Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 07.11.16 |
von Jan Rebuschat
„Man wählt,
nicht ständig die Wahl haben zu müssen.“, mit diesen plakativen Worten
beschreibt der Politologe Dr. Torben Lütjen in seinem Buch Die Politik der
Echokammer - Wisconsin und die ideologische Polarisierung der USA das
Phänomen, dass gewonnene Freiheiten paradoxerweise nicht zum gesellschaftlichen
Meinungspluralismus, sondern zur Polarisierung der großen us-amerikanischen
Parteien geführt hat. Lütjen sieht hierin einen der Gründe für die zunehmende
Kluft zwischen Demokraten und Republikanern.
„Je mehr Entscheidungsmöglichkeiten die Menschen haben, desto mehr entscheiden
sie sich für ein Leben in Eindeutigkeit, optieren dafür, bloß nicht zu sehr mit
abweichenden Werthaltungen konfrontiert zu werden.“. Dieses Phänomen beobachtet
der in Bremen geborene Politologe Dr. Torben Lütjen in der US-amerikanischen
Gesellschaft. Lütjen nennt es paradoxe Individualisierung: Trotz zunehmender
Freiheit und Wahlmöglichkeiten entscheiden sich Menschen für klare, dogmatische
Linien. Diese These untermauert der Autor mit einer durch ihn in Wisconsin
durchgeführten ethnographischen Feldstudie.
In Zeiten von Nachrichtensendern wie Fox News haben wir uns an die
Polarisierung zwischen Demokraten und Republikaner gewöhnt. Doch ist diese
tatsächlich eine Neuheit. Vorbei sind die Zeiten, in denen
Politikwissenschaftler wie Robert Alan Dahl noch davon sprechen konnten, dass
die Republikaner und Demokraten fast dieselbe Ideologie verträten. Oder in
denen Republikaner und Demokraten dieselbe Person als ihren
Präsidentschaftskandidaten gewinnen wollten (wie 1952 Eisenhower). Das heutige
Verhältnis der Parteien ist von Feindseligkeit geprägt, und dass nicht nur seit
der Kandidatur Donald Trumps. Diese Entwicklung von einer
gesellschaftspolitischen Situation, in der es noch eine beachtliche
Schnittmenge zwischen den US-amerikanischen Parteien gab, zu der heutigen
Situation, in der die Parteien in fundamentalem Widerspruch zueinander stehen,
stellt Lütjen in Die Politik der Echokammer überzeugend und
nachvollziehbar dar. Der Begriff der Echokammer versinnbildlicht dabei die
gegenwärtige Lage: Der politische Diskurs erfolge nur noch in homogenen
Echokammern, in denen Dissens nicht zu hören ist und Konsens durch Widerhall
noch verstärkt werde.
Das Buch umfasst drei größere Abschnitte und beginnt dabei mit einem Blick auf
die Entstehung der besagten Echokammern. Im ersten Abschnitt resümiert der
Autor die gesellschaftspolitische Entwicklung seit den 1930er Jahren und zeigt
das Zerbrechen des parteilichen Konsenses in den Jahren 1964 bis 1980 auf.
Ursprünglich seien die beiden Parteien in sich differenzierter gewesen; so wie
andere Politikwissenschaftler spricht Lütjen vonvier Parteien innerhalb der
beiden großen Parteien. Stark vereinfacht ausgedrückt waren dies: Liberale
Demokraten, moderate Demokraten, sowie liberale Republikaner und moderate
Republikaner. Dies sei einer der Gründe für die ehemals großen Schnittmengen
zwischen den Parteien gewesen. Zu jener Zeit habe man daher auch oft davon
gesprochen, dass sich die US-amerikanische Politik im Gegensatz zu Europa durch
Pragmatismus und Freiheit von Ideologiekämpfen auszeichne. Schrittweise habe
sich jedoch die Konfliktmatrix herausbildet, welche den Diskurs noch heute
beherrsche. Auf der einen Seite neokonservative und stark religiöse
Vorstellungen eines freien, doch moralisch verankerten „Frontier“-Landes. Auf
der anderen Seite liberal-progressive, agnostisch/atheistische Entwürfe einer
gerechteren, emanzipierten Gesellschaft. Ein bedeutender Katalysator für diese
Entwicklung seien die 1960er Jahren mit ihrer Bürgerrechtsbewegung gewesen. In
dieser Zeit hätten sich Bruchlinien zwischen den Parteien aufgetan, welche sich
auf die gesamte Gesellschaft auswirkten.
