Erschienen in Ausgabe: No. 37 (3/2009) | Letzte Änderung: 08.04.09 |
Der evangelische Theologe Jürgen Moltmann im Gespräch mit Holger Fuß über die Trägheiten des Herzens und Gott als Kritik des Menschen
von Holger Fuß
Herr Professor Moltmann, Sie stellen die verblüffende
Behauptung auf, dass Jesus nicht eine neue Religion in die Welt gebracht habe,
sondern neues Leben. Was meinen Sie damit?
Zunächst einmal habe ich diese Einsicht von Dietrich
Bonhoeffer übernommen, einem Theologen und Widerstandskämpfer, der 1945 von den
Nazis hingerichtet wurde. Bonhoeffer wiederum hat diese These von Johann
Christoph Blumhardt, einem Theologen aus dem 19. Jahrhundert. Sie können diesen
Satz sehr einfach überprüfen, indem Sie die Evangelien lesen. Ist Jesus dort
aufgetreten und hat gesagt: Ich bringe euch eine neue Religion mit Meditation
und Gottesdiensten? Oder hat er Kranke geheilt? Wenn er kranke Menschen geheilt
hat, dann hat er ihnen neues Leben gebracht. Wenn er Ausgestoßene angenommen
hat und mit ihnen zu Tische saß, dann hat er ihnen neues Selbstwertgefühl
gegeben. Und das ist ein neues Leben.
Aber eine Art Kirchengründung hatte Jesus wohl doch im Sinn,
als er sagte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine
Gemeinde.“
Erst die Urchristenheit hat daraus später eine Religion
gemacht, um mit den anderen Religionsgemeinschaften im Römischen Reich
konkurrieren zu können.
Im Sinne einer Kultgemeinschaft, die ihr Selbstverständnis
wesentlich aus dem Vollzug ihrer Riten zog?
Ja, richtig.
Sie hingegen scheinen das Christentum weniger als
Kultgemeinschaft oder Religion zu betrachten, sondern eher als eine
Seinspraxis, also eine spezielle Art zu leben?
So könnte man es ausdrücken, ja. Für mich ist wesentlich,
dass der göttliche Lebensgeist in Jesus war. Dieser Lebensgeist hat sich
offenbar auch ohne sein Zutun verbreitet. Da gibt es die Geschichte von der
blutflüssigen Frau, die nur von hinten das Gewand Jesu berührt und daraufhin
geheilt ist. Er muss also ein Mensch gewesen sein, von dem Lebenskräfte
ausgegangen sind. Heilungskräfte, die einen Menschen wieder aufgebaut haben.
Kräfte, die Menschen, wenn sie ausgestoßen oder verachtet waren, dazu ermutigt
haben, ein aufrechtes und erfülltes Leben zu führen.
Dann ist die Bedeutung und Wirkung Jesu gar nicht so sehr
eine Angelegenheit des Glaubens?
Für mich war immer wichtig, dass sich das Christentum nicht
in Streitereien um Konfessionen und Religionen verzettelt. Es sollte sich
stattdessen für die Heilung des Lebens einsetzen, für die Gerechtigkeit in der
Gesellschaft und für eine starke Hoffnungsmentalität der Menschen. Dabei sollte
das Christentum dem religiösen Menschen ebenso nahe sein wie den atheistischen
Menschen, die keine Religion haben. Religiöse Menschen neigen heutzutage dazu,
sich in eine Nische zurückzuziehen, dort ihren Dialog miteinander zu führen und
den Rest der Welt in Ruhe zu lassen. Das möchte ich nicht.
Was ist Gott für Sie?
Es ist ein Doppelgefühl. Zum einen ist Gott ein Gegenüber,
zu dem ich bete und der mich im Gebet erweckt, der meine Sinne wachruft, so
dass ich aufmerksamer lebe. Ein Gegenüber, zu dem ich schreie und spreche,
danke und lobe, und vor dem ich mein Leben führe. Zum anderen ist Gott eine
große Umgebung, in der ich lebe. Eine große Atmosphäre des Vertrauens, die mich
von allen Seiten umgibt. So, wie es im Psalm 139, Vers 5, anklingt: „Von allen
Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Dieses Doppelgefühl von
Gegenüber und Gegenwart weist für mich auf Gott hin.
