Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 02.10.16 |
von Hans Gärtner
Ist ja wohl recht nebensächlich, dass Puccinis „Turandot“
anderthalb Jahre warten musste, bis Toscanini sie uraufführte, auch nicht ungewöhnlich.
Aber dass man Paganini erst nach 36 Jahren zur ewigen Ruhe bettete – das ist
schon hauptsächlich. Und nicht gewöhnlich. Zwischen beiden Polen sind die
lexikalisch geordneten und zweispaltig gesetzten Beiträge dieses Wälzers
angesiedelt. Für Menschen, die, Klassikliebhaber, die sie nun mal sind, endlich
wissen wollen, was sie – so ist dem Untertitel zu entnehmen – über Musik bisher
nicht wussten.
Mit „A“ einzusteigen, lag nahe. Robert Schumann hörte am 10.
Februar 1854 den für ihn unerträglichen Ton A, „er wurde stärker, fürchterlich,
unablässig bohrend und blieb über Tage“. Mendelssohn und Schubert ließen ihn
grüßen, urteilte Schumann. In jenen „quälenden A-Tagen“ gelangen ihm seine
„Geistervariationen“, in der „am weitesten von A-Dur entfernten Tonart“.
Es-Dur. Schon ungewöhnlich so ein Alptraum. Und abgründig.
Musste ausgerechnet eine so bedrückende Geschichte aus der
Musikgeschichte an den Anfang gesetzt werden? Sie macht jedenfalls neugierig.
Lässt aufhorchen. Und zu blättern beginnen. Lesebändchen vorhanden – Bilder
fehlen völlig. Bleigroßfriedhof. Etwas für Lese-Geübte und Musik-Narren. Die
werden sich von Stichwort zu Stichwort vor- und zurückhanteln. Bei
„Muntermachen“ bleiben sie, nach dem Schumann-Desaster, vielleicht gern mal kurz
stehen. Sie kommen zu Joseph Haydns Vierundneunzigster. In G-Dur steht seine so
genannte Symphonie mit dem Paukenschlag. Der (oder die) sollte manch
sattgegessenen oder aus anderen Gründen müde gewordenen Konzertbesucher vom
Stuhl reißen. Mit dicken Stöcken sollten die Paukisten, im London des Jahres
1805, „recht unbarmherzig dreinschlagen“, verlangte der Komponist. Ach, so eine
schöne Geschichte darf in diesem Buch nicht fehlen. Hinzukommen, so im
Verlagstext zu lesen, „unzählige Mythen und Legenden, Tatsachen und
Verdächtigungen, Spekulationen und …“ – nun ja, was noch nicht alles!
Der Wälzer überrascht auf jeder der 1080 Textseiten (denen
fast 200 Seiten Namensverzeichnis folgen) mit einer außerordentlichen
Spezialität. Nicht unbedingt merkens-, aber bemerkenswert. Von „A“ bis „Zyklon
B“. Ein Vernichtungsmittel ist dieser Stoff, wirkungsvoll und
handhabungssicher. Mit ihm lassen sich, so ist dem Schlusssatz zu entnehmen,
unter Hinweis auf Umberto Ecos „Die Kunst des Bücherliebens“ (2009), „jene
Bücher von Autoren und Noten von Komponisten vor der Vernichtung“ retten, „die
einst mit Zyklon B umgebracht wurden“.
In die Musik spielt also die Chemie wesentlich herein.
Keineswegs nur die Akustik, die Architektur, der Artenschutz oder – um beim A
zu bleiben – das Autogramm. Auch das Toilettenpapier. Das Blut. Das Spiegelei.
Der Witz. Das Zerwürfnis. Die Autoren wollen den Lesern keine Türken aufbinden.
Sie vielmehr verführen. In ihrem Sammelwahn waren sie nicht zu bremsen.
Schafften Zahlen herbei, die, wie x ihrer Storys, Anekdoten, Kalauer,
Insider-Wissenspakete, ebenso lächeln wie verwundern lassen. Hinreißend, die
aberwitzigen, hübschen, schlagkräftigen bis total abgedrehten Fakten, die hier
mitgeteilt werden. Fast immer mit einem gewissen Schmunzeln.
Oder ist etwa der Kanon von Opern-„Musts“ ernst zu nehmen,
der zwar e. g. Charpentiers „Louise“ und 3 Opern Lullys, nicht aber
beispielsweise Janaceks „In einem Totenhaus“ oder keine der drei
Wagner-Frühopern auflistet? Herrlich und abendfüllend: Beiträge vom Schlage und
der Qualität des Beitrags „Wahnsinn auf der Bühne“ oder – wer hätte das
erwartet? – „Flötenspieler, mechanischer“. Zum Festlesen. Zum Amüsieren. Zum Reinknien.
Für alle passionierten Klassikhörer, Konzertgeher, Opernbesucher beiderlei
Geschlechts und jeglichen Temperaments.
Rainer Schmitz und Benno Ure: „Tasten, Töne und Tumulte“. Alles, was Sie über Musik nicht wissen,
1168 Seiten, 49,99 Euro, Siedler Verlag bei Random House GmbH, München 2016
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.