Erschienen in Ausgabe: No. 37 (3/2009) | Letzte Änderung: 28.04.09 |
Martin Beyer Alle Wasser laufen ins Meer Klett-Cotta, Stuttgart (März 2009) 240 Seiten, Gebunden ISBN-10: 3608936092 ISBN-13: 978-3608936094 Preis: 18,90 EURO
von Heike Geilen
Der Salzburger Lyriker Georg Trakl (1887-1914), ein
bedeutender Vertreter des deutschsprachigen Expressionismus, wird oft als
stärkste Stimme seiner Generation bezeichnet. Der begabte junge Mann mit dem
unruhigen Geist verinnerlichte zwei Personen in seiner Brust: er war "Prophet
der Endzeit", aber auch ein Dichter sinnlicher Traumvisionen voller
Schönheit. Die bildhafte Sprache seiner Gedichte ist von großer düsterer Kraft
und Farbenpracht. Trakl verstand es, seine tiefsten und schmerzhaften
Empfindungen in Worte zu fassen und ihnen einen unvergleichlichen Ausdruck zu
verleihen. Seine sinnreichen Gedichte sind aber auch gleichzeitig das
Spiegelbild einer zerfallenden Welt.
Schon als junger Mann begann er zu dichten. Seine Vorbilder
fand er u. a. in Rimbaud, Verlaine, Dostojewski und Nietzsche ("Es grollte der Nietzsche in ihm, da tosten
Verlaine-Bäche und zogen Rimbaud-Stürme vorbei"). Er beteiligte sich
an der Gründung eines Dichterzirkels. Das Vorlesen eigener Werke war nur eine
der Aktivitäten dieses Zirkels von Jugendlichen. Sie demonstrierten ihre
Verachtung für die bürgerliche Lebensweise, besuchten Bordelle und probierten
Drogen.
Zu seiner fünf Jahre jüngeren Schwester Grete entwickelte
Trakl ein besonders enges Verhältnis, das später zeitweilig sogar in eine
inzestuöse Liebesbeziehung umschlug. Sie - die begabte Klaviervirtuosin - war wie
Georg künstlerisch hochsensibel und genauso hemmungslos. Beide trugen, so notierte
es Trakl einmal, "zerbrochene Schwerter im Herzen".
Ménages à trois
Der 1976 in Frankfurt am Main geborene Martin Beyer hat sich
in den Bannkreis der beiden sensitiven, exzessiv Wein trinkenden und Rauschgift
konsumierenden Künstler versetzt. Beyer, der mit 18 Jahren seine ersten
Erzählungen veröffentlichte und nach seiner Promotion als freier
Schriftsteller, Redakteur und Dozent arbeitet, nähert sich in seinem
eindrucksvollen Romandebüt "Alle
Wasser laufen ins Meer" subtil unaufdringlich, ja liebevoll, einer
großen Tragödie der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts an: der
spektakulären "ménages à trois" des österreichischen Dichters zu
seiner Schwester und deren unerwiderte Liebe zu Georgs bestem Freund Erhard
Buschbeck.
Diese drei Personen bilden das Rahmengerüst des Romans, der
zum Teil auf wahren Begebenheiten beruht. Aus deren Sicht wird abwechselnd
erzählt. Beyer lässt bewundernswert ein Leben zwischen Verzweiflung und Lust
literarisch wiederauferstehen. Die Dreierkonstellation durchzieht das gesamte
Romankonstrukt: Sehnsucht, Besessenheit, Dekadenz - Salzburg, Wien, Berlin, ist
im Klappentext zu lesen. Doch man findet noch viele andere
"Trilogien" in dem feingeistigen und durchdachten Werk. Der
Abschiedsbrief Gretes vom 22. September 1917, gerichtet an ihren Bruder, ist dabei
verbindendes Element des dreigeteilten Werkes, das im Sommer 1906, im Frühjahr
1910 bis zum Sommer 1912 sowie vom Wintern1913 bis zum Winter 1914 angesiedelt
ist. Weitere authentische Dokumente sind in den Text eingeflochten.
Der Autor versteht es auf wunderbare Weise, sich in die
Gedankenwelt der drei jungen zwiegespaltenen Menschen hineinzuimplementieren.
Seine Diktion, seine Assoziationen und Reflexionen gewähren dem Leser eine
subtile Inbesitznahme derer Denkinhalte sowie ein tiefes Verständnis der
inneren Zerrissenheit, der Spannungen und Rastlosigkeiten der Protagonisten. Man
leidet mit ihnen, meint sie zu zutiefst verstehen zu können, ja schlüpft von
Zeit zu Zeit gar in die jeweilige Rolle. Beyers Stil, der genau wie Georg
Trakls Gedichte von Sinnlichkeit und Geist, von Leid und Dunkelheit durchdrungen
ist, erzeugt eine mentale Gefangennahme par excellence.
