Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 15.09.16 |
von Bernd Westermeyer
Sehen Sie
einen Trend zum Nichtwissen? Tritt das Allgemeinwissen in den Hintergrund?
Man kann auf
der einen Seite feststellen, dass das Wissen explodiert und auf der anderen
Seite die sogenannte Allgemeinbildung zurückgeht. Das liegt aber nicht am
mangelnden intellektuellen Potenzial der neuen Generationen, sondern daran,
dass wir ihnen als Gesellschaft einen Rahmen bieten, der nicht mehr dazu
motiviert, sich mit Anstrengungsbereitschaft mit bestimmten Problemen
auseinanderzusetzen und auch die Herausforderung zu suchen. Wir leben in einem
Wohlfühlsystem, in dem man sich bemüht, es den Kindern und Jugendlichen so
bequem und schön wie möglich zu machen. Damit nimmt man ihnen aber die
Motivation, sich auch mit schwierigen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Sie
bemerken nicht, dass sie zur Lösung bestimmter Fragen tatsächlich Wissen
benötigen und sich dieses aneignen müssen. Natürlich tragen wir als
Gesellschaft ein hohes Maß an Verantwortung. Es kann aber nicht sein, dass man
Kinder vor das Tablet setzt und ihnen eine Welt organisiert, die sie weder
physisch noch intellektuell herausfordert.
Was könnte
Bildung 4.0 für die junge Generation von Schülern bedeuten?
Wichtig ist,
dass wir unsere Schüler und kommenden Studenten dahingehend unterrichten, dass
sie durch die virtuelle Welt nicht zu internetsüchtigen Spielern werden. Wir
müssen sie vielmehr zu einem realen Leben und Erleben ermutigen. Denn nur so
erhalten sie ein Selbstwertgefühl, das sie gegenüber den Verführungen und
Möglichkeiten des Internets und der digitalen Welt immunisiert. Dies heißt aber
nicht, sich den digitalen Entwicklungen feindlich entgegenzustellen. Für uns in
Salem ist es wichtig, dass der junge Mensch Herr des Geschehens bleibt und
nicht am Ende eines Algorithmus zappelt, der seine Individualität fernsteuert.
Dass diese Gefahr allerdings besteht, dies sehe ich deutlich.
Was zeichnet
Ihrer Meinung nach die Generation Y aus? Für manche ist diese spießig und
konservativ, für andere interesselos, apolitisch und lediglich
durchtechnifiziert.
Es ist ein
Fluch unserer Zeit, Menschen schematisch mit Etiketten zu versehen und in
Generationen einzuteilen. Wenn man genau hinschaut, sieht man alle Couleurs,
Politikverdrossene und politikinteressierte Optimisten. Ich bin mir auch nicht
sicher, ob die Generation Y wirklich unsere Gegenwart prägt. Sie lebt in dieser
und nutzt die Möglichkeiten, die ihr ganz andere Generationen zur Verfügung
gestellt haben. Ob sie in der Lage sein wird, Probleme nicht nur zu
thematisieren, sondern die Dinge auch tatsächlich anzupacken, das wird sich
zeigen. Die Mehrheit der Jugendlichen ist nicht politikverdrossen, sondern
politikerverdrossen. Und dies hat damit zu tun, dass uns Politiker fehlen, die
eine klare Position beziehen, die bereit sind, ihren Beruf für eine Zeit
zurückzustellen, um ihre Kenntnisse und Fähigkeiten dem Gemeinwohl zur
Verfügung zu stellen. Derzeit ist es so, dass über die Jugendorganisationen der
Parteien Studierende in den Beruf des Politikers hineinwachsen. Das überzeugt
nicht und entspricht auch nicht dem Bild der Generation, die Deutschland nach
dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut und geführt hat. Das waren zum Großteil
Menschen, die in unterschiedlichsten Funktionen auch schon anderswo
Verantwortung getragen haben.
Ob Friedrich
Schiller oder andere Gelehrte des 18. bis 20. Jahrhunderts. Immer ging es in
den verschiedenen Erziehungskonzepten um Elite. Wie macht man Elite?
