Erschienen in Ausgabe: No. 38 (4/2009) | Letzte Änderung: 21.05.14 |
Braucht die demokratische Gesellschaft Religion? SPD-Bundestagsfraktion und Arbeitskreis Christen in der SPD Berlin, Bundestag, 13. März 2009
von Volker Gerhardt
I.
Bemerkungen über die Religion
1. Ein
gläubiger Mensch könnte schon am Titel meines Vortrags Anstoß nehmen, denn der Begriff
der Autonomie gibt der Politik die Stellung eines Souveräns, dem das Recht zugestanden
wird, über alles, was in seine Zuständigkeit fällt, nach seinem eigenen
Ermessen zu entscheiden. Darin könnte der Gläubige eine säkulare Anmaßung
gegenüber dem sakralen Anspruch der Religion erkennen, die sich auf eine Macht
bezieht, die alles Irdische übersteigt und der insofern die absolute, alles
überbietende Autorität zukommt. Was ist der Ausspruch eines Kanzlers gegen Gottes
Wort?
Die
Rede von der Autonomie der Politik lässt somit eine Überschätzung der Politik
und eine Geringschätzung der Religion befürchten.
Eine
so beschaffene Befürchtung würde durch das 'Zugeständnis, die Religion habe
gleichwohl eine wichtige Funktion, gewiss nicht ausgeräumt. Denn selbst wenn
sich zeigte, dass der Religion eine unerlässliche Aufgabe zugestanden werden
muss, befände sie sich in Abhängigkeit von etwas anderem, das notfalls über
sie gebieten kann.
2.
Nehmen wir an, jemand würde der Religion die Funktion zuschreiben, das
Sinndefizit des Lebens zu beheben, die Endlichkeit des menschlichen Daseins zu
überwinden oder der Welt einen Grund im Ganzen zu geben: In jedem Fall machte
er sie zu einem Instrument der Lebenssicherung. Der Gegenstand des Glaubens,
nämlich Gott, wäre in den Dienst des Menschen gestellt, obgleich der Gläubige
davon überzeugt ist, dass Mensch und Welt Schöpfungen Gottes sind, die es,
streng genommen, einzig zu seiner Ehre geben kann. Anstatt also in Gott den
Herrn der Welt zu ehren, macht ihn die Rede von der Funktion der Religion zu ihrem
Knecht. Damit hat Gott selbst eine Funktion, die er als absolutes Wesen gar
nicht haben kann.
Wie
nahe diese Unterschätzung Gottes liegt, zeigt die uns heute beschäftigende
Frage: Braucht die demokratische Gesellschaft Religion? In jeder positiven
Antwort liegt eine Instrumentalisierung Gottes für die Politik.
Zu unserer
Entschuldigung lässt sich sagen, dass der Mensch immer nur aus der Perspektive seines Daseins sprechen vermag er einen Ort in der
Welt zu geben, auf die kann. Dem Dasein vermag er einen Ort in der Welt zu
geben, auf die er alles, was immer er versteht, zu beziehen hat. Das gilt auch
für die Theologie, die damit jedoch in die Gefahr gerät, ihren Gegenstand,
nämlich Gott, zu verfehlen. Selbst wenn sie ihm die Rolle des Schöpfers und
Herrn zuerkennt, bringt sie ihn durch ihren Schluss von der Welt auf seine
Leistung in eine unangemessene Lage.
Die
Theologen suchen dieses Problem zu umgehen, indem sie ihre Rede als Auslegung
von Gottes Wort begreifen. Dann liegt der Anfang in Gott selbst und nicht in
der Welt, für die er wohl oder übel Aufgaben zu übernehmen hat.
3.
Das wäre eine bezwingende Lösung, wenn Gottes Wort sich von selbst verstünde
und widerspruchslos befolgt werden würde. Doch es gibt Zweifler, die, wie
Hiob, Gottes Güte in Frage stellen. Ihnen kann Gott, wie im Fall Hiob, zu Hilfe
kommen und sie über seine Macht belehren. Andere hoffen in der Annahme ihres
Opfers, in der Anerkennung ihrer guten Tat oder aber im Gebet auf eine Antwort
Gottes.
