Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 16.09.16 |
von Christian Lindner
Sie
haben gesagt, „die Erwartungen an Merkel waren hoch und wurden enttäuscht“. Was
macht Merkel falsch, ist sie derzeit die falsche Bundeskanzlerin? Die Mehrheit
der Deutschen ist mit dem Kurs aus Berlin nicht mehr zufrieden – „Schaffen wir
das“ trotzdem?
Die
Bundeskanzlerin selbst hat ja in den vergangenen Monaten ihre Position
verändern müssen. Sie sagt zwar noch: Wir schaffen das. Aber sie hat gemerkt,
dass wir das so nicht schaffen. Ihr Handeln ist zum Glück schon weiter als ihre
Rhetorik. Erstens ist es jetzt nötig, dass Europa einen eigenen Grenzschutz
bekommt. Die Agentur Frontex sollte zu einer Behörde mit hoheitlichen
Befugnissen und hinreichend Personal aufgewertet werden. Zweitens ist die Große
Koalition nicht in der Lage, ein vernünftiges Einwanderungsgesetz vorzulegen.
Das ist überfällig! Es muss unterscheiden zwischen Flüchtlingen, mit denen wir
solidarisch sind, solange sie in ihrer Heimat bedroht sind. Aber danach muss
die Ausreise die Regel sein. Die andere Gruppe sind Migranten, die ihr Glück
bei uns suchen wollen. Hier müssen wir genau auswählen, wen wir in unseren
Arbeitsmarkt einladen und bei wem wir das nicht tun können. Drittens erwarte
ich, dass die Regierungen in Bund und Ländern keine sinnlosen Symboldebatten
führen, sondern darüber diskutieren, wie die bestehenden Gesetze durchgesetzt
werden können. Die Sicherheitslage hat sich geändert. Aber wir brauchen nicht
neue Gesetze oder Befugnisse, sondern Polizeibehörden, die modernisiert und
besser ausgestattet werden.
Was
hätten die FDP und Christian Lindner bei der Flüchtlingskrise anders gemacht?
Ein entscheidender Fehler war, dass der Eindruck erweckt
wurde, es gebe keinerlei Regeln für Zuwanderung nach Deutschland und das Asylrecht
sei eine Art allgemeiner Einwanderungsparagraf. Deutschland hätte sich
frühzeitig auf europäischer Ebene dafür einsetzen müssen, dass man das Modell
des humanitären Schutzes anwendet. Darüber hätten wir sehr schnell und
unbürokratisch Flüchtlingen Schutz gewähren können, aber eben nur für die Zeit,
solange die Fluchtursache anhält. Das hätte die Überlastung des Bundesamts für
Migration verhindert, da kein individueller Antrag mehr nötig gewesen wäre und
man klare Regeln gehabt hätte. Diesen Fehler laste ich der Regierung an.
Übrigens: Der Umgang mit einem Flüchtlingsstrom ist Deutschland in den
1990er-Jahren bei den Flüchtlingen aus dem Kosovo besser gelungen. Allerdings
hat auch damals ein Einwanderungsgesetz gefehlt, das denjenigen, die sich gut integriert
hatten, eine Bleibeperspektive eröffnet hätte. Die mussten alle ausreisen,
obwohl wir viele davon gebraucht hätten.
Immer
noch sind Millionen Menschen auf der Flucht, geschätzte 65 Millionen sind
heimatlos. Der Run auf Europa ist derzeit gebremst, doch was ist, wenn die
Türkei aus dem brüchigen Bündnis fällt? Welche Alternative hat die FDP?
Es muss deutlich werden, dass nicht jeder, der sein Glück
sucht, es bei uns finden kann. Auch wenn wir die individuellen Gründe
verstehen.Aber dazu reichen unsere
Möglichkeiten nicht. Offene Grenzen sind kein Ausweis für Liberalität, sondern
von Anarchie. Deshalb gehört zu einem Rechtsstaat, dass er seine Souveränität
über seine Grenzen und darüber, wer sich innerhalb dieser aufhält, behält.Auf Europa übertragen bedeutet das den Schutz
der Außengrenzen als Voraussetzung dafür, dass Europa im Inneren auf Grenzen
verzichten kann. Der Schutz der Außengrenzen ist für einen Rechtsstaat
unersetzlich. Ich halte es für eine Kapitulation, wenn zeitweise gesagt wurde,
dass es im Zeitalter der Globalisierung eine Illusion sei, Grenzen schützen zu
können. Der Schutz ist eine Notwendigkeit in unserem wohlverstandenen
Eigeninteresse. Alles andere ist ein humanitärer Narzissmus, eine
Gesinnungsethik, die blind gegenüber den konkreten Folgen des politischen
Handelns geworden ist. Was wir dagegen brauchen ist eine Verantwortungsethik,
die humanitäre Verantwortung wahrnimmt, aber auch die Folgen auf unsere
europäische Gesellschaft achtet.