Sowohl Republikaner, als auch Demokraten hätten sich in dieser Phase der
us-amerikanischen Geschichte neu erfunden. Die Republikaner hätten sich zunehmend
als Partei der „hart arbeitenden Bevölkerung“ und „silent majority“ definiert,
welche sich für die traditionellen Werte Amerikas und gegen eine „Kultur der
Abhängigkeit“ unter „Big Government“, „liberaler Elite“ und den „Washingtoner
Bürokraten“ stark mache. Bei den Demokraten sei hingegen die Neue Linke
erstarkt und habe Gedanken der Bürgerrechtsbewegung aufgegriffen, um für eine
gerechtere und integrative Gesellschaft und gegen die „rückständigen Kräfte“ in
der patriarchalischen, weißen Gesellschaft zu kämpfen. Lütjen gelingt es in
seinem Text darzulegen, dass sich diese Polarisierung nicht nur auf die
Politik, sondern auf die Struktur der gesamten Gesellschaft ausgewirkt hat. Die
Südstaaten, die ehemals den Demokraten als „solid south“ galten, entwickelten
sich zu republikanischen Staaten; die auf Seiten der Republikaner beginnende
abwertende Nutzung des Begriffs „liberal“; der „maskulinisch-populistische Zug“
im us-amerikanischen Konservatismus; der zunehmende Kontrast zwischen den
Städten und den Suburbs; die Entstehung der Counter culture; Kinder würden auf
bestimmte Schulen geschickt, die den politischen Maßstäben der Eltern
entsprechen. Der politische Dissens zieht sich also bis ins Privatleben. All
dies verbindet Lütjen zu einer schlüssigen Narrative auf dem Boden
wissenschaftlich fundierter Forschung. Die zunehmende Homogenisierung der
Milieus zeige sich beispielsweise an Umfragen, die in den 1960er Jahren
begannen: Erstmal in den 60er-Jahren stellte man US-Amerikanern die Frage, ob
sie ein Problem damit hätten, wenn ihr Kind ein Mitglied der gegnerischen
Partei heiraten würde. In den 1960er Jahren fanden dies gerade einmal 4 % der
Republikaner und 3 % der Demokraten problematisch; 2014 waren es hingegen
jeweils 49 % und 33 %. Auch das Bild der anderen Partei sei zunehmend negativer
geworden: So glaubten 45 % der Befragten, dass die andere Partei eine „Gefahr
für das nationale Wohlergehen“ sei. Und aktuellen Umfragen zufolge bejaht etwa
ein Drittel der befragten Republikaner, dass Hillary Clinton mit dem Teufel im
Bunde sei. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Parallelen, die
Lütjen zwischen dem heutigen Rechtspopulismus der Republikaner und dem
aggressiven Populismus eines Barry Goldwaters und der Paranoia eines Richard
Nixon sieht.
In dem zweiten Abschnitt des Buches fasst Lütjen die Ergebnisse seiner
Feldstudie in Wisconsin zusammen. Lütjen verbrachte insgesamt acht Monate in
dem Bundesstaat, interviewte zahlreiche Einwohner, beobachtete den politischen
Diskurs vor Ort und ließ repräsentative Telefonumfragen durchführen. Daneben
stützt sich der Autor auf lokale Quellen, wie Zeitungen.
Die Feldstudie konzentriert sich auf die gesellschaftspolitischen Verhältnisse
in den beiden Counties Dane County und Waukesha County, welche etwa 120 km
voneinander entfernt liegen. Dane County und insbesondere die in diesem County
liegende Universitätsstadt Madison stellen sich als Hochburgen der Demokraten
dar. Das Leben in Madison zeichne sich durch eine gewisse Urbanität und eine
äußerst aktive Lokalpolitik aus, welche sich auch auf das Leben in der Gemeinde
auswirke. Kennzeichnend hierfür seien beispielsweise lokale Resolutionen,
welche mit der lokalen Politik nichts direkt zu tun haben: so verabschiedete
das Dane County Board Resolutionen, die den Rückzug der Truppen aus dem Irak,
die Einführung der Homo-Ehe oder die Legalisierung von Marihuana forderten. Das
Leben in Waukesha County entspreche dagegen der Klischeevorstellung von der
US-amerikanischen Suburbia und zeichne sich durch Zurückgezogenheit,
vergleichsweise geringem Kontakt zwischen den Nachbarn sowie hoher ethnischer
Segregation aus: „American Suburbia ist ein Raum radikaler Privatheit,
der darauf ausgerichtet erscheint, spontane Begegnungen so weit wie möglich zu
vermeiden.“ In beiden Counties fänden sich starke Anpassungseffekte. Stark
vereinfacht: Erstens seien Republikaner in Dane County liberaler, Demokraten in
Waukesha County konservativer als in den übrigen Bundesstaaten. Zweitens seien
die Demokraten in Dane County liberaler, und die Republikaner in Waukesha
konservativer als der nationale Durchschnitt. Beides erklärt Lütjen mit der
paradoxen Individualisierung und der hiermit verbundenen Wirkung der
politischen Echokammer. Es sei eine Kultur, in der es nicht nur höchst selten zum
Meinungsaustausch käme, sondern in welcher ein solcher Austausch auch nicht
erwünscht sei.