Eliten sind
für Gesellschaften sehr wichtig. Aber Elite hat immer etwas mit Auswahl zu tun
und einer gewissen Besonderheit. Mir ist der hanseatische Ansatz sehr
sympathisch, dass man durchaus einer Elite angehören kann, aber eben selbst
nicht darüber spricht. Man wird von den anderen als Vorbild wahrgenommen, als
jemand, der in einer bestimmten Position mehr leistet und mehr einbringt, als
er müsste, und das ohne einen persönlichen Vorteil daraus zu generieren. Das
wäre für mich ein Ideal einer Verantwortungselite. Und dieses Ideal verfolgen
wir in Salem. Ich habe schulintern jüngst darauf hingewiesen, dass Schülerinnen
und Schüler, die Salem besuchen, mit dem Besuch dieser Schule keinesfalls
automatisch irgendeiner Elite angehören. Sie haben in Salem die Möglichkeit,
ihre Talente umfassend zu entfalten, und die Möglichkeit, einen guten Start in
ein Studium zu finden. Aber weiter würde ich es nicht spannen. Sehr wohl würde
ich aber davon sprechen, dass viele unserer Pädagoginnen und Pädagogen einer
Elite angehören, die nicht so wie andere sogenannte Eliten schillert. Lehrer
sind tatsächlich eine Art Elite, weil sie unserer Gesellschaft an einer
entscheidenden Stelle Zukunft ermöglichen. Und das ist das Gegenteil von dem,
was Gerhard Schröder (SPD) seinerzeit mit dem Statement, Lehrer seien „faule Säcke“,
genau in die andere Richtung formulierte. Es gibt diese Eliten jenseits der
Reichen, Prominenten und Erfolgreichen. Das kann eine Schwester im Krankenhaus
sein, das kann ein Sozialarbeiter sein. Diese Menschen sind unendlich wertvoll
für unsere Gesellschaft. Sie sollten am Ende ihres Lebens unbedingt das
Bundesverdienstkreuz bekommen – weniger die schillernden Stars und Sternchen,
die man in den Medien findet.
Die
Schulnotenvergabe ist ein Dauerthema im politischen Diskurs. Manche
Bundesländer wollten diese gar abschaffen. Wie wichtig ist das
Leistungsprinzip, die Notengebung?
Grundsätzlich
ist es so, dass Kinder gerne wissen, wo sie stehen. Wichtig ist, dass sie die
Note nicht mit ihrem eigenen „Wert“ verwechseln. Ein Kind also, das eine 5 nach
Hause bringt, sollte sich nicht als ein mangelhafter Mensch sehen, aber es sollte
verstehen, dass die Note wie ein Blick in den Spiegel ist, der irgendeinen
Leistungsstand spiegelt. Also grundsätzlich: Rückmeldungen zum
Leistungsvermögen sind wichtig. Insgesamt ist es aber so, dass das
Notengebungssystem in Deutschland heute einem Würfelspiel ähnelt. Das ist eine
sehr gewagte These. Aber die Noten, die man für eine bestimme Leistung bekommt,
dürften innerhalb Deutschlands tatsächlich gewaltig variieren. Wenn man also
anonymisiert eine bestimmte Leistung unterschiedlichen Lehrern in
unterschiedlichen Schulen vorlegte, gäbe es ganz unterschiedliche Ergebnisse.
Das liegt natürlich in der Subjektivität der Beurteilung des einzelnen Lehrers
begründet, das liegt aber auch am System. Und die Bundesländer treiben einen
Bildungsföderalismus auf die Spitze, der wirklich abstrus an das 19.
