Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 22.10.16 |
von Nikolaus Egel
1. Historischer Hintergrund
Roger
Bacons Leben fiel in eine von Kriegen, Gewalt und in allen Lebensbereichen von
Auseinandersetzungen geprägte Zeit. Eine Zeit des Umbruchs, der Durchsetzung
neuer Ordnungen in der Kirche, der Gesellschaft, der Kultur und in der Geld-
und Warenwirtschaft. Es herrschte Angst, denn die Zeit des Antichrist schien
nahe zu sein.
Ich möchte dies an einigen wenigen Beispielen verdeutlichen,
die mit Bacon selbst in Zusammenhang stehen. Die größte Bedrohung schien von
außen zu kommen: Die Mongoleneinfälle in Europa, die in der Schlacht von
Liegnitz im Jahr 1241 gipfelten, riefen in ganz Europa das schiere Entsetzen
hervor, das so groß war, dass Matthaeus Parisiensis in seiner großen Chronik nur darüber spekulieren
konnte, dass die „Tartari“ (so die Bezeichnung für die Mongolen in den Quellen
der Zeit) nur aus dem Tartarus, also der Hölle selbst, entsprungen sein
könnten, um die Welt zu strafen und die letzten Tage einzuläuten. Das Jüngste
Gericht schien nahe zu sein, so dass auch Roger Bacon selbst in seinem Opus tertium aus dem Jahr 1268 bemerkt:
„So
wird der Antichrist [dessen Vorbote die Mongolen waren, Anm. N. E.] die Welt
als Lohn aufteilen, wie die Heilige Schrift sagt. Denn er wird jede Stadt und
jede Region verderben und die Menschen dort zu Feiglingen machen, und er wird
sie fangen wie verführte Vögel.“[1]
Europa
schien für diese Bedrohung nicht gerüstet zu sein, da es selbst unter
Auseinandersetzungen zu leiden hatte. So hat Roger Bacon mit den Päpsten Gregor
IX. (1227-1241), Innozenz IV. (1242-1254) und Clemens IV. (1265-1268)
machtbewusste Päpste erlebt, die mit Friedrich II., dem „Staunen der Welt“
einen mindestens ebenso bedeutenden Gegenspieler um die Vorherrschaft in Europa
hatten – und er hat auch die Kämpfe nach dem Untergang der Staufer erlebt.
Doch die Päpste bekämpften in dieser Zeit nicht nur
den Kaiser, sondern versuchten auch die Kirche auf ein neues Fundament zu
stellen und zugleich zahlreiche Häresien in Zusammenarbeit mit den politischen
Instanzen zu brkämpfen, wofür die Vernichtung der südfranzösischen Katharer das
bekannteste Beispiel ist. Für die Grausamkeit der Zeit stehen die Worte des
päpstlichen Legaten, des Abtes Arnauld Amaury, der auf die Frage, ob sich unter
den Einwohnern von Béziers neben den Katharern nicht auch „rechtgläubige
Christen“ befänden, und wie man sich da verhalten solle, kurz und trocken
bemerkte: „Tötet sie alle, der Herr wird die seinen erkennen.“
Die Gründung des Franziskanerordens durch Franz von
Assisi, der ursprünglich aus einer reichen Tuchhändlerfamilie stammte und
Ritter werden wollte, der in einem der Kriege zwischen den Stadtrepubliken
(zwischen Assisi und Perugia im Jahr 1202) aber gefangen genommen wurde, sei in
diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt, da Roger Bacon selbst später in diesen
Orden eintrat. Dieses Kriegserlebnis muss Franz von Assisi so sehr verstört
haben, dass er eine radikale Entscheidung traf, die in der Abkehr von der Welt bestand – er hatte, um mit den Worten Colonel
Kurtz’ aus dem Film Apocalypse now zu
sprechen, „das Grauen“ erlebt. Es war einfach zu viel Moderne auf einmal.
