Erschienen in Ausgabe: No 43 (9/2009) | Letzte Änderung: 31.08.11 |
von Ernst Osterkamp
In einem mit den
Künstlern und dem Publikum seiner Zeit bitter hadernden Rückblick auf die im
Jahre 1805, dem Todesjahr Schillers, durchgeführte letzte Weimarische
Kunstausstellung hat Goethe die düstere Prognose formuliert: „die
Weimarischen Kunstfreunde, da sie Schiller verlassen hat, sehen einer großen
Einsamkeit entgegen.“[1]
Eine große Einsamkeit: die Enttäuschung über das desaströse Scheitern seines
mit Hilfe der Weimarischen Preisaufgaben unternommenen Versuchs zur
Erneuerung der Kunst aus dem Geist der Antike verband sich bei Goethe mit dem
Schmerz über den Tod Schillers zu einem umfassenden Verlassenheitsgefühl, das
sich in dem ständig wachsenden Bewußtsein seiner grundsätzlichen Distanz zum
Zeitgeist verdichtete. Dies Bewußtsein intensivierte sich in dem Jahrzehnt
nach Schillers Tod durch den Verlust weiterer Weggefährten und Freunde:
Herzogin Anna Amalia 1807, Carl Ludwig Fernow 1808, Wieland 1813, Goethes Frau
Christiane 1816 und so fortan. Der Preis für Goethes virtuose Fähigkeit,
andere zu überleben, bestand darin, dass Einsamkeit zu einem zentralen Thema
seines Alters wurde: die Einsamkeit des Zurückgelassenen und die freiwillige
Einsamkeit desjenigen, der sich den Zumutungen des Zeitgeistes zu entziehen
suchte. Es war dies freilich kein öffentlich verhandeltes Thema; Goethe hat
dafür gesorgt, dass die Wendung von der „grossen Einsamkeit“ zu seinen
Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde. Seiner Leserschaft gegenüber hat er es
vorgezogen, statt dessen lieber die Notwendigkeit der Entsagung als einer
ethisch begründeten freiwilligen Resignation von einer umfassenden
Lebensteilhabe dichterisch zu plausibilisieren, und die Germanistik hat, der
Goetheschen Selbstdeutung wie so oft bereitwillig folgend, die Entsagung als
eine Kunst des „heiteren Geltenlassens und des gelösten Verzichts“[2]
geradezu zum zentralen Glaubensartikel des Goetheschen Altersevangeliums erhoben
und damit den Schmerz seiner tatsächlichen Einsamkeitserfahrung zum
Verschwinden gebracht.
Was er an die Öffentlichkeit nicht dringen lassen wollte,
hat Goethe aber den engsten Freunden gegenüber immer wieder als seine durch das
Entsagungskonzept nicht zu bewältigende Empirie der Einsamkeit thematisiert,
am ungeschütztesten wohl gegenüber Carl Friedrich Zelter, dem er wenige Wochen
nach Schillers Tod schrieb: „Ich dachte mich selbst zu verlieren, und verliere
nun einen Freund und in demselben die Hälfte meines Daseins. Eigentlich sollte
ich eine neue Lebensweise anfangen; aber dazu ist in meinen Jahren auch kein
Weg mehr. Ich sehe also jetzt nur jeden Tag unmittelbar vor mich hin, und tue
das Nächste ohne an eine weitre Folge zu denken.“[3]
Diese Sätze sind so berühmt, dass man sie in dem existentiellen Vollgewicht,
die sie für ihren Autor besessen haben, kaum noch wahrnimmt. Hier bekannte
immerhin ein 56 Jahre alter Mann, dass der Verlust des Freundes, der dem
Verlust seines halben Daseins gleichkam, sich nur durch einen fundamentalen
Wandel seiner „Lebensweise“ würde kompensieren lassen, von dem er aber wusste,
dass es dafür längst zu spät war – denn das Remedium der wiederholten
Pubertät, das ihm seine zweifellos große Wirkung auf junge Frauen eröffnete,
blieb im Falle des Verlusts eines Freundes nun einmal ausgeschlossen.
