Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 08.10.16 |
von Norbert Lammert
Es
gilt das gesprochene Wort
Anrede,
Man
muss es nicht mehr aufregend finden, dass wir – mehr als ein Vierteljahrhundert
nach Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands – unseren Nationalfeiertag
schon zum zweiten Mal hier in Dresden feiern. Aber freuen dürfen wir uns
durchaus darüber, dass selbstverständlich geworden ist, was über Jahrzehnte
völlig ausgeschlossen schien.
Die
erste Dresdner Einheitsfeier 2000 hat eine große deutsche Zeitung unter der
Überschrift „Bratwurst und Barock“ als Veranstaltung beschrieben, bei der „den
Deutschen an diesem zehnten Jahrestag der wiedererlangten Einheit das fröhliche
Feiern nicht so recht gelingen will“. Seitdem ist manches anders geworden – in
diese wie in jene Richtung. Rundum fröhlich ist Dresden auch in diesem Jahr
nicht – und Deutschland auch nicht. Das Jahr 2016 macht Zusammenhänge, aber auch
Spannungen deutlich, mit denen Europa und seine Nachbarn im 21. Jahrhundert zu
tun haben:
In
Großbritannien haben die Wähler in einer Volksabstimmung mit knapper Mehrheit
beschlossen, aus der Europäischen Union auszutreten. Die junge Generation, die
von dieser Entscheidung am längsten betroffen sein wird, hat daran am wenigsten
teilgenommen.
In
der Türkei haben Teile der Armee die demokratisch gewählte Regierung durch
einen Putsch gewaltsam stürzen wollen, und sind am Widerstand der Bevölkerung
gescheitert, die nun die bittere Erfahrung macht, dass die Verfassungsordnung
nicht nur von Militärs herausgefordert wird.
In
Syrien und den angrenzenden Regionen erleben die Menschen nun schon im fünften
aufeinanderfolgenden Jahr die gnadenlose Anwendung brutaler militärischer
Gewalt, die Hunderttausenden das Leben gekostet und Millionen aus ihren
zerstörten Heimatorten vertrieben hat.
An
der östlichen Grenze Europas dauern die militärischen Auseinandersetzungen
zwischen der Ukraine und Russland ebenso an wie die völkerrechtswidrige
Annexion der Krim.
Allein
diese Konflikte zeigen deutlich, dass die europäische Friedensordnung, wie sie
in der Charta von Paris im Jahr 1990 von den europäischen Mitgliedsstaaten der
KSZE, den USA, Kanada, der Sowjetunion und der Türkei feierlich bekräftigt
wurde, weder selbstverständlich war, noch ein für allemal gesichert ist.
Die
Unterzeichner bekundeten damals ausdrücklich die Anerkennung nationaler
Selbstbestimmung, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und die
Unantastbarkeit der bestehenden Grenzen. Es war ein Glücksversprechen – und es
richtete sich an einen historisch zerstrittenen Kontinent, der wie unser Land
lange geteilt war und dem – wie Deutschland auch – Einheit und Demokratie nun
dauerhaft beschieden sein sollten.
Der
Triumph der Demokratie in ganz Europa war nicht „das Ende der Geschichte“, wie
kluge Beobachter voreilig verkündeten. Die Geschichte war offen – und das ist
sie auch heute. Wir Deutsche haben die Geschicke damals zum Glück in die Hand
genommen - mit kräftiger Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde. Wir, Sie
alle, haben das Land gestaltet im Bewusstsein unserer besonderen Geschichte.
Meine
Damen und Herren,
vor
100 Jahren, im Dezember 1916, mitten im ersten Weltkrieg, erhielt das Eingangsportal
unseres Parlaments in Berlin als Widmung die markante Inschrift: „Dem deutschen
Volke“, das Reichstagsgebäude selbst war damals bereits 22 Jahre alt.
Die
Festlegung auf eine Inschrift war im Kaiserreich ebenso umstritten wie die
Volksvertretung selbst. Dem Kaiser wurden die Worte „Dem deutschen Reich“
vorgeschlagen, Wilhelm II. plädierte für den Schriftzug „Der deutschen
Einigkeit“ – er misstraute dem Parlament als einem Ort widerstreitender
Meinungen und Interessen und beschwor die nationale Geschlossenheit.