Ein beeindruckendes
Romandebüt
Kurze einprägsame Sätze von klarer Prägnanz treffen aufs
Vortrefflichste zum einen den Schmerz der Enttäuschung, des Verkanntseins, der
Ungeduld ("Wir können hier nicht
atmen, wir ersticken hier. Es brennt um uns herum, und wir atmen nur noch den
Rauch ein."), aber auch die Kraft der beiden Trakl-Geschwister ("Vielleicht gab es Augenblicke, wo er und das
Glück sich zufällig im selben Raum aufhielten, und sie erkannten einander."),
zum anderen aber auch den Zeitgeist der ausgehenden österreichischen k. und k.
Monarchie ("Es war unendlich stickig
geworden, aber es lag etwas in der Luft [...], es war der Geruch der
Veränderung, der Revolution."). Der gesellschaftliche Umbruch des
Kaiser- und Königreichs Österreich-Ungarn und der nahende erste Weltkrieg sind wunderbar
an Beyers Wortwahl zu spüren: keine einschmeichelnden Straussschen
Operettenmelodien, sondern eher vergleichbar mit Arnold Schönbergs Zwölfton-Musik.
Letztendlich zerbricht der sensible Georg Trakl an den
Grauen des Ersten Weltkrieges. Seine Einheit, zunächst in Galizien stationiert,
wird in der Schlacht von Grodek, im September 1914, das erste Mal zum Kampf
eingesetzt. Sie hinterlässt, neben den vielen Gefallenen, auch 90
Schwerverletzte in Trakls Einheit. Ohne Medikamente und ärztliche Unterstützung
betreut der junge Lyriker zwei Tage, fast ohne Unterbrechung, die hilflosen,
schreienden, blutenden und sterbenden Soldaten. Diese grauenvollen Erlebnisse
zerstören den Lebensmut des hochdepressiven Dichters, der nach einem vorangegangenen
Selbstmordversuch, am 03.11.1914 an einer Überdosis Kokain im Garnisonsspital
Krakau stirbt. " 'Steck es in
Brand.' sagte er laut vor sich hin. 'Steck alles in Brand. Denn es gibt nicht
genug Wasser, um dieses Feuer zu löschen.' [...] Das Wasser, ja das war es.
Aber es schien ihm, als würde er niemals lernen, darin zu schwimmen."
(Auszug aus "Alle Wasser laufen in
Meer").
Seine Schwester Grete folgt ihm drei Jahre und achtzehn Tage
mit einer selbstausgelösten Pistolenkugel. "Die Einsamkeit hat ja gar nichts Erhabenes, sie ist schmutzig und
elend. Und ich bin sehr einsam ohne Dich, Georg. [...] Alle nennen dich krank,
wenn du einen Teil von dir verlierst. Merkwürdig, denn man selbst ist doch
vielleicht gar nicht krank, das Leben in einem ist krank und kann nicht
existieren. [...] Alle Wasser laufen ins Meer. Alle Wasser gehen auf in einem
großen Ganzen, das sich nie erschöpft. Und jeder trägt einen Teil dazu bei, das
ist eine schöne Vorstellung. [...] Dein Gesicht ganz nah, Georg. Alle Wasser
laufen ins Meer. Auch wir halten sie nicht auf. [...] Diese Vorstellung gibt
mir jetzt Trost, wenn ich gehe. Und natürlich hoffe ich, Dich bald
wiederzusehen in diesem großen Meer. Georg. Alle Wasser laufen dorthin. Es ist
Zeit!" (Grete Trakl, Berlin 22. September 1917)
Fazit:
Ein beeindruckendes, ein respektvolles Buch hat Martin Beyer
mit "Alle Wasser laufen ins Meer"
über den viel zu früh verstorbenen Dichter Georg Trakl, seine Schwester Grete
und deren gemeinsamen Freund Erhard Buschbeck abgeliefert.
"Ein falsches
Wort konnte den gesamten Eindruck zerstören, man musste jedes auf die
Waagschale legen. Man durfte sich mit den Wörtern keine Leichtfertigkeit
erlauben, aber wie viel schwieriger war das, wenn man viele Wörter gebrauchte!
Wenn man Dialoge schrieb oder gleich ganze Romane.", lässt der Autor
seinen Protagonisten Georg Trakl sinnieren. Martin Beyer hat sich diese Leichtfertigkeit
keineswegs erlaubt. Ein beeindruckendes Romandebüt!
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