Das klingt, als richten Sie sich im Gebet aus auf die
Lebenskraft.
Die Lebenskraft erfahre ich dadurch. Aber ich kann nicht zu
einer Lebenskraft beten. Dazu benötige ich ein Gegenüber, zu dem ich sprechen
kann. Dieses Gegenüber kann ich nicht ersetzen durch den Grund des Seins oder
die Lebenskraft. Zu einem Neutrum kann ich nicht sprechen.
Sie brauchen im Gebet den Dialog?
Ja, natürlich. Ich bin ein sprechendes und hörendes Wesen.
Im Gebet erfahre ich, wie meine Augen, meine Sinne geöffnet werden für das
Leben.
Erinnern Sie sich noch, wie dieser Gebetsdialog für Sie
begonnen hat? War das 1943, als Ihre Geburtsstadt Hamburg in den Bombennächten
zerstört wurde?
Ja. Da habe ich zum ersten Mal nach Gott geschrien.
Sie waren 17 Jahre alt und wären beinahe umgekommen.
Die „Operation Gomorrha“, wie die bibelfesten Engländer die
geplante Zerstörung der ersten deutschen Großstadt getauft hatten, richtete
neun Nächte lang ein unbeschreibliches Inferno an. Ich war eingezogen als
Luftwaffenhelfer. In der letzten oder vorletzten Nacht traf eine Sprengbombe
die Plattform mitten auf der Alster, wo wir mit unserem Kommandogerät aufgebaut
standen. Die Splitter zerrissen meinen Schulfreund Gerhard Schopper neben mir.
Ich erhob mich wieder, taub und geblendet mit nur geringen Splitterwunden an
Schulter und Backenknochen.
Sie wundern sich noch heute darüber, dass Sie überlebt
haben?
Ja, das war wirklich ein Wunder. In dieser Nacht habe ich
zum ersten Mal in meinem Leben nach Gott geschrien und in gewisser Weise mein
Leben in seine Hände gelegt.Ich war wie
tot und habe danach jeden neuen Tag wie ein Geschenk empfunden. Meine Frage war
nicht: Warum lässt Gott das zu? Sondern: Mein Gott, wo bist du? Damit fing mein
Suchen nach Gott an.
Das heißt, Ihr Dialog mit Gott begann nicht mit einer Frage,
die eine unmittelbare Antwort erfuhr. Stattdessen blieb die Antwort zunächst
aus und Sie machten sich auf die Suche. Was gab Ihnen denn in all den folgenden
Jahren die Gewissheit, dass Sie nicht einer Illusion nachjagen?
Ich hatte das Gefühl, dass ich Gott nicht suchen würde, wenn
er mich nicht ziehen würde. Oder wenn er mich nicht schon gefunden hätte. Warum
sonst sollte ich nach Gott suchen? Da muss schon irgendetwas sein, das mich
gefunden hatte.
Hat Ihnen diese existenzielle Gewissheit eine Art Erfüllung
beschert?
Auf der einen Seite durchaus. Man hat natürlich das Gefühl,
das ist wichtig, das macht Sinn. Und du selbst bist nicht sinnlos oder
verloren. Sondern du selbst bist offenbar auch wichtig dafür. Auf der anderen
Seite macht es einen natürlich ewig unzufrieden.
Inwiefern unzufrieden?
Man kann sich nicht abfinden mit der Situation, in der man
ist. Man rebelliert dagegen. Dieses Gefühl hatte ich in der englischen
Kriegsgefangenschaft sehr stark. Ich war fünf Jahre lang eingesperrt in Kasernen
und Lagern.
Die Gefangenschaft hat Ihre Widerstandskraft gestärkt?
Am Anfang überwog natürlich die Depression über die
Kriegszerstörungen und diese Gefangenschaft ohne absehbares Ende. Dazu kam das
Gefühl von tiefer Scham, die Schande des eigenen Volkes mittragen zu müssen.