Auch Bacon sah – begründet, wie ich an diesen
wenigen Beispielen verdeutlichen wollte – seine Zeit mit Entsetzen. So schreibt
er in seinem Kompendium für das Studium
der Philosophie im Jahr 1272 gegen Ende seines Lebens (gleichsam als Fazit),
nach vielen Seiten der Klage über seine Zeit:
„Wenn
wir auf den Zustand der Welt schauen und sorgfältig über ihn nachdenken, sehen
wir überall eine unendliche Verschlechterung. So viele Misstände herrschen in
dieser Zeit, dass ich es gar nicht beschreiben kann.“[2]
Das
13. Jahrhundert war aber nicht nur durch große politische und soziale Umwälzungen
geprägt, sondern auch im Bereich der Wissenschaften gab es zahlreiche neue
Entwicklungen, die zu erheblichen Konflikten in der akademischen Welt von der
Theologie, über die Philosophie bis in die politischen Wissenschaften führten:
Den wichtigsten Einfluss auf die wissenschaftliche Entwicklung des 13.
Jahrhunderts hatte sicherlich die Einführung nahezu aller Texte des Aristoteles
sowie zahlreicher weiterer antiker Autoren, die nun durch Übersetzungen verfügbar
wurden.
Aufgrund dieser neuen Texte ergaben sich im 13.
Jahrhundert drängende Fragen der Ausdifferenzierung und der Legitimität des bestehenden Wissenschaftskanons, die sich durch
die nun seit dem 12. Jahrhundert ins Lateinische übersetzten Texte arabischer
und griechischer Wissenschaft aufdrängten. Die Denker des 13. Jahrhunderts
lebten in einem intellektuellen Spannungsfeld, das ein enormes kritisches
Potenzial freisetzte: Die Verurteilungen der 219 Thesen im Jahr 1277 an der
Pariser Universität durch den Bischof Étienne Tempier können uns von den
damaligen Kontroversen einen Eindruck vermitteln: Diese Thesen sind mitunter
von einer Radikalität, die wir im Mittelalter nicht erwarten würden. Zwei
Beispiele seien genannt:
These
16: „Um den Glauben braucht man sich nicht zu kümmern, wenn etwas als
ketzerisch bezeichnet wird, weil es gegen den Glauben verstößt.“[3]
Sowie
– für den Kontext dieses Vortrages relevanter:
These
24: „Alle Wissenschaften, außer den philosophischen, sind nicht notwendig,
es sei denn wegen der Gewohnheit des Menschen.“[4]
Diese
Thesen sind Ausdruck einer zunehmenden Emanzipation von der Theologie, die
durch die Übersetzungen der antiken wissenschaftlichen Texte forciert worden
war: Diese Entwicklung stellte die theologischen Fakultäten unter erheblichen
Legitimationsdruck, dem man mit denwiederholten Lehrverboten der aristotelischen Bücher an der Pariser
Universität bis hin zur Verurteilung von 1277 zu begegnen suchte. Es stellte sich
in diesem Zusammenhang drängend die Frage nach einer Neuordnung des Wissens sowie nach dem Stellenwert, den die neuen
Texte und Wissenschaften im universitären Lehrplan und in der Kirche einnehmen
sollten.
Hier hat auch Roger Bacon seinen Platz, der seit
den 1240er Jahren in Paris im Rahmen seiner Vorlesungstätigkeit als Magister
einer der ersten war, der über die Naturphilosophie des Aristoteles vorgetragen
hatte. Er kannte jene neuen wissenschaftlichen Texte aus den Übersetzungen sehr
gut und auf äußerst breiter Ebene.
Für Bacon waren alle Mißstände seiner Zeit eine
Folge mangelnden Wissens und einer schlechten Ausbildung der damaligen Eliten. Die
Welt brauchte ganz dringend eine Reform. Und mit der Welt meinte Bacon vor allem die Universität,
da es seine Überzeugung war, dass „wir nicht gut handeln können, wenn wir nicht
wissen, wie, und wir können das Schlechte, das uns unbekannt ist, nicht
vermeiden.“[5]
Schauen wir, wie Bacon sich diese Reform gedacht hat.
2. Roger Bacons Reform der
Wissenschaften
Am
22. Juni 1266 hat Papst Clemens IV. ein Anschreiben an Roger Bacon gerichtet, in
dem es heißt:
„An
meinen geliebten Sohn, Bruder Roger, genannt Bacon, vom Orden der Minderbrüder.
Wir haben deine an uns gerichteten Briefe mit großer Freude erhalten; [...].