Verlieben kann man sich auch in diesem und in noch höherem Alter leicht, in
einer solchen Lebensphase neue Freunde von einiger Statur zu gewinnen fällt
dagegen nicht nur in Provinzstädten wie Weimar vergleichsweise schwer. Es
stand Goethe klar vor Augen, dass ihm, dem Minister, Familienvater und berühmten
Dichter, jeder Weg zu einer grundsätzlichen Änderung seines Lebens verschlossen
war; seine Lebensbahn war festgelegt, es kam jetzt nur noch darauf an, eine
Strategie zur Bewältigung der Verluste zu entwickeln. Wie die beiden Zitate zu
erkennen geben, hat Goethe sich gleich nach dem Tod Schillers auf eine
Doppelstrategie eingerichtet: Die eine bestand darin, die Einsamkeit für
sich als eine Existenzform zu akzeptieren, die ihm zugleich den produktiven
Widerstand gegen den Zeitgeist ermöglichte, die andere in der pragmatischen
Erledigung des „Nächsten“ im Zeichen jener verkürzten Zeithorizonte, die die
konkrete Erfahrung, aber auch die Erwartung des Todes nahelegte – eine
Erfahrung und eine Erwartung, die Goethe zugleich in seiner Resistenz gegenüber
politischen Maximalprogrammen und geschichtsphilosophischen Globalentwürfen
bestätigten: „Ich sehe also jetzt nur jeden Tag unmittelbar vor mich hin, und
tue das Nächste ohne an eine weitre Folge zu denken.“
Diese Verbindung von Einsamkeit als produktiver Lebensform
und pragmatischer Tätigkeit im lokalen wie temporalen Nahbereich
charakterisiert die Existenz des späten Goethe. Er wußte, dass die Pläne zur
Steuerung der literarischen Prozesse in Deutschland von dem Machtzentrum Weimar
aus sich mit dem Tod Schillers erledigt hatten, und er wußte überdies, dass der
seit der Zeit der Propyläen gehegte
Traum einer gezielten Lenkung der deutschen Kunstentwicklung nach dem Vorbild
der Antike mit dem Ende der Weimarer Preisaufgaben ausgeträumt war. Der Brief
an Zelter vom 30. Oktober 1808 zeigt paradigmatisch, wie Goethe aus seiner
Einsamkeitserfahrung, die sich durch das Bewußtsein seiner Verlassenheit vom
Zeitgeist intensivierte, die doppelte Konsequenz zog, sich einerseits von der
Vorstellung zu verabschieden, auf die künstlerische Entwicklung der Epoche
noch Einfluß nehmen zu wollen, und deshalb andererseits seine Aktivitäten ganz
auf das eigene Werk und die Vielzahl der von ihm beaufsichtigten
wissenschaftlichen und künstlerischen Einrichtungen in Weimar und Jena zu konzentrieren. Zunächst erfolgt in dem
Brief eine Globalattacke: „Die Kunstwelt liegt freilich zu sehr im Argen“,
„alles geht durchaus ins form- und charakterlose“,[4]
um dann gegen dieses „Alles“ allgemeiner Form- und Charakterlosigkeit die
Haltung des Einen zu stellen, der sich auf sich selbst resigniert: „man muß
sich ein für allemal über diese Dinge beruhigen, das Ganze Wesen verfluchen,
an die Bildung anderer nicht denken und die kurze Zeit, die einem übrig bleibt,
zu eigenen Werken verwenden.“[5]
Schärfer als in dieser Verfluchung des „Ganzen Wesens“ konnte die Absage an
den Bildungsoptimismus des klassischen Jahrzehnts nicht ausfallen. Noch 1813
hat Goethe in einem Brief an Zelter im Rückblick auf die literatur- und kunstpolitischen
Strategien der Jahre mit Schiller kopfschüttelnd von dem „Wahn“ der
Weimarischen Kunstfreunde gesprochen, „es sei auf die Menschen genetisch zu
wirken“;[6]
die Entwicklung von Kunst, Literatur und Wissenschaft im Zeichen umfassender
programmatischer Leitlinien und Idealkonzeptionen umbiegen und steuern zu
