous!“ – „In Dir steckt mehr als Du denkst!“ zugeschrieben. Auf den ersten
Blick ist die Verabsolutierung des Leistungsbegriffs also selbst in einer bis
heute aus Überzeugung ganzheitlich orientierten Internatsschule seit
Jahrzehnten angelegt.In
der Tat war und ist Leistungsorientierung in Salem und für jeden ambitionierten
Menschen wichtig und durchaus nicht ungesund. Eher das Gegenteil ist der Fall: Echte
Herausforderungen sowie intellektuelle und physische Grenzerfahrungen sind
gerade auch während der Schulzeit in gutem Sinne prägend. Sei es, um sich durch
das eigene Potential positiv überraschen zu lassen oder auch, um zu erkennen,
dass man seine individuellen guten Anlagen, Kenntnisse, Fähigkeiten und
Fertigkeiten ein Leben lang weiter entwickeln und auszubauen vermag.
„Nobody is perfect but me“
Gefährlich kann diese Arbeit an sich
selbst werden, wenn die eigene natürliche Begrenztheit nicht mehr akzeptiert
wird und leistungssteigernde Substanzen ins Spiel kommen. Keineswegs spreche
ich hier von einem belebenden Espresso vor dem Start in den Tag oder von der
beruhigenden Tasse Tee vor dem Vorstellungsgespräch. Ich spreche von so genannten
„smart drugs“, von Medikamenten oder chemischen Mixturen also, die
beispielsweise die Konzentrationsfähigkeit verbessern, Müdigkeit oder Nervosität
unterdrücken, oder andere willkommene Wirkungen haben (können / haben sollen).
Problematisch ist zum einen, dass
viele dieser bei längerer oder fehlerhafter Anwendung ruinös wirkenden „smart
drugs“ ohne Aufwand legal zu erwerben sind. Zum anderen gibt das so genannte „biohacking“,
die experimentelle Suche nach der oder den wirksamsten Substanzen zur Überwindung
eigener Leistungsdefizite, leider nicht mehr nur im Profi-Sport oder an grenzwertig
fordernden Arbeitsplätzen wie Krankenhäusern Anlass zur Sorge. Einer
gnadenlosen Logik folgend strahlt dieser Ansatz längst auch an unseren
Universitäten und Schulen aus.
Philosophen
braucht das Land
Durch Verbote wird unsere Gesellschaft
mit diesem allgemeinen „Doping“-Phänomen kaum wirksam begegnen können.
Stattdessen bedarf es einer neuen gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung
mit dem entfesselten Leistungsbegriff der Gegenwart, der uns Menschen als „human
resources“ im Grunde nur noch an unserem messbaren und verwertbaren „output“
misst.
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