Alles
nur Geschichte? Die vor einhundert Jahren beschlossene Widmung „Dem deutschen
Volke“, die dem im Kriegsverlauf zunächst gewachsenen Selbstvertrauen der
meisten damaligen Parlamentarier entsprach, konnte unmittelbar vor Weihnachten
1916 montiert werden. Es war das Jahr brutaler deutsch-französischer Schlachten
um Verdun und an der Somme, an deren Ende es ohne wesentliche Verschiebung des
Frontverlaufs und damit ohne Geländegewinne auf beiden Seiten mehr als
hunderttausend Tote gab. Die Lettern der Widmung waren aus eingeschmolzenen
französischen Kanonenkugeln gegossen – erbeutet in den Befreiungskriegen
gegen Napoleon. Die Bronzegießerei Loewy gehörte einer jüdisch-deutschen
Familie, deren Sohn sich vom Judentum abgewandt hatte. Er ließ sich taufen, und
nachdem er sich 1918 hatte adoptieren lassen, glaubte er sich mit seinem neuen
Namen Erich Gloeden sicher – zu sicher. Von den Nationalsozialisten wurde er
verhaftet, weil er Verfolgten geholfen hatte – darunter auch einem General aus
dem Widerstand des 20. Juli. Gloedens Frau, seine Schwiegermutter und er selbst
wurden im November 1944 in Plötzensee durch das Fallbeil getötet.
Erich
Gloedens Geschichte zeigt beispielhaft, wie in unserem Land noch vor wenigen
Generationen Menschen ausgeschlossen wurden aus der Nation, deren
selbstverständliche Mitglieder sie waren, wie sie Rechte und Schutz verloren,
ausgeliefert waren – in einer Zeit, da die Weimarer Republik zerschlagen, der
Reichstag ausgebrannt, das Parlament entmachtet und politische Gegner an Leib
und Leben bedroht waren.
Geschichte.
Die Nationalgeschichte jedes Landes ist die Summe der vielen, persönlichen
Geschichten von Menschen, die meist unbeobachtet bleiben oder schnell vergessen
werden. Geschichten wie die Erich Gloedens zählen zu unserem historischen Erbe.
Sie sind uns Verpflichtung und sie lassen uns gerade am Nationalfeiertag auch
darüber nachdenken, wie und was sich in den vergangenen einhundert Jahren
glücklich gewandelt hat, wer und was deutsch ist und wen Deutschland
heute in seine Rechtsordnung einschließt – für wen die gewählten Abgeordneten
des Deutschen Bundestages unter der Widmung „Dem deutschen Volke“ Gesetze
debattieren und beschließen.
Angesichts
vieler Veränderungen, der objektiven Schwierigkeiten und der bisweilen auch zu
Unrecht aufgetürmten scheinbaren Probleme, die uns heute beschäftigen, steht
außer Frage, dass „dem deutschen Volke“ selbst aufgegeben ist, nach einer
zeitgemäßen Bestimmung dessen, was Deutschland im 21. Jahrhundert sein will, zu
suchen. Darüber darf und muss gestritten werden. Wer aber in diesem Streit das
Abendland gegen tatsächliche und vermeintliche Bedrohungen verteidigen will,
muss seinerseits in dieser Auseinandersetzung den Mindestansprüchen der
westlichen Zivilisation genügen: Respekt und Toleranz üben und die Freiheit der
Meinung, der Rede, der Religion wahren und den Rechtsstaat achten.
Deutschland
ist heute anders als vor einhundert Jahren – glücklicherweise - und anders auch
als vor 25 Jahren. Deutschland verändert sich, weil sich nicht nur unsere
Nachbarschaft verändert, sondern auch das Volk in Deutschland. Die
unterschiedlichen Lebensgeschichten erzählen, wer wir sind und woher wir
kommen, was uns prägt und was wir von den hier geltenden Werten und Regeln
erwarten, die im Übrigen dazu dienen, dass alle in Deutschland lebenden
Menschen hier ihr Lebensglück suchen können und hoffentlich auch finden. Und wo
immer gewohnte Verhaltensmuster von Zuwanderern mit hier geltenden Gesetzen
kollidieren, gelten selbstverständlich die hiesigen Regeln. Für alle.
Ausnahmslos.
„Unser
Boot ist hoffnungslos überladen. Der Korb schwebt schon über dem Meer, als ich
den Arm des Mannes zurückreiße. Ich hebe meine Tochter heraus und wickele sie
mir vor die Brust. Sie ist erst zwei Tage alt. Ich habe sie noch in der
Hafenstadt geboren, am nächsten Tag ging es auf diesen Kahn. Die Erleichterung
kommt erst später, als wir in den Baracken der Notunterkunft sitzen. Wir sind
davongekommen, mit unserem Leben. Angekommen sind wir noch lange nicht."