wollen, hatte er schon längst für immer aufgegeben. Er hat statt dessen seine
Wirksamkeit auf das „Nächste“ konzentriert: nicht auf die Welt und nicht auf
Deutschland, sondern auf das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, auf Weimar
und Jena, nicht wie die Philosophen des deutschen Idealismus auf die Menschheit,
sondern auf den einzelnen Menschen, nicht auf die Gattung, sondern aufs
Individuum, mit dem Blick nicht auf entwicklungsgeschichtliche Fernperspektiven,
sondern auf dasjenige, was im unmittelbaren Nahbereich konkret zur
pragmatischen Bewältigung anstand. Dass er für sich die Einsamkeit als seine
produktive Existenzweise bestimmt hatte, half ihm bei dieser Konzentration
aufs „Nächste“; schließlich gab es um ihn genug andere, die in Politik,
Philosophie und Kunst das große Ganze im Blick zu haben glaubten und dafür das
„Nächste“ aus den Augen verloren. Einer davon war, wie sich beim Zusammenbruch
Preußens im Oktober 1806 zeigte, zum Beispiel sein Herzog Carl August, dessen
antinapoleonische Politik an der Seite Preußens ihn beinahe sein Herzogtum
gekostet hätte. Gewiß hat Goethe im Jahre 1805 nach dem Tod Schillers seinem
Leben nicht mehr eine fundamentale Wendung zu geben vermocht, aber die
Bewußtheit, mit der er von da an die Einsamkeit und die Konzentration auf das
Nächste als die Bedingungen seines Daseins akzeptierte, signalisiert eben
doch den Eintritt in eine „neue Lebensweise“.
Goethe hat nie in einem sozialen Sinne einsam gelebt;
Familie, Amt, weite Bekanntenkreise, die Verankerung in Stadt und Region,
literarische und wissenschaftliche Verbindungen weltweit haben dies
ausgeschlossen. Die Einsamkeit, in die er sich mit dem Tod Schillers plötzlich
versetzt fühlte, bezeichnet vielmehr die Empfindung der geistigen Isolation in
seiner eigenen Zeit und den Verlust des Einklangs mit den tragenden intellektuellen
Bewegungen der Epoche. Goethes „große Einsamkeit“ begründet sich dreifach: In
ihr verdichten sich die Erfahrungen desjenigen, der sich mehr und mehr von
seinen Generationsgenossen verlassen fühlte, dessen epochale Lebensbedingungen
sich massiv von denen unterschieden, unter denen er aufgewachsen war, und
dessen Selbstverständnis in entschiedener Opposition zum Zeitgeist stand. Um
das Jahr 1805 gelangten diese drei Dimensionen seiner Erfahrung zu entschiedener
Entfaltung und riefen in ihm jenes Schwellenbewußtsein hervor, das den Beginn
seines Alters markiert und im Gefühl der Vereinsamung Ausdruck fand. Für die
Vertreter der jungen Generation war Goethe damals längst derjenige, der immer
schon dagewesen war: das ewige Vorbild, der ewige Gegner. Es fällt auf, dass
Goethe nach Schillers Tod keine freundschaftliche Verbindung zu einem Vertreter
der jüngeren Generation mehr aufgebaut hat, ja dass er in allem, was er fortan
unternahm, nach neuen Bundesgenossen ernsthaft nicht mehr Ausschau hielt –
bis hin zu der radikalen Entscheidung, seine ab 1816 erscheinende
Alterszeitschrift Kunst und Altertum fast
ganz allein zu schreiben. Dauerhaft enge Beziehungen hat er nach Schillers Tod
nur noch zu bewährtesten Freunden unterhalten, aber auch diese Freundschaften
standen im Zeichen des Imperativs, Distanz ertragen zu können, ja ertragen zu
müssen. Sein Kunstfaktotum Heinrich Meyer, das er seit der Italienreise kannte,
war ihm als Direktor der Zeichenschule dienstlich und sozial so weit
untergeordnet, dass allzu große persönliche Nähe ohnehin ausgeschlossen blieb.
