Erschienen in Ausgabe: No. 38 (4/2009) | Letzte Änderung: 24.04.09 |
von Christoph Müller
Früher dienten die Religionen nicht nur ihrem eigentlichen Zweck, dem
Einzelnen eine feste Bindung und eine absolute Orientierung für sein
Leben zu verschaffen. In vor-wissenschaftlichen Zeiten wurden sie oft
so verstanden, als wollten sie die Erscheinungen der Natur erklären.
Mehrere Jahrtausende wurden sie auch dazu verwendet, den politischen
Zusammenhalt menschlicher Gesellschaften zu garantieren: "Ein Gott, ein
König, ein Volk".
Inzwischen haben die Religionen die Funktion der Welterklärung an die
Wissenschaften verloren. Wir betrachten unseren Planeten Erde nicht
mehr als eine Scheibe, um die sich die Sonne dreht. Als die Bibel
geschrieben wurde, ging sie natürlich von dem Weltbild aus, das damals
in Geltung stand. Aber sie wollte niemals ein "Lehrbuch der
Naturwissenschaft" sein, sondern enthielt eine Botschaft, die über ihr
zeitgebundenes Weltbild hinausging.
Und nach Jahrtausenden, in denen die Einheit der politischen Systeme
durch die Einheit einer Religion gesichert werden sollte, haben
Religionen diese frühere politische Funktion an eine demokratische
Willensbildung verloren. Blutige und grausame Religionskriege haben
diesen Rückzug der Religionen auf ihren eigentlichen religiösen Bereich
erzwungen. Die Religionen mussten lernen, friedensfähig zu werden, was
von ihrem Absolutsheitsanspruch aus nicht einfach war und ist.
Menschen unterschiedlicher Religion und Weltanschauung müssen lernen,
miteinander auszukommen. Es ist heute die Aufgabe des politischen
Systems, die Koexistenz unterschiedlicher Orientierungssysteme zu
verbürgen. Demokratie ist Herrschaft der Mehrheit unter gleichzeitiger
Sicherung des Rechts der Minderheiten. Deshalb muss Demokratie
notwendigerweise einen "relativen" Charakter tragen.
Aber "Relativismus" als solcher ist kein ausreichendes
Orientierungssystem. Auch die Wissenschaften verschaffen keine absolute
Orientierung. Ihre Sätze sind immer nur vorläufige Hypothesen. Wir
arbeiten mit ihnen, solange sie noch nicht widerlegt sind.
Orientierungssysteme aber müssen für den Einzelnen einen absoluten
Charakter tragen, weil wir unser endgültiges Leben nicht auf eine
vorläufige Hypothese einrichten können. Für seine Überzeugungen muss
man wirklich einstehen können, manchmal sogar unter Einsatz des Lebens.
Insofern ist der Satz richtig: "Man glaubt mehr, als man denkt".
Aus diesem Grunde hat sogar der große Philosoph des
Aufklärungszeitalter, Immanuel Kant, der die alten philosophischen
Gottesbeweise zertrümmert hat, der Religion eine unersetzliche Rolle
zugeschrieben. Er hat einmal ein Gedicht verfasst, um zu erklären, wie
das Relative und das Absolute zusammenhängen.
"Was auf das Leben folgt, deckt tiefe Finsternis. Was uns zu tun gebührt, nur des sind wir gewiss. Dem kann kein Missgeschick, kein Tod die Hoffnung rauben, Der glaubt, um recht zu tun, recht tut, um froh zu glauben."
Auch wer keiner religiösen Konfession angehört, kann sich für seine
"humanistische Weltanschauung" nicht einfach auf "die Wissenschaft"
berufen, die ja nur Hypothesen kennt. Um von seiner Wertorientierung
absolut überzeugt zu sein, muss er über das reine Wissen hinausgehen.
Auch "Humanisten" müssen mehr glauben, als sie denken. Ebenso muss es
für die Anhänger einer religiösen Konfession kein Widerspruch mehr
sein, Glauben und Wissen miteinander zu vereinbaren. Die Heiligen
Schriften verlieren für den Gläubigen nicht ihre Bedeutung, wenn er sie
nicht als "Lehrbuch der Naturwissenschaften" missversteht. Für die
katholische Kirche, die noch im letzten Jahrhundert gegen das moderne
Denken gewütet hatte, ist der religiöse Glaube mit allen Erkenntnissen
der Wissenschaft prinzipiell vereinbar.
Das öffentliche Gemeinwesen, das von allen Kindern verlangt, zur Schule
zu gehen, muss sich darauf beschränken, die Bedingungen dafür zu
schaffen, dass Mehrheiten und Minderheiten friedlich zusammenleben
können. Gerade um zu gewährleisten, dass Menschen in ihren
vergemeinschafteten Gruppen unbehindert nach absoluter Orientierung
suchen, sollten eigentlich alle Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften von sich aus verlangen, dass sich unter
den Bedingungen des allgemeinen Schulzwangs niemand von dem für alle
geltenden, dann aber notwendig relativen Ethikunterricht abmelden darf.
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