Das schnürte einem die Luft ab. Und im Grunde hat mich dieser Druck bis heute
nicht verlassen.
Wie fanden Sie aus diesen Depressionen heraus?
Es gab zwei Erfahrungen, die für mich eine Wende zu neuer
Lebenshoffnung bedeuteten. Zum einen erlebte ich in dem Lager an der
schottischen Küste viele menschenfreundliche Begegnungen mit den einheimischen
Arbeitern und ihren Familien. Zum anderen wurden Bibeln verteilt und ich las
abends darin. Die Klagepsalmen im Alten Testament sprachen mir aus der Seele.
Dann las ich die Passionsgeschichte im Markusevangelium und vernahm den
Todesschrei Jesu: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Ich erfuhr zwar
keine Erleuchtung, aber ich spürte die wachsende Gewissheit: Da ist jemand, der
dich versteht, der die gleiche Verlassenheit gefühlt hat, in der du jetzt bist!
Das brachte mir neuen Lebensmut zurück.
Und Sie lernten zu hoffen?
Ja. Ganz langsam, aber sicher ergriff mich eine große
Hoffnung auf die Auferstehung in Gottes „weiten Raum, wo keine Bedrängnis mehr
ist“, wie es im Buch Hiob heißt.
Diese Hoffnung ist dann Ihr Lebensthema geworden. 1964
veröffentlichten Sie Ihr berühmtestes Werk: die „Theologie der Hoffnung“. Die
Hoffnung bezeichnen Sie als Zentrum und Lebenskraft der christlichen Existenz:
„Wir sind ausgerichtet auf die noch ausstehende Zukunft. Der Geist ist das
Angeld zu Größerem.“ Warum ist die Hoffnung so wichtig für uns Menschen?
Die große Hoffnung sagt: Eine andere, eine gerechtere Welt
ist möglich. Gib dich nicht auf, setz’ dich ein!
Also ist über unser Dasein, das soviel Leid und
Ungerechtigkeit aufweist, noch nicht das letzte Wort gesprochen?
Ganz gewiss nicht. Wir Menschen sind auf Hoffnung hin
geschaffen worden, auf das Gelingen unserer wahren Menschlichkeit. Jedes Kind,
das zur Welt kommt, verkörpert einen erneuten Anlauf zu diesem Gelingen. In
jedem Kind wartet Gott sozusagen auf den menschlichen Menschen.
Das stellt eine unerhörte Aufwertung des Menschen dar, die
vielen von uns gar nicht geläufig ist.
Aber diese Wertschätzung macht das Leben erst menschlich.
Das menschliche Leben ist angenommenes, geliebtes und erlebtes Leben. Wo Leben
nicht angenommen, geliebt und erlebt werden kann, haben wir es nicht mehr mit
menschlichem Leben zu tun. Wenn ein Kind nicht erfährt, dass es angenommen
wird, wird es krank. Wenn ein Mensch sich selbst nicht annimmt, verliert er
seine Lebendigkeit. ER wird müde und gibt sich auf.
In dem christlichen Glauben, dass wir Menschen von Gott
geliebt werden, steckt also die Erfahrung, dass wir Menschen in dieser Welt
willkommen sind?
Ja, natürlich. Wir Menschen sind Gottes große Liebe. Das ist
die Botschaft des Evangeliums. Und Gott hofft auf das Gelingen seiner riskanten
Geschöpfe. Er hofft darauf, dass wir die Gottesebenbildlichkeit, die in uns
angelegt ist, verwirklichen werden. Wir können sagen: Menschsein ist
Menschwerden. Wir werden erwartet.
Gott wartet auf uns. So lautet die Verheißung der Bibel.
Aber was kann uns veranlassen, den Auskünften dieser Heiligen Schrift zu
vertrauen?