Die anderen Freunde, Carl Friedrich Zelter etwa oder Wilhelm von Humboldt,
lebten weit entfernt im von Goethe idiosynkratisch verabscheuten Berlin und
kamen nur selten nach Weimar. Die großen Vertreter der jungen Generation
schließlich hat Goethe nicht mehr recht an sich herangelassen und immer
versucht – bei aller persönlichen Wertschätzung wie etwa im Falle Sulpiz
Boisserées –, sie auf Distanz zu halten, denn er mußte ständig – und dies
keineswegs immer zu Unrecht – befürchten, für Absichten und Programme, die
ihm nicht gemäß waren, benutzt zu werden. Der späte Goethe war einer, der
gelernt hatte, die Welt auf Distanz zu halten, und dies auch deshalb, weil, wie
er aus Teplitz am 23. Juni 1813 an Zelter schrieb, „man in dieser jetzt
zerrissenen Welt nicht mehr weiß wem man angehört. Schon 8 Wochen bin ich hier,
lebe einsam, friedlich“.[7]
Im Frieden der Einsamkeit zu leben mußte er allerdings, nach
dem plötzlichen Ende der kulturpolitischen und literaturstrategischen Symbiose
mit Schiller, erst mühsam lernen. Deshalb die geradezu panischen Versuche
Goethes, in den Wochen und Monaten nach Schillers Tod Zelter zu einem Besuch in
Weimar oder Lauchstädt zu bewegen, um den erlittenen Verlust durch die
zumindest zeitweilige Nähe eines wenn auch ganz anders gearteten Freundes
auszugleichen, von dem er sicher wußte, daß er mit ihm die gleichen
Grundüberzeugungen teilte: „Jacobi erwarte ich alle Tage. Warum kann ich nicht
hoffen, Sie auch noch dieses Jahr zu sehen?“ (19. Juni 1805)[8]
„Mit hin und wieder schreiben ist nichts getan.“ (22. Juli 1805)[9]
„Bis zum heutigen Tage habe ich mir, wiewohl nur mit einer schwachen Hoffnung,
geschmeichelt Sie hier zu sehen. Es gehört zu den traurigsten Bedingungen,
unter denen wir leiden, uns nicht allein durch den Tod, sondern auch durch das
Leben von denen getrennt zu sehen, die wir am meisten schätzen und lieben und
deren Mitwirkung uns am besten fördern könnte.“ (4. August 1805)[10]
Zelter hat die Not, die sich in diesen Sätzen aussprach, erkannt und Goethe
noch im August für wenige Tage in Lauchstädt besucht. Danach hat Goethe dann
sehr rasch Strategien zur aktiven Bewältigung seiner neuen Einsamkeit
ausgebildet: die Gründung der Mittwochsgesellschaft im Herbst 1805, bei der
Goethe den Damen des Weimarer Hofes naturwissenschaftliche Vorträge hielt, ab
1806 die regelmäßigen Reisen ins fashionable Karlsbad mit seiner
internationalen Gesellschaft und den damit gegebenen Möglichkeiten auch zur
erotischen Revitalisierung, die Neubelebung der Aktivitäten als Sammler, als
Theaterdirektor und Naturforscher.