War
Merkels Erdogan-Deal falsch? Wieso verhandeln aufgeklärte Europäer überhaupt
mit islamischen Despoten? Gehört die Türkei in die EU?
Es war falsch, sich einseitig bei der Bewältigung der
Flüchtlingskrise ausgerechnet auf Herrn Erdogan zu verlassen. Das hat
Deutschland vom Goodwill eines türkischen Autokraten abhängig gemacht. Und das
spüren wir jetzt. Die innere Entwicklung der Türkei hat uns seit vielen Jahren
besorgt. Die FDP hatte schon vor den aktuellen Ereignissen dafür plädiert, die
Beitrittsgespräche zu beenden. Und diese haben mittlerweile einen
Zombiecharakter angenommen. In Europa kann kein Land aufgenommen werden, das
zentrale europäische Werte nicht achtet – und das nicht erst seit der Debatte
über die Einführung der Todesstrafe. Man kann mit der Türkei irgendwann einmal
wieder über die Liberalisierung des Handels sprechen. Gegenwärtig sehe ich
dafür keine Voraussetzung. Europa darf nicht wieder das Schema der vergangenen
Jahre wiederholen, dass unsere Werte immer wieder relativiert und verwässert
werden. Genau das gäbe den Gegnern der europäischen Idee immer neue Argumente
an die Hand, wie sie das Fundament des großartigen Projekts unterspülen
könnten.
Die
Angst vor dem Terror geht um – wahrscheinlich ist das erst der Anfang einer
Kette von Gewalt, die in den nächsten Jahren weiter an Explosionskraft gewinnen
wird. Die USA warnen bereits vor Reisen in die Bundesrepublik. Wie werden wir
dieser neuen Unübersichtlichkeit wieder Herr?
Es gibt keine Patentrezepte oder einfachen Lösungen. Sie
haben selbst das Wort Unübersichtlichkeit gebraucht. Umso wichtiger ist es,
dass wir jetzt die Nerven behalten. Wir haben die Bedrohung durch die RAF im
deutschen Herbst überstanden, ohne dass Deutschland seinen liberalen Charakter
verloren hat. Es waren damals liberale Innenminister, die das Bundeskriminalamt
zur modernsten Behörde der Welt gemacht haben. Ein solchen Kraftakt brauchen
wir jetzt wieder. Eine Stärkung unserer Sicherheitsbehörden, um die
Wehrhaftigkeit des liberalen Rechtsstaates zu gewährleisten. Wenn wir unsere
Liberalität aufgeben, wenn wir uns geradezu selbst radikalisieren, dann haben
die Terroristen ihr Ziel erreicht. Die wollen, dass wir unsere Werte infrage
stellen und über den Haufen werfen. Genau das dürfen wir nicht tun. Aber im
Konkreten müssen wir richtig handeln, also etwa das Vorfeld des islamistischen
Terrors bekämpfen. Wenn Salafisten in Deutschland bei großen Festen ihren
Nachwuchs rekrutieren oder wenn Rückkehrer aus Syrien wieder nach Deutschland
kommen, kann der Rechtsstaat nicht tatenlos bleiben.
Wie
beurteilen Sie die rot-grünen Forderungen, den Islam mehr in Deutschland zu
integrieren?
Wir sind ein Land der Freiheit, auch der
Religionsfreiheit. Um es mit den Worten Friedrichs des Großen zu sagen: Jeder
soll hier nach seiner Fasson selig werden. Aber wenn wir die private
Religionsausübung schützen, so müssen sich Religionen dennoch Fragen stellen
lassen. So wie sich die katholische Kirche von ihrer Geschichte bis zur
Gegenwart kritische Fragen zu ihren Glaubensinhalten gefallen lassen musste, so
ist das beim Islam gleichfalls notwendig. Die Aufgabe der Muslime ist es, für
eine religiöse Praxis zu sorgen, die zum 21. Jahrhundert passt. Dazu gehören
kritische Fragen wie zur Mission, zur Rolle der Frau in der Gesellschaft, zur
Akzeptanz anderer Glaubensüberzeugungen und unseren bürgerlichen Normen. Die
Rede, dass der Islam einfach da sei und schon deshalb zu uns gehört, passt
nicht zur Tradition unserer liberalen Bürgergesellschaft. Denn deren Werte,
Spielregeln zu akzeptieren, ist auch die Anforderung an die Religionen.
Integration ist zuerst eine Leistung, die wir erwarten. Wenn rot-grüne
Politiker daher betonen, wir sollen den Islam integrieren, dann würde ich
umgekehrt sagen: Der Islam soll sich in unsere westlich geprägte, aufgeklärte
Gegenwart integrieren – und dafür wird er sich teilweise verändern müssen.
Deutschland
polarisiert sich immer mehr, sowohl nach links- als auch nach rechtsaußen.
Berlin fährt nach wie vor eine Politik auf Sicht. Politik- und
Politikerverdrossenheit sind die Folge. Haben wir nur noch Politiker, die das
Eigeninteresse höher als das gesellschaftliche Gemeinwohl und Interesse
stellen?