Für das Volk Israel war die Verheißung oder vielmehr der
verheißende Gott deshalb so gewiss, weil sie aus der Gefangenschaft in Ägypten
tatsächlich heil herausgekommen sind. Das Gelobte Land sah dann zwar etwas
anders aus als sie geträumt haben, aber sie haben auf ihrer Wanderung offenbar
die Treue Gottes erfahren. Denn es war nicht nur eine Verheißung Gottes, die
ihnen voran gegangen ist, sondern auch die Schechina, also die Einwohnung
Gottes auf Erden. In der Wolke, mit der Moses sprach, war Gott gegenwärtig wie
ein Mann zu seinem Freund. Oder in der Feuersäule, die den Israeliten den Weg
wies. Für die Christen ist das Treueereignis Gottes die Auferweckung Christi.
Oder allgemeiner gesagt: das Kommen Christi. Weil er gekommen ist, ist die
Hoffnung auf die Zukunft Gottes und die neue Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt,
gewiss.
Sie vertrauen Ihre Hoffnung Ereignissen an, die viele
tausend Jahre alt sind?
Wenn man daran zweifeln sollte, muss man sich
zurückerinnern, was damals geschehen ist. Das ist immer so. Wir kennen das doch
aus dem zwischenmenschlichen Bereich: Da wird ein Versprechen gegeben – und
wenn sich die Erfüllung längere Zeit verzögert, dann erinnert man sich daran,
wie das Versprechen zustande kam.
Das erklärt aber noch nicht, weshalb sich ein halbwegs
aufgeklärter Mensch heute auf die Aussagen der Bibel verlassen darf. Welchen
Beleg gibt es denn für die Authentizität biblischer Auskünfte?
Es gibt keine naturwissenschaftlichen Beweise. Aber es gibt
eine Wolke von Zeugen. Wenn ich an Menschen denke wie den erwähnten Dietrich
Bonhoeffer oder an Martin Luther King, dann fühle ich mich in meiner Zuversicht
gestärkt.
Die Katholiken sprechen von der Gemeinschaft der Heiligen.
(Lacht.) Ja, der heiligen Sünder.
Am Ende sind es also Menschen, denen wir vertrauen müssen?
Menschen, die eine bestimmte Wirklichkeit bezeugen? Nämlich die Wirklichkeit
Gottes?
Ja. So ist es im menschlichen Leben überall und immer
wieder. Mit Menschen erleben wir diese Wirklichkeit. Denn menschliches Leben
ist auf natürliche und soziale Kommunikation angewiesen und existiert nur
darin. Leben ist Beziehung und Austausch. Menschliches Leben ist das, was zwischen
den einzelnen Menschen geschieht.
Und in diesem Bereich des Zwischenmenschlichen können wir
Gott finden?
Richtig. Der Geist Gottes ist das, was lebenfördernd zwischen
den Menschen stattfindet: die Liebe und die Gerechtigkeit.
Was genau ist das Lebenfördernde daran?
Das Erleben unserer Wirklichkeit wird erweitert. Die
Wirklichkeit besteht ja immer aus Realität und Möglichkeit. Die Realität ist
verwirklichte Möglichkeit. Deshalb greift ein Realismus, der nur auf die
verwirklichte Möglichkeit sieht, zu kurz. Der herkömmliche Realismus lehrt uns,
die Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie ist. Die Hoffnung jedoch lehrt uns, die
Wirklichkeit so zu nehmen, wie sie möglich ist und werden kann. Das heißt, in
der Hoffnung wird unsere Phantasie angeregt, unsere Möglichkeiten zu erkunden
und unsere Chancen zu ergreifen. Der Realist hingegen geht an den
Möglichkeiten, die er hat, vorbei, weil er sie nicht wahrnimmt. Ihm fehlt der
Möglichkeitssinn.
Dann ist christlicher Glaube vor allem der Glaube an
Möglichkeiten?
Ja. Von diesem eigentümlichen Möglichkeitsglauben ist im
Markus-Evangelium die Rede: „Alle Dinge sind möglich dem, der glaubt“, denn
„alle Dinge sind möglich bei Gott“. Das ist mit dieser Lebenförderung gemeint:
Der Glaubende stellt in seinem Gottvertrauen die Grenzen seiner persönlichen
Wirklichkeit in die unbegrenzte Möglichkeitsfülle Gottes.