Den Effekt dieser Strategien aber bildete nicht die
Aufhebung der Einsamkeit als vielmehr deren Transformation aus einem
auferlegten negativen Schicksal in einen selbstgewählten Zustand der
schöpferischen Abgeschiedenheit, der freiwilligen Isolation von störender
Gesellschaft und unerbetenen Besuchern, von lästigen Zerstreuungen und
Abhaltungen, die Einübung der Einsamkeit also als einer produktiven
Existenzweise. Die Zeugnisse für diese positive Akzeptanz von Einsamkeit als
schöpferischer Zurückgezogenheit von den Alltagsgeschäften, den
gesellschaftlichen Anforderungen und den Zumutungen des Zeitgeists
rhythmisieren die Alterskorrespondenz mit den engen Freunden. „Übrigens lebe
ich denn doch sehr einsam: denn in der Welt kommen einem nichts als Jeremiaden
entgegen“, so 1807 in einem Brief aus Karlsbad an Zelter, in dem auch der Satz
steht: „Ich möchte daher das Seculum sich selbst überlassen und mich ins
Heilige zurückziehn.“[11]
1808 heißt es wieder aus Karlsbad in einem Brief an Zelter, dass Goethe seine
„Zeit abermals in der Einsamkeit nutzen werde“.[12]
Ähnlich wird der Ministerkollege Christian Gottlob Voigt immer wieder zum
Empfänger der Goetheschen Einsamkeitsbekundungen, wobei sich im Falle der
Briefe an Voigt der Adressatenbezug darin bekundet, dass Einsamkeit hier die
produktive Distanz zum Hof bezeichnet und der Ort der Einsamkeit nicht
Karlsbad, sondern der gemeinsam betreute Wissenschaftsstandort Jena ist:
„Herzlichen Dank, daß Sie meine Einsamkeit mit einem freundlichen Wort erheitern“,
so im November 1806 aus Jena.[13]
Oder im Dezember 1807: „Übrigens ist es hier so stille, daß es mir selbst zu
still scheint, der ich um der Stille willen herübergekommen bin.“[14]
Hier schwingt noch die Ambivalenz der Einsamkeit zwischen quälendem Schicksal
und ersehnter Zurückgezogenheit mit. Im Mai 1809 spricht Goethe in einem
Brief an Voigt ironisch von der „jenaischen Einsamkeit, wo der Tag an Stille
der Nacht gleicht“,[15]
und im August dann dankt er für „erfreuliche Mitteilungen, die in meine
Einsamkeit zur guten Stunde gelangten“.[16]
Freund Meyer schließlich wird zum Empfänger der aufs höchste gesteigerten
Goetheschen Bekundung von produktiver Einsamkeit; sie erreicht ihn im Juli
1816 in einem Brief Goethes aus Tennstedt, der den Bericht über dessen
zahlreiche Aktivitäten mit dem Satz abschließt: „Und so sehen Sie hier ein
Exercitium, wie ich als Schreibemeister zu Tennstedt ein sonderbares Leben in
der absolutesten Einsamkeit führe.“[17]
Freilich haben die Freunde die entschiedene Neigung des späten Goethe, sich
ganz auf sich selbst zurückzuziehen, nicht ohne Sorge betrachtet; so schrieb
der urbane und weltoffene Wilhelm von Humboldt am 30. Juli 1819 über Goethe an
seine Frau Caroline: „Das einzige, was ich mit einer Art Schmerz an ihm bemerkte,
ist, daß er doch in seinem einsamen Leben sich so in sich zu vertiefen, in
allen seinen Ideen, ohne in neuere Ansichten einzugehen, ehern zu werden und
sich so zu beschränken scheint.“[18]
Es ist zu fragen, welche Konsequenz die Goethesche
Einsamkeit als zunächst erzwungene und dann freiwillig gesuchte Distanz zum
Alltag, zur Gesellschaft und schließlich zum Zeitgeist für sein
schriftstellerisches Werk besessen hat. Tatsächlich läßt sich Goethes Spätwerk
sowohl thematisch als auch formal als große Poesie der Einsamkeit lesen. Am 22.