Neben
den Zweiflern aber gibt es die Unbelehrbaren und die Ungläubigen, die wie Kain
oder Lots Weib, Gottes Wort nicht verstehen oder nicht annehmen wollen. Andere
haben gar nichts gehört, weil sie beschäftigt oder anderen Göttern unterworfen
waren. Wie spricht man mit ihnen, wenn man sie nicht einfach verloren geben
will?
Ihnen
gegenüber bleibt den Theologen gar nichts anderes übrig, als sich auf die Welt
zu beziehen: auf die Natur und den geschichtlichen Erfahrungsraum, der ihnen
mit den Un-, Nicht-und Andersgläubigen gemeinsam ist. Hier kann die Rede von
der Funktion Gottes gar nicht vermieden werden. Nur durch sie kann man anderen
die Vorzüge des eigenen Glaubens nahe-bringen. Angesichts der Vielzahl von
Göttern (oder zumindest Gottesbildern) kommt man nicht umhin, von den Vorteilen
zu sprechen, die der eigene Gott (und das eigene Verständnis Gottes) im Leben
bietet. Demokraten, die nach Vorzügen der Religion für ihre politischen Ziele
fragen, sind damit theologisch entlastet.
4.
Zweifler, Unbelehrbare und Abtrünnige, Un-, Nicht- und Andersgläubige hat es im
Feld und im Umfeld der Religionen schon immer gegeben. Das Nachdenken über die
Religionen war von Anfang an von der vorgängigen Weltlichkeit bestimmt. Sie
vollzog sich im Bewusstsein zahlloser ethnischer und kultureller Gegensätze.
Damit steht die Debatte über die Vor-und Nachteile der Religion seit
Jahrtausenden unter der Prämisse der Profanität.
Nicht
erst in der Moderne, sondern bereits in dem um 450 v. Chr. geschriebenen
Historien Hesiods, die den geschichtlichen Raum des Mittelmeers und des
Vorderen Orients zu erfassen suchen, erfolgt die Erörterung der Religion unter
säkularen Bedingungen.
Noch
etwas anderes kommt hinzu: Die Ausbildung der Hochkulturen des Vorderen Orients
erfolgt im Zeichen einer sich öffentlich äußernden und sich eben darin
differenzierenden Individualität. Die Ansicht, die Individualisierung und die
damit einhergehende Subjektivierung des Menschen geschehe erst unter dem
Einfluss des Christentums, profiliere sich in der Neuzeit und komme nicht vor
der Moderne zu politischer Geltung, ist verfehlt. Natürlich übertreibt das
moderne Bewusstsein auch hier. Aber so neu, wie es in allem sein möchte, ist es
insbesondere in der Frage der Individualisierung und Subjektivierung nicht. Wo
es Zweifel, Abweichungen, ja, Gegensätze im Inneren wie im Äußeren der
Religionsgemeinschaften gibt, kann der Glaube niemals mehr als eine individuelle
Gewissheit sein.
Wenn
die Zehn Gebote dem Volk Israel gegeben werden und dennoch Gott bei jedem Gebot
von Neuem mit einem höchst persönlichen „Du sollst“ einsetzt,[1] und
wenn Jesus seine Jünger zu einer individuellen Nachfolge auffordert,[2] dann
ist der Glaube seit mindestens zweieinhalbtausend Jahren eine Akt des
Individuums, in dem es seiner eigenen Überzeugung zu folgen sucht.
5.
Der Glaube, wie wir ihn in allen großen Religionen kennen, ist, wie Kant sagt,
ein „subjektives Fürwahrhalten“.[3] Alle
rituelle Praxis, jedes religiöse Zeremoniell, jede institutionalisierte Lehre,
erst recht jedes theologische Argument ist darauf gerichtet, den Einzelnen zu
überzeugen, damit er in Gott sein Heil erkenne.