Schwer vorstellbar, wie ich als Mensch Anteil nehme an den
unbegrenzten Möglichkeiten Gottes.
Damit ist keine Selbstvergottung des Menschen gemeint. Es
ist eine in dem Menschen einwohnende und in ihm verborgene Kraft des
Gottesgeistes, die in einem solchen tiefen Vertrauen, einem solchen
Möglichkeitsglauben erwacht. Sie macht das Herz weit und den Geist offen.
Neugier ist eine Tugend der Hoffnung.
„Gott liegt verborgen in dem Grunde der Seele“, heißt es
beim mittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart.
Deshalb sind es die Kranken, die es Jesus ermöglichen, sie
zu heilen. Denn die Heilungen ereignen sich dort, wo die Heilkraft des
Gottesgeistes im Leben Jesu auf die Glaubenskraft in den kranken Menschen
trifft, wo also seine Wirksamkeit und ihr Möglichkeitsvertrauen sich begegnen.
Und das Ergebnis dieser Heilkraft ist die Lebendigkeit?
Wir werden durch die Heilung zugänglich für die
Lebendigkeit, die Lebenskraft, die Lebensfülle. Für die Fülle unserer
Möglichkeiten, die uns umgeben.
Lebendig bin ich also dann, wenn ich mich den Möglichkeiten
nicht verschließe? Wenn ich die Fließbewegung zwischen Möglichkeit und
Verwirklichung nicht blockiere?
So ist es. Max Frisch hat mal gesagt: „Die Liebe befreit aus
jeglichem Bildnis.“ Wenn wir lieben, sehen wir alles neu. Die Welt der
Möglichkeiten öffnet sich uns. Wir halten einander in der Liebe die Zukunft
offen.
Die Liebe macht uns wacher und aufmerksamer. Demnach ist das
Christentum ein spiritueller Übungsparcours zu mehr Lebendigkeit?
Zweifellos. Wer betet, lebt aufmerksamer.
Inwiefern?
Nun, beten tun ja alle Religionen auf irgendeine Weise. Was
im Neuen Testament zum Beten hinzu kommt, ist das Wachen. In Gethsemane sagt
Jesus nicht zu seinen Jüngern: Betet mit mir! Sondern: Wachet mit mir!
Was ist mit diesem wachenden Beten gemeint?
Augen auf! Ohren auf! Alle Frühwarnsysteme der Sinne
aufspannen, um die Möglichkeiten, die kommen, wahrzunehmen. Um die
schrecklichen Möglichkeiten abzuwehren und die guten Möglichkeiten anzunehmen.
Dieses Wachen, das mit dem Beten verbunden ist, ist die Hoffnung.
Hoffnung als eine existenzielle Grundhaltung?
Ja. Es ist ein Erwecken der Sinne. So dass ich das Leben
geradezu riechen, schmecken, hören, sehen und fühlen kann. Ich habe das bei
meinem Freund Helmut Gollwitzer erlebt. Als seine Frau starb, versank er in
tiefe Trauer. Er sagte mir: Das war eine Zeit, in der ich nichts schmecken und
riechen konnte. Ich konnte keine Musik hören. Ich hörte gar keine Töne mehr.
Alle meine Sinne schrumpften. Nach einiger Zeit und mit Hilfe von Freunden
konnten seine Sinne wieder erwachen und er hörte wieder Musik, sah wieder
Farben und fühlte das Leben wieder.
Das Schrumpfen der Sinne, die Abwesenheit des Wachseins ist
das, was wir Depression nennen. Mit dem Wachwerden der Sinne erblüht unsere
Lebendigkeit.
Und wir können wieder „Ja“ zum Leben sagen. Ich erinnere
mich an eine Erweckung im Mai 1945. Wir waren in einem schrecklichen
Gefangenenlager in Belgien. Alles war dunkel. Keiner von uns hatte mehr Lust zu
leben. Meine Sinne waren völlig zu. Eines Tages mussten wir so einen Wagen aus
dem Lager rausschieben. Auf einmal sah ich vor mir einen blühenden Kirschbaum.