Damit uns dein Vorhaben auch wirklich klarer wird, wollen wir und lassen es
dich durch Auftrag mit apostolischem Schreiben wissen, dass du es nicht
unterlassen mögest, uns jenes Werk, [...] ungeachtet der gegenteiligen
Vorschrift irgendeines Vorgesetzten oder irgendeiner Bestimmung deines Ordens,
in schöner Schrift geschrieben, so schnell wie möglich zu übersenden. Und
erkläre uns darin auch, was du als Heilmittel gegen die Gefahren vorschlagen
würdest, die du kürzlich beschrieben hast: und tue dies unverzüglich und so
geheim, wie du nur kannst.“[6]
Roger
Bacons Antwort ist – sogar für damalige Verhältnisse – jedoch deutlich
umfangreicher ausgefallen, als es dem Papst vielleicht lieb gewesen sein wird:
In den nächsten zwei Jahren verfasste er von 1266-1268 mit dem Opus maius, dem Opus minus und dem Opus
tertium als Reaktion seine drei Hauptwerke, die in den heute vorliegen
Editionen mehr als 1500 Seiten umfassen. Trotz des Umfangs dieses Werkes ist
das Grundanliegen Bacons jedoch stets
dasselbe, das er im Opus maius sehr
klar und eindrücklich formuliert:
Es
ist das Wiederauffinden eines allumfassenden „Wissens in Weisheit“, das- so Bacon – „von einem Gott einer Welt zu einem Ziel gegeben worden ist“[7].
Diese Weisheit ist – so denkt es Bacon –, einfach zu herrlich, zu schön, als
dass sie die Menschen für sich allein gefunden haben könnten. Alle menschliche Weisheit muss daher einen göttlichen Ursprung haben, sie
muss den Propheten Gottes von Anfang der Welt an geoffenbart worden sein. Und
ebenso, wie die gesamte Weisheit nur einen
Urheber hat, hat sie auch nur ein
Ziel: Dieses eine Ziel ist – auch dies formuliert Bacon immer wieder sehr klar
– der Nutzen für den Menschen und die
Verbesserung der Gesellschaft in vier
Bereichen:
„Denn
durch das Licht der Weisheit wird die Kirche Gottes geleitet; das Gemeinwesen
der Gläubigen wird durch sie gelenkt; die Bekehrung der Ungläubigen wird durch
sie vorangetrieben; und jene, die in ihrer Böswilligkeit verharren, können
durch die Kraft der Weisheit in Schranken gehalten werden, sodass sie von den
Grenzen der Kirche weit besser ferngehalten werden als durch das Vergießen von
Christenblut. So können alle
Angelegenheiten, die der Führung der Weisheit bedürfen, auf diese vier Bereiche
eingeschränkt werden; denn mehr lassen sich nicht hinzufügen.“[8]
Doch
worin besteht diese Weisheit? Auch hierauf hat Bacon in seinem Opus maius eine Antwort, die zuerst sehr
traditionell anmutet und die auf Bacons Überzeugung von einer einheitlichen,
von Gott geoffenbarten Weisheit zurückgeht:
„Ich
sage daher, dass es eine Wissenschaft
gibt, die die Herrin aller anderen ist, nämlich die Theologie.“[9]
Für
Bacon ist diese allumfassende Weisheit also gleichbedeutend mit der Theologie. Das
scheint nun keine spektakuläre oder neuartige Antwort zu sein. Bacon fährt
jedoch fort, und an dieser Stelle wird seine Antwort m. E. radikal und ganz bemerkenswert:
„Die
anderen [Wissenschaften] sind für [die Theologie] notwendig, weil sie ohne
diese ihr Ziel nicht erreichen kann, und weil sie deren Kraft für sich
beansprucht; dem Wink und Befehl dieser Wissenschaft unterstehen die übrigen,
oder besser gesagt: Es gibt nur eine
vollkommene Weisheit, die in ihrer Gesamtheit in der Heiligen Schrift enthalten
ist, und die durch die Philosophie erklärt
werden soll. Die Darlegung der göttlichen Wahrheit geschieht durch jene
Wissenschaften, mit denen ihr die Erklärung gleichsam in die offene Hand gelegt
wird, während sie doch die gesamte Weisheit von sich selbst aus in der Faust
zusammenschließt.“[10]
Dies
ist der zentrale Gedanke des
gesamten Bacon’schen Reformprogramms der Wissenschaften und der Gesellschaft
seiner Zeit, den ich hier hervorheben möchte. Denn Roger Bacon weist hierdurch
der Philosophie (also sehr grob dem, was wir heute eher mit
„Naturwissenschaften“ bezeichnen würden) eine ganz einzigartige Gewichtung zu:
Die Theologie ist zwar – und dies ist eine spätestens seit Augustinus in der
Spätantike klar formulierte und absolut nicht neue Position – die Herrin aller Wissenschaften, die Heilige Schrift deren Gegenstand, und die
übrigen Wissenschaften ihre Dienerinnen.