Selbst
der Zwang, den Religionen irrtümlich schätzen, um Abweichler zu reglementieren,
ist ein sicheres Indiz für die Subjektivität des Glaubens, den man niemals
sicher aus beobachtbaren Verhaltensweisen erschließen kann. Der Glaube im
strengen Sinn des Wortes aber hat seine Instanz allein im individuellen
Bewusstsein, im persönlichen Gewissen des Einzelnen. Deshalb hat ihn der
politische Machtverlust der christlichen Kirchen in Europa auch zu sich selbst
befreit. Erst nach der Säkularisierung haben Religionsgemeinschaften eine
Chance, ihre spirituelle Kraft zur Geltung zu bringen.[4]
Als
gläubig erweist sich jemand nicht darin, dass er einer institutionellen
Anweisung, sondern seiner inneren Stimme folgt. Wenn von ihm erwartet wird,
dass er Zeugnis für seinen Glauben ablegt, um anderen ein Beispiel zu geben,
ist das (ganz gleich, was die beamteten Hüter des Glaubens sonst davon
erwarten) stets darauf gegründet, dass einer im Glauben an Gott zu sich selber
findet.
Die
elementare Funktion des Glaubens liegt somit darin, dem Individuum eine
Aussicht auf sein eigenes Seelenheil zu eröffnen. Die Religion verspricht einen
Zugang zur einsichtigen, alle Fragen beruhigenden Einheit von Individuum und
Welt. Alle Religionen wollen, auf jeweils ihre Weise, dem Einzelnen den Weg
zur Gewissheit in sich selbst eröffnen. Ob er sie erlangt, vermag er letztlich
nur für sich selber zu sagen.
Die
Religion übt durch Riten eine gemeinsame Haltung zum Leben ein; wo aber ihre
Botschaft durchdringt, wo sie dem Einzelnen einen Sinn im Ganzen eröffnet, da
führt sie zu einer Vergewisserung seiner Einzigartigkeit, zu einer unendlichen
Vertiefung seines individuellen Weltverhältnisses.
6.
Es dürfte deutlich sein, was daraus für den Religionsunterricht folgt: Die
Religion hat ebenso wie die religiöse Unterweisung den Weg zum Glauben zu
eröffnen. Sie kann nach ihrem eigenen Selbstverständnis dem Individuum helfen,
zu seiner eigenen persönlichen Einstellung zur Welt zu finden. Nimmt sie sich
mehr und anderes vor, verändert sie ihren Charakter und wird zur politischen
Doktrin, die sie ihrer individualisierenden Funktion entfremdet.
Um
dem Einzelnen den Weg zum Glauben zu eröffnen, hat man ihn über den Ursprung
und die Geschichte der Religion zu belehren, zu der er seiner Herkunft nach
gehört. Er sollte Wissenswertes über die Kultur erfahren, in der sein Glaube
seinen Ort hat, und er sollte einiges über die anderen Religionsgemeinschaften
zur Kenntnis nehmen, zumal sie selbst zu den konstitutiven Bedingungen
gehören, denen sich seine eigene Gemeinschaft verdankt. Moderne Eltern, seien
sie Juden, Christen, Moslems, Buddhisten, Hindus oder Anhänger des Konfuzius,
dürfen dabei durchaus darauf hoffen, dass ihre Kinder im Religionsunterricht
darauf vorbereitet werden, etwas mehr von ihren Besuchen in den Museen dieser
Welt zu haben.
Aus
der Sicht der Religion aber kommt es letztlich darauf an, dass die in ihrem
Glauben unterwiesenen Kinder selbst zu ihrem Glauben finden. Deshalb hat eine
Religionsgemeinschaft, die nicht alles daran setzt, den Unterricht für die
Kinder ihrer Mitglieder in eigener Regie anzubieten, die Hoffnung auf den
Glauben aufgegeben. Hierbei auf den Staat zu vertrauen, ist ein Relikt aus
einer Zeit, in der sich der Staat noch selbst als Hüter einer einzigen Religion
begreifen konnte. Das aber hat den Religionen niemals gut getan, so dass man
vornehmlich im Interesse der Religionen hoffen kann, dass diese Zeiten überall
auf der Welt alsbald vorüber sind.