Mir sind die Knie weich geworden. Mit einem Mal guckte mich das Leben wieder
an. Und da erwachten meine Sinne.
Diese „Spiritualität der wachen Sinne“, wie Sie es nennen, trennen
Sie ausdrücklich von Mystik. Sie unterscheiden zwischen mystisch beten und
messianisch beten. Worin besteht der Unterschied?
Die Mystiker in den meisten Religionen möchten aufgehen in
der Unendlichkeit. Sie wollen wie ein Tropfen im Ozean der Gottheit, im
All-Einen verschwinden. Das halte ich aber für keine christliche Mystik.
Christlich ist für mich die Vorstellung, dass das Bild Gottes in einem
eingebildet wird. Christliche Mystik ist diese „Bildung“ der Seele, nicht ihre
Auflösung. Messianisch beten heißt deshalb, wie die Urchristen zu rufen:
„Maranatha“ – Komm, Herr Jesus! Also um das Kommen Gottes zu bitten. Dieses
Beten ist nicht auf die Ewigkeit des Himmels ausgerichtet, sondern auf die
Zukunft der Erde. Das nenne ich messianisch beten.
Sie halten sich nicht nur von Mystik fern, sondern auch von
Jenseitsvorstellungen. Sie sprechen davon, dass die Verstorbenen nicht etwa in
ein jenseitiges Totenreich eingehen, sondern „vielmehr in einer Art zweiten
Gegenwart gegenwärtig“ sind. Das erinnert an das Jesus-Wort: „Das Reich Gottes
ist mitten unter euch.“ Obwohl wir es nicht sehen, ist es schon da.
Abgesehen von der europäischen Moderne, die 300 Jahre alt
ist, haben alle Völker und Kulturen den Ahnenkult betrieben. Das heißt, in
Afrika und Asien sind die Ahnen nicht weg, sondern sehr gegenwärtig mit ihrem
Segen und in ihrem Zorn. Sie sind anders da, natürlich. Aber sie sind da und
fordern die Lebenden.
Wie habe ich mir das vorzustellen?
Wir alle kennen die Erfahrung, dass ein geliebter Mensch
stirbt. Auf einmal hat man das Gefühl: Er ist gar nicht weg. Er ist nun
allgegenwärtig! Bevor mein Vater starb, wusste ich, er sitzt jetzt dort in
Hamburg an seinem Schreibtisch, guckt vor sich hin oder liest etwas. Wenn ich
an ihn dachte, habe ich immer daran gedacht und habe ihn telefonisch angerufen.
Und als er gestorben war, hatte ich das Gefühl, er ist immerzu und überall bei
mir und sieht mir über die Schulter.
Hat Sie diese persönliche Erfahrung zu der Vorstellung von
einer Gegenwart der Toten inspiriert?
Nein. Das geschah gemeinsam mit meinem katholischen Kollegen
Johann Baptist Metz, als wir uns fragten: Wo sind die Toten von Auschwitz?
Sitzen sie uns nicht im Nacken? Ich habe 1961 das ehemalige Konzentrationslager
Majdanek in Polen besucht. Da ist mir bewusst geworden, dass man nicht sagen
kann, dass diese Menschen tot sind. Sie sind da. Und sie fordern etwas von uns.
Metz hat ähnliche Erfahrungen gemacht und daraus seine politische Theologie
entwickelt. Im Grunde können wir ja auch gar nicht behaupten, dass jemand tot
ist. Wir können nur sagen, dass er gestorben ist.
Weil wir über den Tod nichts wissen.
Vielleicht sind die Verstorbenen ja sehr gegenwärtig. Wir
wissen nicht, dass nach dem Tod nichts kommt. Also sollten wir auf jeden Fall
neugierig sein.
Ihre Theologie kommt erstaunlich diesseitig daher. Die
konventionellen Bilder von einem Jenseits oder Himmelreich ersetzen Sie durch
die Zukunft. Bei Ihnen gibt es keine Wunder, sondern unendliche Möglichkeiten.