Zugleich aber ist diese Herrin für die
Erläuterungder in der Heiligen Schrift
enthaltenen, allumfassenden und ursprünglich durch Gott geoffenbarten Weisheit
jedoch auf die anderen Wissenschaften angewiesen,
da erst diese die „geschlossene Faust der Weisheit“ in eine „offene Hand“ zu
verwandeln vermögen, was nichts anderes heißt, als dass die übrigen
Wissenschaften der Theologie methodologisch
vorgeordnet und damit essenziell für diese notwendig
sind. Roger Bacon kehrt damit die Ansicht seines Zeitgenossen Albertus Magnus,
dass man diesem nicht „mit Gottes Wundern kommen solle, wenn er
Naturwissenschaft“[11]
betreibe, um: Betreibt die Naturwissenschaften, um Gottes Wunder
kennenzulernen!
In der Bacon’schen Rangordnung der Wissenschaften
liefern – entgegen den allgemeinen wissenschaftstheoretischen Vorstellungen
seiner Zeit – nicht die „werthafteren“ Wissenschaften die Prinzipien für die
vorangehenden (wie also die Theologie in diesem Schema die Prinzipien der
anderen Wissenschaften bestimmen müsste), sondern die „niederen“ philosophischen
Wissenschaften liefern erst die Grundlage für die höheren – bis hin zur
Theologie als der höchsten Wissenschaft, die ohne die anderen – durch die neuen
wissenschaftlichen Texte nun wieder verfügbaren – Wissenschaften gar nicht betrieben werden kann.
Eben dies ist der Gedanke, den ich – in Anlehnung
an Camille Bérubé[12]
– als „wissenschaftlichen Messianismus“ im Denken Roger Bacons bezeichnen
möchte: Denn dem Anschein nach ist es das Ideal Bacons, die Wissenschaft wieder
in den Zustand zu versetzen, den sie bei den „Alten“ – den Propheten und
Patriarchen Gottes – hatte. Aber seine tatsächliche
Zielsetzung ist die Schaffung eines theoretischen
Rahmens, innerhalb dessen jede Wissenschaft ihren unbedingt notwendigen
Platz einnimmt, und die Heranziehung der verschiedenen Wissenschaften zum
Dienst an der Menschheit, um den aktuellen Gefahren seiner Zeit zu begegnen. In
diesem Sinne ließe Bacon sich als Anhänger des Joachimismus im
Franziskanerorden bezeichnen, jedoch nicht, indem er ein Armutsideal
wiederzubeleben suchte, sondern indem er ein – natürlich am Ende nur fiktives –
wissenschaftliches Ideal
wiederherstellen wollte.
Mit
dem Gedanken einer Reform der Theologie durch die „niederen philosophischen
Wissenschaften“ eng verbunden ist zudem Bacons Grundüberzeugung von der Einheit aller Wissenschaften, mit
der Überzeugung also (in Bacons Worten), dass „alle Wissenschaften miteinander
verbunden sind und sich gegenseitig Hilfe leisten, wie die Teile eines Ganzen.“[13]
Auf diese Überzeugung einer quasi organischen
Verbundenheit aller Wissenschaften
untereinander kommt Bacon in seinen Schriften immer wieder zu sprechen,
wobei er sich häufig des Bildes des menschlichen Körpers bedient:
„So
wie das Auge den ganzen Körper lenkt und der Fuß das Ganze stützt und von einem
Ort zum anderen führt, verhält es sich auch mit den anderen Dingen. Daher ist
ein Teil außerhalb des Ganzen wie ein ausgerissenes Auge oder ein
abgeschnittener Fuß, und genau so ist es auch mit den Teilen der Weisheit: Denn
keiner kann seine Nützlichkeit ohne die anderen entfalten, weil sie Teile
derselben umfassenden Weisheit sind.“[14]
Dies
bedeutet, dass alle Wissenschaften, die dem Menschen geoffenbart worden sind,
in dem Lehrgebäude der Weisheit notwendig und aufeinander bezogen sind. Bacons
Intention war es, eine Einheit des Wissens zu präsentieren, die in
systematischer Form gelehrt und gelernt werden kann.