II.
Anmerkungen zur Politik
7.
Nach den Bemerkungen über die Funktion der Religion ergeben sich die
Anmerkungen zur Autonomie der Politik geradezu von selbst. Man braucht nur zu
sagen, welche Funktion ihr zuzuschreiben ist:
Politik
dient der Erhaltung und Entfaltung menschlicher Gemeinschaften, die sich
jeweils als ein Ganzes verstehen, an dem alle einen rechtmäßigen Anteil haben.
Deshalb ist die Partizipation das Grundprinzip der Politik, die im Ganzen als
Kampf um das Recht verstanden werden kann, das ohne Macht nicht gewährt wirksam
wird.[5]
In
dieser Funktion steht die Politik von vornherein unter der Prämisse der
endlichen Welt. Sie will durch eine kollektive Anstrengung das Leben einer
Gemeinschaft sichern und ist damit ursprünglich auf die Gewährleistung des
Zusammenhangs der Generationen bezogen. Die entschieden individuelle
Perspektive des religiösen Glaubens, der den Tod in der Hoffnung auf persönliche
Erlösung überwindet, wird in der Politik zugunsten der sozialen Erwartung individueller
Verträglichkeit abgelöst. Es kommt darauf an, dass man jetzt in Frieden mit einander
lebt, und nicht darauf, dass man nach seinem irdischen Dasein in Frieden ruht.
Alles
in allem ist die Politik den herrschenden Gegensätzen unterworfen. Sie hat mit
den Unterschieden zwischen Individuen zu rechnen, damit auch mit ihrer
Verletzlichkeit, ihrem Ehrgeiz und ihrer Falschheit. Alles dies sind Indizien
dafür, dass die Subjektivität der Menschen zumindest bei den Protagonisten des
politischen Handelns bereits seit langem ausgeprägt gewesen ist.
8.
Spätestens mit den zu Beginn des 6. vorchristlichen Jahrhunderts durchgesetzten
Solonischen Reformen und mit der keine hundert Jahre später (504/3 v. Chr.)
erfolgten Einigung des Menenius Agrippa mit dem revoltierenden Volk Roms,
bewegt sich die Politik in bewusst erfahrenen und institutionell anerkannten
Gegensätzen. Sie beansprucht die Entscheidungskompetenz in allen Fragen,
welche die Lebensform der Gemeinschaft als Ganzer betreffen.
Die
Politik entscheidet über Krieg und Frieden und beansprucht allein damit das
Recht, unter Umständen auch über Tod und Leben der Bürger zu befinden. Ihr
obliegt die Rechtsprechung. Damit kann sie Strafen verhängen, die auch die
Verbannung oder den Tod Einzelner einschließen können.
Am
Prozess gegen Sokrates (400 v. Chr.) lässt sich studieren, wie die politische
Herrschaft, weil sie durch die vermeintliche Verführung der Jugend die Ordnung
der Gemeinschaft gefährdet sieht, sich zum Gebieter über Leben und Tod seiner
Bürger erhebt. Der Beschuldigte weist die Anklage in allen Punkten zurück, aber
er bezweifelt nicht im Geringsten die Kompetenz der Politik, über Tod und
Leben zu richten.[6]
In
der Verfügung über Leben und Tod liegt ein Recht,[7] das
den politischen Instanzen bereits in Athen und Rom von keiner priesterlichen
Gemeinschaft streitig gemacht worden ist. Und selbst die christlichen Bischöfe,
die, anders als in Athen und Rom keine Beamten des Staates waren, haben diese
Befugnis, über Leben und Tod der Bürger zu entscheiden, stets nur in Verbindung
mit einer weltlichen Herrschaft beansprucht. Die Kirche musste sich allererst zum
Staat im Staate erklären, wenn sie, wie das im Fall der Inquisition geschah,
Hoheitsbefugnisse über ihre Gläubigen ausüben wollte. Oder, was ein noch
größeres Missverständnis des Glaubens bedeutet: Sie musste Staatskirche sein.