Die Kräfte der zukünftigen Welt, so sagen Sie, sind keine übernatürlichen
Wunderkräfte.
Gewöhnlich sagt man ja, dass die Gottesgaben, die
Charismata, vom Heiligen Geist vom Himmel herabkommen. Aber laut dem biblischen
Hebräer-Brief kommt das von vorne. Die Urchristen spüren „die Kräfte der zukünftigen
Welt“. Und dadurch verändern sie sich. Sie fühlen sich wiedergeboren zu einer
lebendigen Hoffnung, dass diese Welt in das Gottesreich der zukünftigen Welt
verwandelt wird.
Dann sind Sie eine Art Mystiker des Diesseits? Sie tauschen
den transzendenten Raum des Himmels mit dem zeitlichen Jenseits der Zukunft?
Einem Bereich jenseits der Gegenwart?
Üblicherweise sagt man ja, das Jenseits ist der Himmel und
die Gegenwart ist unsere Erde. Sie haben recht: Mein Jenseits ist die Zukunft –
aber nicht nur zukünftige Geschichte, sondern auch die Zukunft der ganzen
Geschichte.
Warum ist Ihnen diese Unterscheidung von herkömmlichen
Jenseitsvorstellungen so wichtig?
Weil das Reich Gottes ja auf Erden, also im Diesseits,
stattfinden soll. Nicht im Himmel. Wir beten um das Reich Gottes „wie im Himmel
so auf Erden“. Ich habe keinen Gott im Himmel. Das ist etwas für die Engel. Ich
bin ein Mensch und brauche Gott hier auf Erden.
Das Reich Gottes auf Erden ist schwer vorstellbar.
Wir hoffen auf „die neue Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt“,
wie es im zweiten Petrus-Brief heißt. Darunter kann ich mir durchaus etwas
vorstellen. Gerechtigkeit unter den Menschen, Gerechtigkeit zwischen den
Menschen und den Tieren, Gerechtigkeit zwischen den Tieren und auf Gottes
geliebter Erde. Da kommt eine großartige ökologische Utopie zustande. Gott ist
die Kritik des Menschen.
Kritikwürdig ist der Mensch weiß Gott. Aber ist er auch
verbesserungsfähig? Ist der fehlbare oder, wie die Kirche sagt, sündige Homo
Sapiens überhaupt in der Lage, eine gerechte Welt zu bewohnen?
Mit „Sünde“ ist kein moralischer Fehler gemeint, sondern,
wie das deutsche Wort schon sagt, die Absonderung von Gott und von dem Leben,
das Gott gibt. Man sagt zwar, die Ursprüngssünde sei jener Hochmut, dass der
Mensch sein wolle wie Gott. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere
Hälfte ist die viel weiter verbreitete Resignation. Die Traurigkeit, die zur
Trägheit führt. Die Verzagtheit, die alles Lebendige im Keim erstickt.
Diese Resignation nennen Sie Sünde?
Ja. Die Versuchung besteht heute weniger darin, dass
Menschen Gott spielen wollen. Sondern vielmehr darin, dass die Menschen sich
nicht mehr das Menschliche zutrauen, das Gott von ihnen erwartet. Diese Angst
des Kleinglaubens und der Feigheit führt zur Kapitulation vor den Mächten des
Bösen. Gott hat den Menschen erhöht. Er hat ihm die Aussicht ins Freie und in
die Weite eröffnet. Die Menschen aber bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück
und versagen sich. Gott verheißt die Neuschöpfung aller Dinge. Aber die
Menschen tun so, als bliebe alles beim Alten. Dies ist die Absonderung von Gott
und vom Leben.
Die Verwirklichung einer gerechten, mithin wahrhaft
menschlichen Welt ist also eine Frage unseres Zutrauens in unsere eigenen
Fähigkeiten?