Um
abschließend zusammenzufassen, halte ich folgende Grundüberzeugungen Bacons für
diesen Workshop für relevant:
Die Welt, in der Roger
Bacon lebte, war reformbedürftig. Im Gegensatz zu den verschiedenen
„Häresien“ seiner Zeit, von denen ich oben die Katharer in ihrem
„manichäischen“ Streben nach Reinheit von der Welt nur als Beispiel
nannte, verfolgte Bacon jedoch das Ideal des Wissen in und für die Welt.
Sie ließ sich für Bacon jedoch nur durch eine Wissensreform auf Grundlage
der vom Herrn gegebenen „Herrlichkeit der Weisheit“ verbessern. Bacon sah das
Grundübel an der Universität in der Auseinanderentwicklung der Theologie
und der philosophischen Wissenschaften. Hier galt es für ihn, eine Einheit
wiederherzustellen, von der er annahm, dass es sie in der Vorzeit gegeben
hätte, und dass diese von Gott geoffenbart worden sei. In dieser Einheit
ist die Theologie die Herrin aller Wissenschaften, sie ist methodologisch jedoch auf die
„philosophischen“ Wissenschaften angewiesen. Das räumt den philosophischen
Wissenschaften eine unbedingte Vorrangstellung gegenüber der Theologie
ein. Es ließe sich auch darüber diskutieren, ob die Theologie – trotz den gegenteiligen
Bemerkungen Bacons – am Ende in seinem Lehrkonzept überhaupt noch eine
wesentliche Rolle spielt.
3. Schluss
Ich
habe meinen Beitrag mit dem Titel „Roger Bacons wissenschaftlicher
Messianismus“ überschrieben. „Messianismus“ deshalb, weil sich in Bacons Denken
der Wunsch ausdrückt, dass die Welt sich auch angesichts der bevorstehenden
Vernichtung dennoch vernünftig und zum Wohle aller Menschen gestalten lassen
müsste. Die Zeit des Antichrist war für Bacon – wie auch für alle seine
Zeitgenossen – nahe. Der Untergang der Christenheit stand bevor. Nur eines
konnte die Welt davor bewahren: Die Wissenschaft, für die Roger Bacon Zeit
seines Lebens eingetreten ist, der er sein Leben gegen alle Hindernisse
gewidmet hatte. Roger Bacon schreibt dies selbst ganz eindrücklich als Befürchtung nach einer Schilderung seiner
„scientia experimentalis“ – der Erfahrungswissenschaft – in seinem Opus tertium:
„Diese
wunderbare Wissenschaft wird auch der Antichrist benutzen. Und er wird sie noch
viel mächtiger benutzen als Aristoteles, weil er viel mehr weiß als
Aristoteles.“[15]
Roger
Bacon war in seinen eigenen Augen der einzige, der mit der Macht der
Wissenschaften dieser Bedrohung begegnen könnte. Er sah sich als der „Messias“,
die Wissenschaften waren der Weg zum Heil, den er sah. Er war der Verkünder
dieser Wissenschaften gegen die bevorstehende Vernichtung. Und er war in seiner
Zeit damit – zumindest in seinen Augen – ganz allein. Die Beschreibung der
Macht der Wissenschaften war sein drängendes Anliegen, das er dem Papst als
Haupt der Christenheit vorgetragen hatte. Eine Antwort hat er nie erhalten. So
schreibt er im Opus maius:
„Da
diese Erfahrungswissenschaft der Menge der Studenten vollkommen unbekannt ist,
kann ich niemanden von ihrer Nützlichkeit überzeugen, wenn nicht zugleich ihre
Kraft und ihre Eigentümlichkeiten beschrieben werden. Nur diese Wissenschaft
weiß auf vollkommene Art zu zeigen, was durch die Natur geschehen kann und was
durch die Anstrengung der Kunst hervorgerufen wird.“[16]
Die
„Kraft und die Eigentümlichkeiten der Wissenschaft“ hat Roger Bacon beschrieben.Eine Antwort vom Papst hat er nie erhalten.