Autonomie
der Politik bedeutet also, dass ihr allein die Kompetenz der Gesetzgebung
zufällt. Sie allein befindet darüber, wer welche Rechte genießt, welche
Institutionen es geben soll und wofür sie zuständig sind. Dabei hat sie sich in
der von ihr selbst erklärten Zuständigkeit auf die Belange des gemeinsamen
Lebens, genauer: auf die Angelegenheiten der öffentlichen Ordnung zu
beschränken.
9.
Bekanntlich hat es lange gedauert, ehe die Politik zu einem Verständnis
gefunden hat, wie es im modernen Rechtsstaat unter den Bedingungen einer
parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck kommt. Dazu kam es, nachdem es unter
dem Titel der Menschenrechte möglich geworden war, den Staat selbst auf
Prinzipien zu verpflichten, die ihn in der Form eines Grundgesetzes binden.[8]
Mit
Blick auf die Menschen- und Bürgerrechte könnte man den Eindruck haben, dass
sie die Autonomie des Staates beseitigen. Denn unter ihrem Anspruch muss er
sich an Grundsätze halten, die aus der Person des Individuums folgen und mit
der Achtung vor der Würde des Einzelnen für den Staat verbindlich sind.
Doch
man sieht sofort, dass die Menschenrechte erst gesetzlich wirksam sind, wenn
ein Staat sie durch einen Akt ausdrücklicher Anerkennung zum Bestandteil seiner
Konstitution oder zum regulierenden Element seiner Verfahren gemacht hat.
Außerdem kann er sie in Situationen allgemeiner Gefährdung, zeitlich
befristet, einschränken. Somit bleibt er auch hier Herr des Verfahrens und kann
als autonom in allen Fragen der allgemeinen Ordnung gelten. Schließlich darf er
keine nicht-politische Instanz akzeptieren, die seine Entscheidungen korrigiert.
Seine Verpflichtung gegenüber der gewachsenen Sittlichkeit eines Landes und der
moralischen Autorität der Person setzt in jedem Fall eine gesetzliche
Selbstverpflichtung voraus, bleibt also genuin politisch und schränkt die
Autonomie nicht ein.
Für
die Autonomie des Staates gilt das Gleiche wie für die Autonomie der Person:
Sie bedeutet nicht, dass hier eine vollkommene Unabhängigkeit von den
physischen, physiologischen, sozialen und kulturellen Bedingungen besteht, wohl
aber dass ihr die Kompetenz zur eigenen Entscheidung in den sie betreffenden
Fragen zukommt. Sie kann ihr durch keine vergleichbare Instanz strittig
gemacht werden. So wie ein Staat nicht der Willkür einer einzelnen Person oder
einer Gruppe unterworfen werden kann, so kann er sich auch nicht der Autorität
einer Glaubensgemeinschaft fügen – es sei denn, er hält dies im Interesse der
Sicherung der allgemeinen Ordnung für nötig und beschließt das aus politischen
Gründen mit der erforderlichen Mehrheit – wobei noch die zusätzliche Bedingung
hinzutritt, dass er mit der Mehrheitsentscheidung keine Rechte einer
Minderheit verletzt.
10.
Die Politik beruht, wie alles menschliche Leben, auf zahlreichen physischen,
physiologischen, sozialen und kulturellen Bedingungen. So weit ihre Einsicht
reicht und soweit sie es kann, hat sie zu versuchen, sich diese Bedingungen zu
erhalten. Deshalb fördert sie die Ökonomie, sichert den inneren wie den
äußeren Frieden, ergreift Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit, betreibt Vorsorge
für das Alter oder sucht sich ihre geschichtliche und natürliche Umwelt zu
bewahren.