Das würde ich so nicht sagen. Wenn es Parteien gibt, die
das Eigeninteresse voranstellen, dann sind das
Gruppierungen wie die AfD, die in den Parlamenten keine Konzepte oder Lösungen
einbringen wollen, sondern sich nur mit sich selbst beschäftigen oder Ängste
schüren. Das grundlegende Problem sehe ich an einer anderen Stelle: Nämlich
dass der Deutsche Bundestag gegenwärtig nur eine Versammlung der verschiedenfarbigen
Sozialdemokratie ist. Der Bundestag repräsentiert das deutsche Volk links von
seiner Mehrheit. Und wir werden auch links regiert. Wenn Wolfgang Schäuble
jetzt dafür sorgt, dass die Defizitsünder Spanien und Portugal keine Sanktionen
mehr zu fürchten haben und damit der Stabilitätsgedanke getötet wird, dann
müsste es einen Aufschrei der Opposition im Deutschen Bundestag und des
sogenannten Wirtschaftsflügels der CDU geben – aber sie bleiben aus. Und das
spiegelt das gegenwärtige Problem wider, dass die Vielfalt der Meinungen der
Gesellschaft, auch des bürgerlich seriösen Spektrums, nicht mehr gewährleistet
ist. Hier muss sich etwas verändern, und das ist die starke Motivation bei der
Erneuerung der FDP.
Sie
haben gegenüber dem „Handelsblatt“ von einer Konzeptlosigkeit der AfD
gesprochen. Dennoch befindet sich die AfD im Aufwind und verändert das
politische Klima.Also hat sie doch Potenzial?
Ich nehme die Wähler der AfD ernst und schreibe ihnen
auch ihre politischen Positionen zu: NATO auflösen, Europa zerstören sowie ihre
völkischen und rassistischen Äußerungen über Minderheiten. Das alles sind
Inhalte, die nicht den Geist des Grundgesetzes repräsentieren, sondern
Deutschland schwach machen. Ich glaube auch nicht, dass sich unter den Wählern
der AfD noch viele bürgerliche Menschen befinden, sondern dass aus ihr eine
radikale Partei geworden ist, wie wir sie leider in vielen Ländern Europas
finden.
Arm
und Reich driften auseinander, der Mittelstand verschwindet – auch in Deutschland. Was läuft falsch in der deutschen und
europäischen Wirtschaftspolitik? Die FDP ist die Partei des wirtschaftlichen
Liberalismus, hat sie mit diesem Konzept überhaupt noch eine Chance?
Aufgabe der Politik wäre es, dem Einzelnen die Chance zu
geben, groß zu werden. Wir erleben aber das Gegenteil. Eine Politik, in der der
Einzelne kleingemacht wird: bürokratisiert, bevormundet und abkassiert. Den
Menschen aus der Mittelschicht unserer Gesellschaft wird es immer schwerer
gemacht, sich etwas aufzubauen. Eine Steuerreform, die diesen Namen wert wäre,
ist überfällig. Die kalte Progression ist eine himmelschreiende
Ungerechtigkeit. Und beim Soli steht die gesamte Politik im Wort, dass er mit
dem Ende des Solidarpakts auch wieder abgeschafft wird. Die FDP hatte in ihrer
Zeit bis 2013 ihre Ziele in diesen Bereichen nicht erreicht. Aber das heißt
nicht, dass sie dadurch falsch geworden sind – im Gegenteil: Sie sind noch
dringender geworden. Wir brauchen weniger Bürokratismus, weniger Umverteilung
zwischen privat und Staat aus den privaten Kassen in die öffentlichen. Sondern
mehr finanziellen Spielraum bei den Menschen, insbesondere bei denen, die jetzt
schon sehr stark von sozialen Abgaben und Steuern in Anspruch genommen
sind.
Mit
Blick auf die Bundestagswahl 2017 – was steht auf der Agenda und mit welcher
Partei können Sie sich eine Koalition vorstellen?
Wir gehen eigenständig in die Wahl, mit klaren
Projekten. Dazu gehört auch eine Entlastung der Mitte und eine Vereinfachung
des Steuerrechts. Deutschland braucht einen Modernisierungsschub: Mehr
Investitionen in Bildung und Forschung, den Ausbau digitaler Netze und unserer
Infrastruktur, ein Einwanderungsgesetz mit klaren Regeln – das ist eine
gestalterische Aufgabe. Wir müssen eine Politik machen, die ein Update für unser
Land ist, anstatt den Status quo zu verwalten und sich in ihn zu verlieben.
2017 werden wir sehen, welche Nähen und Distanzen es zu unseren geschätzten
Wettbewerbern gibt. Wir müssen nicht um jeden Preis regieren. Auch Opposition
ist eine wichtige und ernsthafte Aufgabe, wenn es keine Möglichkeiten gibt, die
eigenen Projekte in die Regierungsverantwortung zu bringen.
Das Gespräch
führte Stefan Groß.
Das Interview erschien in der neuen Printausgabe des The European
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