Erschienen in Ausgabe: No. 38 (4/2009) | Letzte Änderung: 01.05.09 |
José Saramago Kleine Erinnerungen Aus dem Portugiesischen von Marianne Gareis Titel der Originalausgabe: As pequenas memorias Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg (Februar 2009) 160 Seiten, Gebunden ISBN-10: 3498063995 ISBN-13: 978-3498063993 Preis: 16,90 EURO.
von Heike Geilen
Zweifelsohne fließen in Romane und Erzählungen viele
persönliche Erlebnisse und Erinnerungen des jeweiligen Autors ein.
Ausgeschmückt, hinzugedichtet, erweitert, drapiert und ausstaffiert treten
diese ihren Weg ins Buch und letztendlich zum Leser an. Dabei ist es völlig
egal, ob es sich um einen "Debütanten" oder einen "hoch dekorierten,
gestandenen" Schriftsteller wie den 86-jährigen portugiesischen
Literaturnobelpreisträger José Saramago handelt.
In seinem soeben erschienenen schmalen Buch "Kleine Erinnerungen" erwähnt er an
einigen Stellen solche Begebenheiten, die ihn später zu einigen seiner Romane
inspiriert haben. Sei es nun ein denkwürdiger Ausflug nach Mafra in die
monumentale Basilika mit ihrem gehäuteten heiligen Bartholomäus, die ihn zu
"Das Memorial" animierte. Oder aber der von Zeit zu Zeit
stattfindende Besuch eines etwas streng riechenden blinden Verwandten, dessen
Ausdünstungen er seitdem mit Blindheit verbindet und dies vermutlich in
"Die Stadt der Blinden" seinen Niederschlag fand. Der frühe und für
ihn nicht geklärte Tod seines Bruders Francisco sowie seine späteren Recherchen
in Personenstandsregistern regten ihn wiederum zum Roman "Alle Namen"
an.
Wortreiche
Verführungen
Doch dies sind nur kleine Randnotizen des vorliegenden autobiografischen
Buches, das von Reminiszenzen Saramagos aus einer Zeit, in der er Kind war
berichtet. Sie reichen von den frühesten im Gedächtnis haften gebliebenen
Retrospektiven mit ca. 2-3 Jahren bis ins jugendliche Alter. Auch wenn "Kleine Erinnerungen" nicht die
vergleichbare Tiefe und Substanz seiner großartigen Romane hat, so ist es doch
ein kleines-großes und vor allem liebevolles Werk.
"Lass dich von
dem Kinde verführen, das du einmal warst." Diesen Satz aus dem
"Buch der Ratschläge" stellt der bescheidene Autor, der zurzeit an
einem neuen Roman arbeitet, seiner Erzählung voran. Und im wahrsten Sinne des
Wortes verführt und bezaubert José Saramago den Leser. Er schreibt voller Liebe
von seinem Geburtsort Azinhaga, am Ufer des Flusses Almonda, der wiederum
"einen knappen Kilometer südlich der
letzen Häuser" mit dem Tejo zusammentrifft.
"Dort kam ich zur
Welt, dort wurde ich, weil die Not meine Eltern nach Lissabon trieb, als knapp
Zweijähriger wieder herausgerissen und in eine andere Art zu fühlen, zu denken
und zu leben eingeführt, als sei mein Geborenwerden an diesem Ort ein gerade
noch aufzugebender misslicher Zufall, ein Versehen des Schicksals gewesen. Zu
spät. Von aller Welt unbemerkt, hatte das Kind Ranken und Wurzeln geschlagen,
hatte dieser zarte Keim, der ich damals war, die Zeit genutzt, seine winzigen,
unsicheren Beinchen auf den Lehmboden zu setzen, um von diesem unauslöschlich
das Siegel der Heimat eingebrannt zu bekommen [...]. In dem geheimnisvollen
Buch des Schicksals und den dunklen Wirren des Zufalls stand geschrieben, und
ich allein wusste das, ohne mir dessen bewusst zu sein, dass ich nach Azinhaga
zurückkehren sollte, um fertig geboren zu werden. Meine ganze Kindheit und
frühe Jugend über war dieses arme, einfache Dorf [...] der Geburtsort, in dem
ich noch immer ausgetragen wurde, der schützende Beutel, in dem dieses kleine
Beuteltier steckte, um im Guten und vielleicht auch im Schlechten das aus sich
zu machen, was es heimlich, still und leise nur für sich alleine machen konnte.
"
Feinfühlige Töne
Mal heiter und mit subtilem Humor, hin und wieder mit einem
Schuss Ironie, manchmal traurig, melancholisch oder nachdenklich, hier mit
verschmitztem Lächeln und da voller Zuneigung, erzählt der große Schriftsteller
von den kleinen Dingen des Lebens, den Abenteuern und "kaum nennenswerten
Heldentaten" des heranwachsenden Jungen. Das tut er auf so wunderbare Art
und Weise, mit subtil erzeugten Schwingungen, die ein angeregtes Leseerlebnis
hinterlassen und einen hinreißenden Blick in intime Momente der Vergangenheit
des portugiesischen Autors gewähren.
So erfährt der Leser wie José Saramago zu seinem
Familienname kam, der keineswegs der väterliche war, sondern ein Spitzname, dem
er einem betrunkenen Standesbeamten zu verdanken hat. Auch seine erste
"poetische Komposition" gibt der Autor zum Besten. Es ist ein
volkstümlicher Vierzeiler, den der damals 17-jährige auf einen kleinen,
herzförmigen Teller brennen lies, um seine Liebschaft (und spätere Frau) Ilda
Reis zu beglücken: "Lass es niemand
hören / denn es ist geheim / dies Herz aus Ton soll dir gehören / mein eignes
ist schon dein."
Und immer wieder schlägt er feinfühlige Töne an, die einen
wohligen Schauer auf der Haut des Lesers zurücklassen: "... vor mir
stand, als wollte er mir den Werg versperren, ein hoher Baum, der vor dem
klaren Nachthimmel zunächst sehr dunkel wirkte, Da erhob sich eine Bö. Sie ließ
die zarten Grashalme, das scharfe grüne Schilf erzittern und kräuselte das
schlammige Wasser einer Pfütze. Wie in einer Wellenbewegung richtete sich das
breit gefächerte Geäst des Baumes auf und stieg rauschend den Stamm empor, bis
auf einmal alle Blätter ihr verstecktes Gesicht dem Mond zuwandten und die
Buche (es war eine Buche) bis in ihre obersten Wipfel in weißem Glanz
erstrahlte. Es war nur ein Augenblick, nichts weiter als ein Augenblick, doch
die Erinnerung an ihn wird so lange währen wie mein Leben."
Marianne
Gareis, der Übersetzerin aus dem Portugiesischen, ist es zu verdanken, dass
diese dezenten, sensitiven Töne dem deutschsprachigen Leser ohne Verluste zugängig
geworden sind.
Fazit:
Bilder, Gerüche, Geräusche, Düfte, Empfindungen weiß der
portugiesische Nobelpreisträger José Saramago auf eindrucksvolle Art und Weise
wiederzugeben. "Kleine Erinnerungen"
ist eine wunderbare Reise in die Vergangenheit, zu seinen Wurzeln und
familiären Bindungen. Ein leises, zartes Buch, das eine ganz andere Seite des Literaturnobelpreisträgers
zeigt.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.