Wenn
darüber hinaus der Politik das Recht zur Erziehung und Bildung ihrer Bürger
zugestanden wird, darf erwartet werden, dass sie nicht nur das Wissen
vermitteln, das jeder Einzelne benötigt, um unter den die Politik tragenden
Bedingungen der Arbeitsteilung seine Lebensaufgabe bewältigen zu können. Der
Einzelne muss auch über die personalen und die ideellen Kompetenzen verfügen
können, die er als Bürger braucht, um zur Erhaltung und Entfaltung seines
Gemeinwesens beizutragen.
Spätestens
mit dem historischen Durchbruch zur parlamentarischen Demokratie ist die
Politik auf die Freiheit und Gleichheit der partizipierenden Individuen
gegründet. Damit hat sie die Pflicht, sich um die Erziehung zur Mündigkeit
ihrer Bürger zu kümmern. Und da sie unter den Bedingungen einer
konstitutionellen Selbstverpflichtung auf das Menschenrecht darauf angewiesen
ist, die Würde der Person zu achten, hat sie Sorge dafür zu tragen, dass die Bürger
nicht nur wissen, sondern auch erfahren können, was die Würde des Menschen in
Theorie und Praxis bedeutet.
Eine
Politik im demokratischen Rechtsstaat hat somit die Voraussetzungen dafür zu
schaffen, dass die Bürger in Freiheit und Würde leben können. Insofern ist sie
durch ihren eigenen Anspruch darauf festgelegt, die personalen und die
ideellen Bedingungen zu sichern, auf denen sie beruht. Die von der Politischen
Theologie bis in die jüngste Zeit vertretene These, der Staat könne die
Bedingungen, auf denen er beruht, nicht sichern, ist eine Antithese zur Autonomie
der Politik. Sie widerspricht dem seit mehr als zwei Jahrtausenden
praktizierten Selbstverständnis der Politik und steht namentlich dem
Selbstbegriff des modernen Verfassungsstaats entgegen. Das viel zitierte Wort
eines Anhängers der in unendlicher Entfernung zur Demokratie entwickelten
Politischen Theologie[9] ist
somit nicht nur falsch, sondern auch eine grobe Verleugnung der Grundlagen
unserer Demokratie.
11.
In der Bemühung um Sicherung seiner eigenen Existenzbedingungen hat sich der
Staat auf das zu beschränken, was in den Vollzugsbereich des politischen
Handelns fällt. Das aber heißt nicht, dass er nur für das äußere rechtmäßige
Tun der Bürger zuständig ist. Er kann auch aus dem Wissen, dass dieses Handeln
auf wechselseitigem Verständnis, auf dem Respekt für Andere und auf Toleranz
gegenüber Andersdenkenden beruht, die Konsequenz ziehen, für deren Entwicklung
und Förderung einzutreten.
Auch
wenn der Staat in der Bewertung der Strafbarkeit von Handlungen der Bürger nur
die Rechtmäßigkeit zu beachten hat, obliegt ihm gleichwohl das Recht und die
Pflicht, günstige Bedingungen für die Entfaltung des Rechtsbewusstseins zu
schaffen.
Mehr
noch: Da er in seinen Leistungen für das Gemeinwohl auf vielen Feldern des
politischen Handelns auf freiwillige Tätigkeiten, auf besonderen Einsatz, vor
allem aber auf die bürgerliche Gesinnung der verantwortlichen Personen
angewiesen ist, hat er auch zur ethischen Orientierung und Stabilisierung
seiner Bürger beizutragen. Ein auf die menschliche Gesinnung, die Wahrung der
personalen Würde und die wechselseitige Toleranz ausgerichteter Ethik-Unterricht
gehört (gerade unter Konditionen ethnischer, religiöser und kultureller
Pluralität) zu den vorrangigen Aufgaben einer parlamentarischen Demokratie.