Jahrhundert und die Kleinstaaterei erinnert. Wenn bestimmte Abschlussquoten und
Leistungsbilder nicht erreicht werden, beginnt man im System die Statistik zu
frisieren. Dann werden Bemessungsgrundlagen für bestimmte Notenentscheidungen
verändert und das erinnert an die DDR, wo man die Statistik, je nachdem wie sie
ausfiel, frisiert oder schöninterpretiert hat. Das ist tödlich. Das Bildungssystem
darf in Deutschland nicht die letzte real existierende Planwirtschaft sein. Und
in manchen Bereichen hat man eben den Eindruck, dass dem so sei. Dies mag darin
begründet liegen, dass Bildung im Grunde der letzte Bereich ist, in dem die
Bundesländer noch eine Hoheit haben und auch der Bund oder Europa nicht
reinreden können. Aber gesamtsystemisch gesehen ist es eine Katastrophe. Frau
Schmoll von der „FAZ“ hat den Finger in die Wunde gelegt und gezeigt, wie
unterschiedlich die Ergebnisse am Ende ausfallen, je nachdem in welchem System
man zu Hause ist. Dass es keinen gesamtgesellschaftlichen Aufstand bei der
Notenvergabe gibt, liegt wohl darin begründet, dass immer nur eine relativ
kleine Gruppe von Eltern konfrontiert ist. Aber wir als bundesdeutsche
Gesellschaft können es uns eigentlich nicht leisten, ein so fragmentiertes Schulsystem
zu haben, gerade in einer Welt, in der sich Strukturen vereinheitlichen und man
in Konkurrenz mit sehr leistungsstarken Bildungsnationen steht. Jede Leistung
ist also relativ, je nachdem wie das Schulsystem ausschaut. Es ist überhaupt die
Frage, ob man die Qualität einer Schule am Durchschnitt des Schnitts aller
Absolventen bemessen kann, ob es nicht wichtiger wäre, wenn jedes Kind
individuell möglichst gefordert würde – und die Qualität an der individuellen
Lernbiografie festgemacht würde. Das gäbe ein viel realistischeres Bild. Wenn
man in die Viten vieler unserer sehr erfolgreichen Eltern schaut oder unserer
Alumni, die beruflich sehr erfolgreich sind, so waren die wenigsten
Einser-Kandidaten. Sie alle aber hatten bestimmte Felder, in denen sie
wahnsinnig stark und ambitioniert waren, und diese Bereiche haben sie sich zum
Beruf gemacht. Die Noten darf man keineswegs verabsolutieren, aber unsere
Gesellschaft ist leider extrem darauf fixiert. Schlimm ist, dass es immer noch
einen Numerus clausus gibt, der das noch befeuert und so tut, als gäbe es diese
Objektivität, die tatsächlich aber nicht existiert.
Universitäten
setzen seit einigen Jahren verstärkt auf Exzellenzcluster. Hier fließt viel
Geld. Fehlt dieses den Schulen, sind diese unterfinanziert?
Insgesamt
gibt es eine Unterfinanzierung im Bildungsbereich. Es ist eine Floskel, die
schon niemand mehr hören kann, dass Bildung unser wichtigster Rohstoff sei.
Aber dem wird nicht Rechnung getragen, gemessen an dem, was wir als Staat anderswo
ausgeben. Der Bildungsbereich müsste wesentlich stärker finanziert werden –
dies gilt auch für die frühkindliche Bildung. Denn bereits hier werden die
entscheidenden Weichenstellungen vorgenommen. Mehr Geld also für Kindergärten
und Grundschulen. 10 Prozent der Leitungspositionen in Grundschulen sind
derzeit nicht oder kommissarisch besetzt. Das ist ein Desaster. Wir sparen uns
im wörtlichen Sinne kaputt. Dies kann man später mit Exzellenz nicht mehr
kompensieren. Darüber hinaus brauchen wir, schon demografisch bedingt, sehr viele
Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen, möglichst Qualifizierte, die sich
auf unser Bildungssystem einlassen. Wir müssen uns in dem Bereich also als
ganze Gesellschaft viel mehr engagieren, denn unsere Rolle in der Welt als
Exportweltmeister ist kein Selbstläufer. Die Machtgewichte verschieben sich
längst in Richtung Asien. In Indien und China werden die klugen jungen Leute
ganz anders gefördert. Dort wachsen Millionen Menschen auf, die gut
ausgebildet, hungrig nach Bildung und Leistungsbereit sind. Wir müssen unsere
Kinder und Jugendlichen in die Lage versetzen, hier mitzuspielen. Doch das
nehmen wir im Augenblick noch nicht ernst genug.