April 1814 schickt Goethe an Zelter den Vierzeiler:
Zu verschweigen meinen Gewinn
Muß ich die Menschen vermeiden
Daß ich wisse woran ich bin
Das wollen die andern nicht leiden.[19]
Dies formuliert die soziale
Bedingung der Poesie der Einsamkeit des späten Goethe: die selbstgewählte
Isolation vom literarischen Publikum und dessen Urteil um der Ermöglichung des
Werks als des eigentlichen Lebensgewinns willen. Diesem Spruch lassen sich
viele vergleichbare aus dem Spätwerk zur Seite stellen, die alle eine Poetik
der Publikumsfeindschaft formulieren, die die Einsamkeit als poetische
Existenzweise voraussetzt:
Man kann nicht immer zusammen stehn,
Am wenigsten mit großen Haufen.
Seine Freunde die läßt man gehn,
Die Menge läßt man laufen.[20]
Und so stehen denn auch Figuren der
Einsamkeit im Zentrum von Goethes Spätwerk. Goethes dramatisches Spätwerk wird
von dem Festspiel Pandora eröffnet,
dessen Hauptfigur ein Einsamer ist: Epimetheus, den seine Frau Pandora, die
allegorische Verkörperung der Schönheit, verlassen hat und der sich nun,
melancholisch auf sich selbst zurückgeworfen, in einer modernen Welt
zurechtzufinden hat, die von der instrumentellen Vernunft, wie sie sein Bruder
Prometheus verkörpert, und von kriegerischen Gewaltverhältnissen bestimmt
wird. Sein Leben ist der unabschließbaren Trauer um den Verlust der Schönen und
damit des Schönen gewidmet:
Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist,
Fliehe mit abegewendetem Blick!
Wie er, sie schauend, im Tiefsten entflammt ist,
Zieht sie, ach! reißt sie ihn ewig zurück.[21]
Goethe hatte bei der Konzeption des Stücks fest geplant, ihm
einen zweiten Teil unter dem Titel
Pandorens Wiederkunft hinzuzufügen, dessen Inhalt eben derjenige sein
sollte, den der Titel versprach: die Versöhnungsphantasie der Rückkehr
Pandoras in die Wirklichkeit. Aber diesen zweiten Teil des Dramas, den er schon
genau schematisiert hatte, hat Goethe dann doch nicht mehr geschrieben: Das
Schöne kehrt nie mehr in die Welt zurück, Epimetheus, der Repräsentant des sentimentalisch-selbstreflexiven
Menschen der Moderne, bleibt auf immer einsam in der von Gewalt und
Nützlichkeitsdenken geprägten Wirklichkeit zurück. Die Prognose auf die „große
Einsamkeit“, der die Weimarischen Kunstfreunde nach dem Tod Schillers entgegen
sehen, hatte Goethe nicht lange vor der Niederschrift des Dramas formuliert,
und es ist auch diese große Einsamkeit, die sich in dem Stück reflektiert. Es
verabschiedete alle Illusionen des klassischen Jahrzehnts über eine Erneuerung
der gesellschaftlichen Wirklichkeit aus dem Geist der ästhetischen Erziehung
und mußte gerade deshalb Fragment bleiben: das unvollendete Drama Pandora als Poesie der Einsamkeit.