Ganz recht. Nicht nur das Böse, das Menschen tun, klagt sie
an, sondern vor allem das Gute, das sie nicht tun. Nicht nur ihre großen
Untaten, sondern ihre vielen kleinen Versäumnisse sind der Skandal. Die erste
Sünde auf der Liste der sieben Todsünden des Mittelalters ist die acedia, die
Traurigkeit, Verzweiflung und Trägheit. Die Trägheit des Herzens. Diese
Tristesse ist die Sünde wider den Geist des Lebens, aus der alle anderen Laster
folgen.
Und was tun wir gegen diese Trägheit des Herzens?
Am besten ist ein Tritt in den Hintern. (Lacht.) Aber im
Ernst: Ich kenne diese Trägheit aus eigener Erfahrung. In diesem
Kriegsgefangenenlager in Belgien hatte ich eine Krankheit, eine Furunkulose am
ganzen Körper. Ich wollte nicht mehr leben. Ich lag da und ging auch nicht zum
Sanitäter. Schließlich kam ein älterer Mitgefangener und gab mir diesen Tritt.
Er sagte: Steh auf! Du gehst jetzt zum Sanitäter! Dann haben sie mich ins
Lazarett gebracht und so wurde ich gerettet. Man braucht also bei einem solchen
Versinken in Resignation die Hilfe von anderen, die einen dann aufrichten und
wieder Mut geben. Aber man kann sich auch selber sagen: Sei nicht träge! Steh
morgens auf! Don’t cry, tu was, wie die feministische Theologie den Frauen
sagt.
Dann ist diese Trägheit des Herzens nicht nur eine
Verneinung des Lebens, sondern eine Haltung der Unachtsamkeit?
Da haben wir wieder dieses Wachen, das zum Gebet gehört.
Aber in der Achtsamkeit ist auch die Verantwortung enthalten, die mit Antwort
zu tun hat. Das bedeutet, dass wir Menschen Ansprechpartner sind – für Gott wie
für die Menschen. Indem wir hinhören, wird unser Leben zu einer erwidernden
Existenz. Wir antworten und verantworten uns.
Ist ein derart dialogisches Leben das wahrhafte Menschsein?
Darin steckt die Aufmerksamkeit und die Zuwendung zu Gott
und den Menschen. Wir können auch von Verehrung sprechen. Vom Reformator
Johannes Calvin stammt der schöne Satz: Die Verehrung Gottes – das ist
Humanitas. Das wirkliche Menschsein – darin besteht unsere Verehrung Gottes.
Menschsein erfüllt sich demnach im Füreinanderdasein?
Noch nicht ganz. Das Für-Andere-Dasein ist notwendig zur
Befreiung und Erlösung des bedrückten und schuldig gewordenen menschlichen
Lebens. Durch Liebe wird Freiheit konkret ermöglicht. Aber das
Für-Andere-Dasein ist nicht das Letzte, auch nicht das Ziel und noch nicht
einmal die Freiheit selbst. Es ist der Weg, und zwar der einzige Weg, der zum
Mit-Anderen-Dasein führt. Erst das Mit-Anderen-Dasein ist das erlöste, befreite
Leben. Das Für-Andere-Dasein ist das Mitfühlen und das Mitleiden. Aber das
Mit-Anderen-Dasein ist die Mitfreude, die seltene.
Zur Person:
Prof. Jürgen Moltmann, Jahrgang 1926, lehrte zuletzt von
1967 bis 1994 Systematische Theologie an der Universität Tübingen.
Literatur:
> Jürgen Moltmann: „Im Ende der Anfang. Eine kleine
Hoffnungslehre“, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2007
> Jürgen Moltmann: „Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte“,
Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2006
> Jürgen Moltmann: „Theologie der Hoffnung.
Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen
Eschatologie“ (1964), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005
> Jürgen Moltmann: „Das Kommen Gottes. Christliche
Eschatologie“ (1999), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005
> Jürgen Moltmann: „Der gekreuzigte Gott. Das Kreuz
Christi als Grund und Kritik christlicher Theologie“ (1972), Gütersloher
Verlagshaus, Gütersloh 2002
Erstveröffentlichung in Chrismon - Das evangelische Magazin, Ausgabe 04/2009. Copyright (c) by Holger Fuß, Hamburg 2009. Alle Rechte vorbehalten
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.