Erschienen in Ausgabe: No. 37 (3/2009) | Letzte Änderung: 28.04.09 |
Olivier Adam Nichts was uns schützt Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz Titel der Originalausgabe: À l'abri de rien Klett-Cotta, Stuttgart (März 2009) 208 Seiten, Gebunden ISBN-10: 3608936068 ISBN-13: 978-3608936063 Preis: 19,90 EURO
von Heike Geilen
Tragödien aller Art bestimmen zunehmend die
Berichterstattung der Medien und damit unseren Alltag. So konnte man in den
letzten Monaten immer wieder Artikel über den "Dschungel von Calais" lesen. Hier auf
der französischen Seite des Ärmelkanals, wo das verlockende England nur 30 km
entfernt liegt, strömen sie zusammen - Auswanderer aus der Armut, Flüchtlinge
vor Krieg und Elend, Hoffnungsvolle, die ein besseres Leben in Europa suchen:
Pakistanis, Afghanen, Kurden, Afrikaner.
Halbe Kinder sind teilweise darunter, auf die Reise
geschickt von ihrer Familie, die darauf vertraut, dass sie sich durchschlagen
und irgendwann Geld nach Hause schicken. Sie haben wochen- und monatelange
Strapazen hinter sich. Sie sind hager und misstrauisch geworden. Sie wollen nach
England, weil es dort angeblich einfacher ist, schwarz zu arbeiten. Viele haben
bereits Kontakt zu Landsleuten, die es nach Großbritannien geschafft haben. Wer
sich auf einen Lastwagen schmuggeln will, muss eine nicht unerhebliche Summe
Geld an einen Schlepper zahlen, der wiederum die Lastwagenfahrer besticht.
Aber die Grenze ist eine der am besten gesicherten in
Europa. Der Hafen von Calais ist mit seinen 2,50 Meter hohen Stacheldraht- und
Elektrozäunen und zahlreichen Kameras kaum noch erreichbar. Die Lastwagen
werden mit hochsensiblen Geräten überprüft, die Herzschläge entdecken oder den
CO2-Gehalt messen, der menschlichen Atem verrät.
"Ein pappiger
Film aus Alltag und Ärger"
Diesem Thema hat sich der vielfach preisgekrönte
französische Schriftsteller Olivier Adam, der bereits mit "Am Ende des Winters" den Prix
Goncourt für Jugendliteratur erhielt und mit seinem Debüt in der
zeitgenössischen Belletristik, seinem letzten poetisch, starken Text "Klippen" 2005 auf der Liste der
vier Finalisten stand, in seinem neuestes Buch "Nichts was uns schützt" angenommen.
Als fragiles, bindendes Glied zwischen den Migranten und der
immer wieder brutal agierenden französischen Polizei hat Adam die zerbrechliche
Marie, eine psychisch labile, junge Frau, gesetzt. Durch Zufall wird sie eines
Tages auf ein Flüchtlingslager aufmerksam und schließt sich als freiwillige
Helferin an. Indem sie Essen und Kleidung an die illegal Eingereisten austeilt,
findet die bis dato ziel- und antriebslos in den Tag hinein lebende, depressive
Hausfrau ("ein pappiger Film aus
Alltag und Ärger überzog alles um uns herum [...] machen wir uns nichts vor,
für die wenigsten Leute hat das Leben viel mehr zu bieten.") Halt und so
etwas wie innere Bestätigung und einen Lebenssinn ("... das alles hatte für mich eine verborgene Bedeutung, einen
unerklärlichen Sinn. Etwas Ernstes, Entscheidendes, das ich nicht greifen
konnte."). Doch zunehmend verliert sie in der Hilfe für diese Gestrandeten
die Kontrolle über sich und vernachlässigt ihre Familie (ein Ehemann und zwei
Kinder) mehr und mehr.
Feinfühlige,
intelligente, doch niemals "pathosgetränkten Bilder"
Wie schon in seinem letzten Roman "Klippen" berichtet ein Ich-Erzähler - hier in Gestalt der Protagonistin
Marie - in einem lückenhaften Fluss der Erinnerungen von seinen Gedanken,
Erlebnissen und Empfindungen. "Das
Leben hatte Wände hochgezogen um uns herum, dahinter lief etwas vorbei, uns
reichte es gerade noch, den Kopf in den Nacken zu legen, uns zu recken und ein
ganz vages Bild zu erhaschen von dem, was uns entging, was wir hier verpassten.
Ich weiß nicht, was. Wahrscheinlich nur etwas, das doch von vornherein gar
nicht für uns bestimmt gewesen wäre."
In seiner typisch einfachen, aber wunderschönen Diktion - schnörkellos-karge,
klare, von Zeit zu Zeit stakkatoartige Sätze ohne Punkt und Komma, in beinahe
puristischem Stil - skizziert Olivier Adam seine Figuren. Eine simple Linie,
ein Strich genügt zur Beschreibung einer Situation von ungeheurer Dramatik. Diese
feinfühligen, intelligenten, doch niemals "pathosgetränkten Bilder"
und rührseligen Dramatisierungen der seelischen Disharmonien Maries, die nahe
am Wahnsinn gelagert sind ("Ich
fühlte mich alleine und verloren, von innen durchgefroren, völlig, unterkühlt")
oder aber der zeitweise brutalen, düsteren Skizzierung der Flüchtlingsleben,
wechseln sich mit Passagen atmosphärisch dichter Landschaftsbeschreibungen, der
rauen, aber eindrucksvollen Küste ab.
So entstehen vor dem inneren Auge des Lesers Bilder, Porträts
und Landschaften, die man fast atmen und schmecken kann. Und immer wieder das
Meer als zentrales Element, als Magnet im Roman: "ein Gefühl des Verlorenseins. Des Versinkens. Eine Sintflut. Das Ende
der Welt."
Oliver Ilan Schulz wiederum ist es mit seiner Übersetzung
aus dem Französischen großartig gelungen, diese beinahe visuelle, ungeheuer
eindrucksvolle und nachhaltige Sprache des Autors dem deutschsprachigen
Publikum ohne Verlust zugängig zu machen.
Fazit:
Gewalt, Depression, Migration, Hilfe, Verzweiflung und
Desillusionierung sind die Themen in Olivier Adams neuem Roman "Nichts was uns schützt". Erneut
legt der vielversprechende junge französische Autor ein Buch über die
Schwächsten vor, Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen und
die die Härte des Lebens besonders schwer trifft.
Bedrückende, dunkle, aber ungeheuer substanzhaltige,
großartige Literatur.
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