Einsame sind, jeder für sich, auch die vier liebeskranken
Helden des Romans, der Goethes erzählerisches Alterswerk eröffnet: Die Wahlverwandtschaften. Er erzählt
die Geschichte eines Ehepaars, das auf einem Landgut nur sich selbst, also
einsam, zu leben gedachte, dessen Leben aber durch die Hinzuziehung zweier
weiterer Menschen aus den Fugen gerät. Ihre Katastrophe vollzieht sich als
Prozeß wachsenderVereinsamung eines
jeden von ihnen: Die eine, Ottilie, zieht sich so sehr „in sich zurück“, dass
sie schon am Ende des ersten Teils „nichts weiter zu sagen“ weiß[22]
und nur noch in Form ihres Tagebuchs mit sich und der Welt kommunizieren kann,
der andere, Eduard, flieht in seiner Sehnsucht nach dem „Untergang“[23]
in die Kommunikationskatastrophe des Kriegs, der eine, der Hauptmann, ergeht
sich in einem kommunikationsunabhängigen Pragmatismus, die andere,
Charlotte, in einer kommunikationsresistenten Moralität, bis sie sich am
Ende, durch Neigung und Begehren einander zugetan, jeder für sich so sehr
verinselt haben, dass zwei von ihnen sterben und die beiden anderen so erstarrt
und schicksalslos zurückbleiben, dass der Roman von ihrem Fortleben nichts mehr
zu sagen weiß. Die Einsamkeit aller Beteiligten ist um so trostloser, als sie
durch Liebe begründet und durch Mitgefühl stabilisiert wird. Jeder bleibt auf
sich selbst zurückgeworfen, weil er jederzeit in die Seele des anderen blicken
kann:
Sie [Ottilie] mußte sich dabei der geräuschvollen
Geschäftigkeit erinnern, mit welcher Eduard ihr Geburtsfest gefeiert, sie mußte
des neugerichteten Hauses gedenken, unter dessen Decke man sich soviel
Freundliches versprach. Ja das Feuerwerk rauschte ihr wieder vor Augen und
Ohren, je einsamer sie war, desto mehr vor der Einbildungskraft; aber sie
fühlte sich auch nur um desto mehr allein. Sie lehnte sich nicht mehr auf
seinen Arm, und hatte keine Hoffnung, an ihm jemals wieder eine Stütze zu
finden.[24]
Als Poesie der Einsamkeit läßt sich auch der im Winter
1807/08 entstandene 17 Stücke umfassende Sonettenzyklus lesen, mit dem auf dem
Gebiet der Lyrik das Goethesche Alterswerk einsetzt: das Zeugnis der zum Scheitern
verurteilten Leidenschaft des alternden Dichters gegenüber der achtzehnjährigen
Wilhelmine Herzlieb, die Goethe selbst in einem Brief an Zelter „mehr wie
billig“ genannt hat.[25]
In einem um 1823 verfaßten Paralipomenon zu den Tag- und Jahres-Heften hat er seine Liebe zu Minchen Herzlieb als
ein Kompensationsphänomen für die 1807 in Jena erneut wachgewordene „Sehnsucht
nach dem Abgeschiedenen“, nach Schiller also, und damit als einen Effekt seiner
Vereinsamung charakterisiert, wobei sich der Schmerz über den „auf ’s neue
empfundenen Verlust“in „Liebe und
Leidenschaft“ zu einem jungen Mädchen verwandelt habe, „die, wie alles
Absolute, was in die bedingte Welt tritt, vielen verderblich zu werden drohte“.[26]
Deshalb bildet die Achse des Sonettzyklus der Imperativ zur Entwöhnung von der
zum Ideal verklärten Geliebten; das Lebensalter schreibt ihm sein „Geschick“,
die Entfernung von der jungen Frau, zwingend vor, und danach sublimiert sich
diese Liebe in das Glück der Erinnerung und die Leidenschaft in den Glanz ihrer
formalen Bewältigung im Sonett: „Was man
Geschick nennt, läßt sich nicht versöhnen, / Ich weiß es wohl und trat
bestürzt zurücke.“[27]
Zurück in die Einsamkeit.
Und so läßt sich das Goethesche Spätwerk in großen Teilen
als Poesie der Einsamkeit lesen: die Marienbader Elegie nicht nur, sondern ebenso Wilhelm Meisters Wanderjahre, denn der Held auch dieses Romans ist
und bleibt ein Einsamer, der die Geliebte, um deretwillen er seine lange
Wanderung unternimmt, im gesamten Roman nur ein einziges Mal durch ein
Fernrohr zu sehen bekommt, bevor sie ganz nach Amerika entschwindet. Ein
Einsamer ist schließlich auch der Faust des zweiten Teils der Tragödie, der der
Liebe allenfalls in Gestalt einer Phantasmagorie teilhaftig wird und sich in
dem Moment, in dem diese sich in Wolken auflöst, in einen bindungsunfähigen
Militär- und Modernisierungstycoon verwandelt, der vergessen hat, was Liebe
ist und dementsprechend handelt. Deshalb bedarf es am Ende in der Bergschluchtenszene
auch eines gewaltigen Liebesaufwands, um dennnoch Fausts Erlösungsfähigkeit
dramatisch unter Beweis zu stellen.