Mit
welcher Heilsperspektive jedoch das Individuum seine ethischen Grundsätze und
seine politischen Erwartungen verknüpft, ist eine Frage, die den Staat solange
nicht zu interessieren hat, solange er den Eindruck haben darf, dass die
Personen aus ihrer individuellen Heilsgewissheit keine die rechtlichen
Grundlagen des Gemeinwesens zerstörenden Konsequenzen ziehen. Der Glaube vermag
Kraft zu geben; unter seinem Schutz lassen sich unwürdige politische Umstände
leichter ertragen, vielleicht auch leichter verändern. Der Glaube kann in politischer
Unterdrückung ein treibendes Motiv für den Widerstand sein. Er darf aber nicht
das Recht zu beseitigen suchen, auf dem die Möglichkeit seiner Entstehung,
Ausbreitung und Ausübung besteht. Legen Religionsgemeinschaften es darauf an,
die Ordnung zu zerstören, die ihnen die Chance zur eigenen Tätigkeit bietet,
haben sie ihre Zulassung[10]
verwirkt.
12.
Die religiöse Erziehung kann zu den Aufgaben eines Staates nur dann gehören,
wenn das mit der Religion verbundene Ethos für die Erhaltung und Entfaltung des
Staates unerlässlich ist. Das mag in Staaten, in denen eine Religion ein
Monopol ausübt, so gewesen sein. Lange Zeit konnte das in Europa so
wahrgenommen werden. Das Christentum war das dominierende Bekenntnis, auch wenn
man ihm nicht attestieren kann, dass es wesentlich zur Ausbildung des
freiheitlichen Rechtsstaats beigetragen hat.
Zwar
verdanken wird den Gedanken des Menschenrechts einem hellsichtigen spanischen Dominikaner
des 16. Jahrhunderts (Las Casas); unter seinem Einfluss hat ein spanischer Jesuit
das Umdenken in der Frage der Demokratie (Francisco Suarez) eingeleitet;
christlicher Humanismus und protestantische Theologie haben die Idee der
Eigenständigkeit des Individuums sowie die Praxis kirchlicher Selbstverwaltung
gestärkt; schließlich haben die anglikanischen Konfessionen den Gedanken
persönlicher Freiheit und individueller Gleichheit in die neuenglischen
Kolonien getragen; sie haben auch John Locke inspiriert und auf ihn einen großen
Einfluss auf die Theorie des Liberalismus ausgeübt, der zu den wichtigsten
Pfeilern des demokratischen Selbstverständnisses gehört.
Es
liegt mir fern, dies zu leugnen. Aber die Kirchen als Kirchen haben die
Gesamtentwicklung eher gebremst als gefördert. Streng genommen haben sie
allein durch ihre höllische Unverträglichkeit zur Genese der parlamentarischen
Demokratie beigetragen. Nur ihr mörderischer Gegensatz hat die Entwicklung zum
Rechtsstaat begünstigt. Es ist daher durch nichts gerechtfertigt, ihnen eine
staatstragende Aufgabe bei der Erziehung zur Demokratie zuzuerkennen. Statt in
Berlin den Religionsunterricht als staatsliches Fach einzuführen, sollte man ihn
in den anderen Bundesländern endlich und allgemein durch den Ethik-Unterricht
ersetzen.
Ethik
gehört neben Physik und Logik zu den ältesten Schuldisziplinen überhaupt. Den
Religionen hingegen sollte ihr Nachwuchs so wichtig sein, dass sie ihn selber
unterrichten. Meine theologischen Neigungen sind so ausgeprägt, dass ich mich
selbst gern als Lehrer für diesen Unterricht in meiner lutherischen
Kirche zur Verfügung stelle.