Wir leben in
bewegten Zeiten. Eine Krise jagt die nächste. Brexit, Eurokrise,
Flüchtlingskrise. Wie erleben die Schüler und Studenten diese Umbrüche? Wie
stehen sie zur Flüchtlingskrise? Die ältere Generation ist vielfach mit diesen
Themen überfordert und driftet auch in Europa nach rechts ab.
Salem ist
multinational und die Vielfalt unser Schatz. Die eigene Nationalität,
Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung etc. spielt mit Blick auf den
eigenen Status keine Rolle. Ich würde daher auch nicht davon sprechen, dass
sich neue Schüler integrieren müssen. Der gute Gedanke der Inklusion ist
vielmehr der, dass man sich so, wie man ist, respektiert, dass man
nebeneinander lebt, ohne in die Sphäre des anderen einzugreifen. Auf unsere
Gesellschaft projiziert würde das heißen, dass jeder, der nach Deutschland
kommt, unsere Verfassung anzuerkennen und sich an ihr zu orientieren hat.
Darüber hinaus kann er sein privates Leben frei gestalten. Was wir daher
brauchen, ist eine inklusive Gesellschaft.
Einen
gesamtgesellschaftlichen Trend gegen Flüchtlinge sehe ich nicht. Vielmehr
glaube ich daran, dass es ein ganz starkes Fundament gibt, das ein offenes
Deutschland trägt. Unsere Gesellschaft ist stark und diese Demokraten gibt es
auch unter unseren Schülern. Sie nehmen sehr bewusst wahr, welche Freiheiten
und Möglichkeiten sie haben, und dass man diese gegen Menschen, die
schwarz-weiße Weltbilder zeichnen und in Schubladen denken, verteidigen muss.
Die gelebte Vielfalt in Salem ist die beste Immunisierung gegen die
Rattenfänger von links wie von rechts. Was ich allerdings sehe, ist eine
Politik, die nur als Krisenmanagement „funktioniert“. Es gibt kaum proaktive
Politik, die ein Ziel formuliert, und nicht nur auf Sicht fährt. Unsere
Jugendlichen sollen ihre Träume und Ziele haben, aber so können sie diese nicht
verwirklichen.
Wer kann
sich Salem leisten, nur die Reichen? Und ist das dann die Elite?
Nein, Salem
hat ein sehr gut ausgebautes Stipendienwesen. Im Augenblick sind etwa 23 bis 24
Prozent der Schülerinnen und Schüler Stipendiatinnen und Stipendiaten, nicht
alles Vollstipendiaten, aber so, dass sie, orientiert an den Einkommens- und
Vermögensverhältnissen der Eltern, gefördert werden, weil sie sich sonst die
Schule nicht leisten könnten. Eine Hauptaufgabe dieser Schule ist es, dies hat
schon der Gründer formuliert, die Kinder der Mächtigen und sehr Wohlhabenden
von der bedrückenden Last ihrer Privilegiertheit zu befreien. Es ist im
Interesse unserer Gesellschaft, dass Kinder nicht im goldenen Käfig aufwachsen,
sondern mit einer gewissen Erdung in einer fordernden Umgebung. Es ist für das
Kind eines Millionärs unglaublich heilsam und gut, mit einem Kind zusammen zu
sein, das den Euro umdrehen und sich überlegen muss, ob es sich die Kugel Eis
leisten kann. So wird er mit einer anderen Lebensrealität konfrontiert. Vieles
ist dann nicht mehr so selbstverständlich. Luxus gibt es im Internat nicht.
Jeder, der herkommt, lässt viel von dem zurück, was er zu Hause an Komfort
hatte, das Einzelzimmer, oft das eigene Bad. Unsere Schülerinnen und Schüler verzichten
auf sehr viel, aber sie haben dafür eine schöne Gemeinschaft, die ein Leben
lang hält und trägt.
Das Gespräch
führte Stefan Groß.
Der Text erschien in der Printausgabe des The European
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.