Stattdessen eine Verurteilung durch seine Ordensoberen, die uns durch einen
Eintrag aus einer franziskanischen Chronik aus dem 13. Jahrhundert belegt ist:
„Hier
verwarf und verurteilte der Ordensgeneral Hieronymus [von Ascoli] auf Beschluß
vieler Brüder die Lehre des englischen Bruders Roger Bacon, Magister der
heiligen Theologie, da sie einige verdächtige Neuerungen enthalte, aufgrund
deren jener Roger zu Kerkerhaft verurteilt wurde, wobei für alle Brüder die
Vorschrift gilt, daß niemand sich an diese Lehre halten dürfe, sondern sie
vielmehr zu meiden habe, da sie vom Orden verworfen ist.“[17]
Doch
die Hoffnung besteht weiterhin, in Roger Bacons Augen vielleicht ebenso wie in
den unseren:
„Denn
auch wenn die Grundsteine noch nicht gelegt sind, sind doch bereits das Holz
und die Steine da, nämlich die Kraft der Wissenschaften und der Sprachen; und
auch die anderen Dinge, die zum Aufbau der Weisheit notwendig sind.“[18]
Für
Roger Bacon war dies ein drängendes Anliegen. Ein Anliegen, das auch wir teilen,
um mit den Worten Senecas – die Bacon durch die Zeit hindurch bis zu uns
weiterträgt – zu sprechen:
„Es
wird eine Zeit kommen, in der der Tag und die Sorgfalt einer weiter entfernten
Zeit das, was nun verborgen ist, ans Licht bringen werden.“[19]
[1] Roger Bacon, Part of
the Opus tertium of Roger Bacon. Including a fragment now printed for the first
time, hg. v. Andrew G. Little, Aberdeen 1912, S. 54 [Übers. N. E.].
[2] Roger Bacon, Kompendium für das Studium der
Philosophie, hg. u. übers. v. Nikolaus Egel, Hamburg 2015, S. 21.
[3] Kurt Flasch,
Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277, Mainz 1989, S. 112.
[4] Ebd., S. 121.
[5] Roger Bacon, Opus
tertium, in: Opera quaedam hactenus inedita, hg. v. John S. Brewer, London
1859, S. 10 [Übers. N. E.].
[6] Ebd., S. 1 [Übers. N.
E.].
[7] Roger Bacon, Opus maius, 3 Bde., hg. v. John H.
Bridges, Oxford 1897-1900, Bd. 3, Opus maius, Teil II. S. 36.
[8] Roger Bacon, Opus maius, a. a. O., Bd. 3, S. 1
[Übers. N. E.].
[9] Ebd., S. 36 [Übers.
N. E.].
[10] Ebd., S. 36.
[11] Vgl. Albertus Magnus, De generatione et
corruptione, hg. v. Paul Hoßfeld, Münster: Aschendorf 1980 (= Opera omnia V,
2), I, i, 22.
[12] Vgl. Camille Bérubé,
Der ‚Dialog’ St. Bonaventura – Roger Bacon“, in: Roger Bacon in der Diskussion,
2 Bde., hg. v. Florian Uhl, Frankfurt/Main u. a. 2001(02, Bd. 1, S. 67–136.
[13] Roger Bacon, Opus
tertium, a. a. O., S. 18 [Übers. N. E.].
[14] Ebd., S. 18 [Übers.
N. E.].
[15] Roger Bacon, Part of
the Opus tertium, a. a. O., S. 54 [Übers. N. E.]
[16] Roger Bacon, Opus
maius, a. a. O., Bd. 2, S. 172.
[17] Chronica XXIV
Generalium Ordinis Minorum, in: Analecta franciscana III, 360. Zitiert nach:
Camille Bérubé, Der ‚Dialog’ St. Bonaventura – Roger Bacon, in: Roger Bacon in
der Diskussion, a. a. O., Bd. 1, S. 67–136, S. 74, Anm. 13.
[18] Roger Bacon, Opus
tertium, a. a. O., S. 8 [Übers. N. E.].
[19] Roger Bacon,
Kompendium für das Studium der Philosophie, a. a. O., S. 70. – Vgl. Seneca,
Naturales quaestiones. Naturwissenschaftliche Untersuchungen, lat.-dt., hg. u. übers. v. M. F. A. Brok, Darmstadt 1995,, 7, 25, 3-5.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.