[1] Unübersehbar ist die Form
individueller Anrede in den Geboten, mit denen Mose die Gesetzgebung des der ägyptischen
Gefangenschaft entronnenen Volkes Israel begründet: „Ich bin der Herr […]. Du sollst
keine anderen Götter haben neben mir.“ „Du sollst dir kein Bildnis noch
irgendein Gleichnis machen [...].“ „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes,
nicht missbrauchen [...].“ „Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.“
(2. Mose 20, 2 – 9)
[2] Dazu nur zwei Belege: „Wenn
jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder,
Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.“ (Lk. 14, 26)
– „Herr erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe?“ (Mt. 8,
21) Ihm antwortet Jesus mit einer Ungeheuerlichkeit: „Folge du mir, und lass
die Toten ihre Toten begraben.“ (Mt. 8, 22; H.v.m.) Siehe dazu: V. Gerhardt,
Artikel: Individualität. Individuum/ Individualisierung/ Institution/
Universalität, in: W. Gräb/ B. Weyel (Hrsg.), Handbuch praktische Theologie,
Gütersloher Verlagshaus 2007, 64-76.
[3] I. Kant, Kritik der reinen
Vernunft, B ***.
[4] Vom säkularen Geist der
Politik, Eröffnungsvortrag: Christentum – Staat – Kultur. Vom säkularen Geist
der Politik, in: Andreas Arndt/ Ulrich Barth/ Wilhelm Gräb (Hrsg.): Christentum
– Staat – Kultur. Akten des Kongresses der Internationalen
Schleiermacher-Gesellschaft in Berlin, März 2006, Walter de Gruyter: Berlin/ New
York 2008, 21-37.
[5] Dazu des Näheren: V.
Gerhardt, Partizipation. Das Prinzip der Politik, München 2007.
[6] Sokrates fügt sich dem
Todesurteil, das nach der Beweislage ein Justizmord ist, aber dennoch formal
dem Recht entspricht. Er lehnt die Flucht aus dem Gefängnis ab, weil er sich
damit ins Unrecht setzen würde. Dies geschieht unter Berufung auf sein Gewissen
(!), in Konsequenz seiner zuvor individuell praktizierten Zustimmung zu den
Gesetzen seiner Stadt.
[7] Dazu: V. Gerhardt, Tod und
Politik. Über eine grundlegende Bedingung der politischen Welt, (erweiterte Fassung
des Vortrags vor der Habilitationskommission des Fachbereichs Philosophie im
Februar 1984), in: P. Fischer (Hrsg.), Freiheit oder Gerechtigkeit.
Perspektiven Politischer Philosophie, Leipzig 1995,40-69.
[8] Auf das Unerhörte dieses
Vorgangs habe ich an anderer Stelle hingewiesen: V. Gerhardt, Partizipation.
Das Prinzip der Politik, München 2007.
[9] Ich spreche von dem Carl Schmitt-Schüler
Ernst-Wolfgang Böckenfoerde, der gewiss viele Verdienste als Verfassungsrechtslehrer
und als Verfassungsjurist hat. Ich schätze an ihm, dass er sich um eine
persönliche Aufklärung seiner konfligierenden Verbindlichkeiten als Bürger
einerseits und als katholischer Christ andererseits bemüht. Leider ist es ihm
in Theorie und Praxis nicht immer gelungen, die Loyalität gegenüber dem Verfassungsstaat
zu wahren. Beispiele sind seine Verteidigung eines Verfassungsgerichtsurteils
von 1975, das mit der Konsequenz, etwas sei „rechtswidrig, aber straffrei“, der
Rechtsauffassung spottet. Das andere Beispiel ist die oben kritisierte
Behauptung, der demokratische Staat könne nicht für die Erhaltung seiner
eigenen Grundlagen sorgen (Böckenfoerde, Die Entstehung des Staates als Vorgang
der Säkularisierung [1967] in: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/M.
1976, 42 — 64).
[10] Auch die Zulassung ist
eine politische Bedingung, über die politisch entschieden werden kann.
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Hegelfan 18.05.2014 12:44
Sehr geehrter Herr Dr. Gerhardt, in ihrem letzten Satz ist ein "Selbst" zu viel hineingeraten.