Das Buch zeichnet sich durch sprachliche Klarheit und Präzision auf. Lütjen
analysiert auf hohem wissenschaftlichen Niveau, ohne sich in Fachjargon zu
verfangen; gerade dies macht den Text attraktiv für interessierte Leser
außerhalb der Politikwissenschaft. Lütjens Darstellungen sind zudem äußerst
lebendig: als Leser fühlt man sich, als ob man bei seinen Gesprächen mit den
zentralen Figuren des lokalpolitischen Lebens anwesend wäre. Wenn er erzählt,
dass die liberale Bevölkerung von Dane County von Waukesha County gern als
„Mordor with lawns“ spreche, oder dass ein Tea-Party-Aktivist sich scharf gegen
den Bau von Radwegen ausspricht („Biking is unamerican!“), dann versteht der
Leser nur zu gut, was Lütjen mit der Wirkung der Echokammer meint.
Man bemerkt eine gewisse Affinität des Autors für die demokratische Partei;
doch hat man beim Lesen nie den Eindruck, dass Lütjens Objektivität hierdurch
beeinträchtigt wäre. So beschreibt Lütjen den starken Gruppenzwang im liberalen
Madison, in dem beispielsweise mancher Unternehmer seine Zugehörigkeit zur
republikanischen Partei lieber verschweigt. Im Übrigen tritt der Autor nie als
besserwisserischer Europäer oder gar als Anti-Amerikanist auf. Er greift nie
auf schablonenhafte Vereinfachungen zurück, sondern zeigt anhandwohlüberlegter
Beispiele auf, dass dieser Entwicklungsprozess kein geradliniger war und zudem
von zahlreichen Faktoren beeinflusst wurde: Monokausale Erklärungen darf man
bei Lütjen nicht erwarten. Die Entwicklung sei auch durch ethnische Konflikte,
sowie historische Ereignisse (wie zum Beispiel den Vietnam-Krieg und den
Angriff auf das World Trade Center) wesentlich beeinflusst. Doch spielten auch
institutionelle Strukturen eine Rolle, wie beispielsweise der Einfluss der
us-amerikanischen Vorwahlen bei der Präsidentschaftswahl, der Zuschnitt und die
Homogenität der Wahlkreise und der verhältnismäßig hohe Einfluss der jeweiligen
parteilichen Basis auf den Kurs der Parteien.
Lütjen deutet diese Entwicklung als eine Art Sortierungsprozess. Überhaupt geht
es ihm nicht darum, diese Polarisierung als solche zu kritisieren. Er erweist
diesbezüglich auf die in Europa festgestellte „Müdigkeit“ der Wähler und starke
ideologische Annäherung der großen Massenparteien, welche weithin kritisiert
wird. Problematisch werde die extreme Polarisierung jedoch dann, wenn die
Opposition der regierenden Partei die Legitimation abspricht; eine Tendenz, die
sich vor allem in der scharfen Kritik an Präsident Obama gezeigt habe. So
halten sich bis heute Gerüchte, dass Barack Obama im Ausland geboren und kein
US-amerikanischer Staatsbürger sei, so dass es ihm an den
verfassungsrechtlichen Voraussetzung für das Amt des Präsidenten fehle.
Die Politik der Echokammer ist ein gelungenes Buch, welches die
politische Entwicklung in den USA nachvollziehbar erklärt und informativ
beleuchtet. Ein Buch für ein breites Publikum, welches sich für die Entwicklung
der us-amerikanischen Politik interessiert.
Die Politik der Echokammer ist beim Transcript Verlag erschienen und
kostet als kartoniertes Taschenbuch 29,99 €.
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