Das klingt in unseren Ohren wie das Schicksal eines Flüchtlings aus dem Nahen
Osten. Es ist aber die Geschichte einer jungen Frau, die 1945 mit ihrer Familie
aus Königsberg floh.
„Eine
Viertelstunde, nachdem wir abgelegt hatten, fiel der Motor unseres Bootes aus.
Alle fingen an zu schreien. (…). Meine Schwester sprang ins Wasser und fing an,
das Boot zu ziehen. Nach einer Weile sprang ich hinterher. In dem Moment konnte
ich nicht denken, ich sah nur mein Leben an mir vorbeiziehen.“
Auch
diese junge Frau ist über das Wasser geflüchtet. Yusra Mardini, geboren in
Syrien, lebt seit etwas mehr als einem Jahr mit ihrer Familie in Deutschland.
Im Sommer nahm die 18-Jährige an den Olympischen Spielen in Brasilien teil. Die
Schwimmerin startete in der Mannschaft der Flüchtlinge. „Manchmal eröffnet
einem das Leben Möglichkeiten, wenn man sie am wenigsten erwartet“, sagt sie.
Dieser
Staat, dessen Einheit wir heute feiern, unsere Gesellschaft, kann und will
Möglichkeiten eröffnen, ein Leben in Frieden und Freiheit zu führen: „Dem deutschen
Volke“, Hiergeborenen und Zugewanderten, Jungen und Alten, Frauen und Männern,
Christen, Muslimen und Juden, Armen und Reichen. Vielfalt ist keine Worthülse –
längst wohnen hier in Sachsen gebürtige Schwaben, aber auch Tschechen und
Polen, haben Brandenburgerinnen Bremer mit türkischen Wurzeln geheiratet, sind
einst aus der DDR freigekaufte Berliner vom Rhein zurück an die Spree gezogen,
Westfalen haben in Mecklenburg-Vorpommern ihr Glück gemacht, Niedersachsen in
Thüringen – als Ministerpräsidenten zum Beispiel. Und ein Dresdner Schauspieler
beeindruckt seit Jahren ein millionenstarkes Fernsehpublikum im
„Münster-Tatort“.
Deutschland
ist ein vitales Land, ein attraktiver Standort, eine vielfältige, bunte
Gesellschaft, durch Persönlichkeiten geprägt, die Tradition wie Innovation
überzeugend verkörpern:
Ein
in Bangkok geborener Oberstleutnant leitet die Big Band der Bundeswehr, eine
Chinesin wurde Vizepräsidentin einer bayerischen Universität, eine Syrerin ist
in diesem Jahr Weinkönigin in Trier, ein türkischstämmiger Muslim war
Schützenkönig einer katholischen Schützenbruderschaft in Werl/Westfalen, und
eine Fernsehmoderatorin, deren Familie aus dem Irak stammt, verteidigt die
Freiheit sowie die Rechte und Pflichten der Presse in Deutschland gegen demokratiegefährdende
Anwürfe.
Deutsche
Fußball-, Olympia- und Paralympics-Mannschaften sind erfolgreich, auch deshalb,
weil ihre Mitglieder mit ihren Mannschaftskameraden mit welcher Herkunft auch
immer, gemeinsame Ziele verfolgen und zusammen kämpfen. Unter einer Flagge.
Wir
sind heute in der glücklichen Lage, die Einheit, die wir heute feiern,
gestalten zu können – anders als die Deutschen über Jahrhunderte ihrer
Geschichte. Der Wunsch nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ war lange eine
wirklichkeitsfremde Vorstellung, so zum ersten Mal formuliert 1841, vor 175
Jahren, geträumt auf einer Insel, im Wind auf der Klippe. Die Insel war
Helgoland und gehörte damals nicht zu Deutschland, das es als Nationalstaat
noch nicht gab, sondern zum Britischen Königreich. Der Träumer war Hoffmann von
Fallersleben, dessen Sehnsucht nach nationaler Einheit und Freiheitsrechten
sein „Lied der Deutschen“ zum Ausdruck brachte. Im Jahr darauf wurde der
Professor für deutsche Sprache aus dem Lehramt an der Universität Breslau entlassen
– seiner politischen Gedichte wegen. Das damalige Recht war nicht auf seiner
Seite. Die Einheit war damals noch weit entfernt, die Freiheit war jedenfalls
sehr entwicklungsfähig.
In
der Geschichte des „Deutschlandlieds“ spiegeln sich die Turbulenzen der
deutschen Geschichte wie in der Inschrift des Reichstags.
Nationalistisch-aggressiv intonierten Soldaten die erste Strophe eben dieses
Liedes im Ersten Weltkrieg. „Deutschland, Deutschland über alles“. In
diabolischer Einfalt übernahm die nationalsozialistische Führerriege diese
erste Strophe sinnwidrig in ihre Propagandafeldzug gegen das eigene und später
gegen die anderen Völker. Und es war nur folgerichtig, dass das gleiche Regime
die zweite und dritte Strophe verbot. Da war von Recht und Freiheit längst
nicht mehr die Rede – und die Einheit des Landes überstand dieser Krieg auch
nicht.
Heute
genießen wir wie selbstverständlich Rechte, die Hoffmann von Fallersleben und
seinen Zeitgenossen verwehrt waren. Wir leben in staatlicher Einheit, in Recht und
Freiheit. Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn. Deutschland ist ein
demokratischer Staat. Sicher nicht perfekt, aber gewiss in besserer Verfassung
als jemals zuvor. Das Paradies auf Erden ist hier nicht. Aber viele Menschen,
die es verzweifelt suchen, vermuten es nirgendwo häufiger als in Deutschland.
Wenn das so ist, haben wir eine doppelte Legitimation, darauf zu bestehen, dass
dieses Land in seinen Grundorientierungen so bleibt, wie es ist.
Nach
einer Anfang dieses Jahres beim Weltwirtschaftsforum in Davos vorgestellten
Umfrage unter 16.000 Menschen aus aller Welt, Meinungsführern in Wirtschaft,
Wissenschaft und Verwaltung, gilt Deutschland mit Blick auf politische
Stabilität, wirtschaftliche Prosperität, soziale Sicherheit, Bildung,
Wissenschaft und Infrastruktur als „bestes Land“ auf dieser Erde.
Das
ist vielleicht doch übertrieben. Aber offensichtlich ist: Vieles ist uns
gelungen, manches offenbar besser als anderen; doch im Vergleich mit anderen
Ländern zeichnen wir uns gerade nicht durch ausgeprägte Zufriedenheit
aus. In einem virtuellen Glücksatlas des amerikanischen Gallup-Instituts, das
die gefühlten Erfahrungen unter 138 befragten Nationen erfasst, ordnen die
Deutschen sich auf Rang 46 ein – zwischen dem Senegal und Kenia. Man muss das nicht
für die sprichwörtliche deutsche Bescheidenheit halten.
Wir
können und dürfen durchaus etwas mehr Selbstbewusstsein und Optimismus zeigen.
Arthur Schopenhauer, in Danzig geboren, in Frankfurt/Main gestorben, der weder
die erste deutsche Einheit 1871 erlebt hat noch die zweite 1990, aber in vielen
deutschen und europäischen Städten gelebt und Erfahrungen gesammelt hat,
darunter auch Dresden, hat eine Beobachtung formuliert, die auch heute noch
aktuell scheint: „Ein eigentümlicher Fehler der Deutschen ist, dass sie, was
vor ihren Füßen liegt, in den Wolken suchen“.
Wir
leben in Verhältnissen, um die uns fast die ganze Welt beneidet. Und wir stehen
- auch deshalb - vor Herausforderungen, die wir bewältigen müssen und können,
wenn wir es wollen.
Die
Deutsche Einheit fordert uns alle, die Zufriedenen wie die Unzufriedenen, aber
gerade am heutigen Tag dürfen wir uns außer der Wahrnehmung der Rückschläge,
Hemmnisse und Zukunftsängste durchaus auch Zufriedenheit erlauben, wenn nicht
gar ein Glücksgefühl. Denn wir leben jetzt so zusammen, wie es ganze
Generationen vor uns nur träumen konnten: In Einigkeit und Recht und Freiheit.
Das
sind gleich drei gute Gründe zum Feiern. Mindestens drei. In diesem Sinne
wünsche ich uns allen, hier in Dresden und überall im Lande einen friedlichen
und fröhlichen Nationalfeiertag.
Quelle: Deutscher Bundestag
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