So ist die Einsamkeit als Lebensform in der Thematik von
Goethes Spätwerk allgegenwärtig, auch wenn er den Begriff selbst dort
weitgehend gemieden hat. Aber die selbstgewählte Einsamkeit als Distanz zu den
Anforderungen des Alltags, der Gesellschaft und des Zeitgeists stellt nicht
nur in thematischer, sondern ebenso in formaler Hinsicht eine Bedingung für
den spezifischen Charakter des Goetheschen Spätwerks dar. Es ist das Werk eines
Autors, der sich auch im Hinblick auf die künstlerische Form um die Anforderungen
des Zeitgeists nicht mehr scherte und seine Distanz zum Publikum als einen
Zugewinn an künstlerischer Freiheit definierte: „Wer dem Publikum dient, ist
ein armes Tier; / Er quält sich ab, niemand bedankt sich dafür.“[28]
Nach dieser Maxime hat er konsequent in seinem Spätwerk gehandelt; es ist
Poesie der Einsamkeit auch in dem Sinne, dass ihm die selbstgewählte Isolation
und die rigorose Distanz zu den Anforderungen des Publikums überhaupt erst jene
formale Radikalität ermöglichte, die das Alterswerk Goethes insgesamt
auszeichnet. Die für ein Drama unerhörte Ausweitung des Versrepertoires, die
Goethe 1807 in Pandora vornahm, und
die hochstilisierte Kunstsprache des Stücks mit ihren Verkürzungen, Verdichtungen
und neuen Wortkompositionen überforderten die Rezeptionsgewohnheiten nicht nur
des zeitgenössischen Publikums erheblich. Der Erzähler der Wahlverwandtschaften gebärdet sich vom ersten Satz an so, als gelte
es, ein Exerzitium in romantischer Ironie besonders glanzvoll zu absolvieren:
„Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard
hatte […]“.[29]
Goethe wußte, was er dem Publikum mit diesem Roman inhaltlich und formal
zumutete, und hat ihn deshalb auch als Flaschenpost an den engen Kreis seiner
bewährten Freunde definiert: als ein, wie es 1809 in einem Brief an Zelter
heißt, „Mittel“, „mich mit meinen auswärtigen Freunden wieder einmal
vollständig zu unterhalten.“[30]
Überall in seinem Alterswerk polt Goethe das Gefühl der geistigen Isolation und
der Verlassenheit vom Zeitgeist in eine produktive Distanz zum
zeitgenössischen Publikum um, die ihm seine provozierende Altersradikalität in
allen künstlerischen Formfragen erlaubt. Der Altersroman Wilhelm Meisters Wanderjahre unterläuftin seiner komplexen Verschachtelung von
Romanhandlung und eingeschalteten Novellen und in seiner offenen Struktur bis
heute die gattungstheoretischen Kategorisierungswünsche der
Literaturwissenschaft, und im Falle der „sehr ernsten Scherze“[31]
des zweiten Faust stand Goethe das
Provokationspotential des Werks so deutlich vor Augen, dass er die radikalste
Konsequenz zog, die ein Autor ziehen kann: Er entzog es den Augen der lesenden
Welt. Die Mißachtung war wechselseitig: Keines der Goetheschen Alterswerke war
ein Erfolg beim Publikum. Sie repräsentieren also nicht nur thematisch und
formal, sondern auch im Blick auf ihre Aufnahme beim Publikum eine Poesie der
Einsamkeit.
Es entspricht der Goetheschen Alterseinsamkeit als einer
selbstgewählten produktiven Isolation von den Ansprüchen der Zeit, dass sein
Verhältnis zum eigenen Werk, aber auch zur Kunst insgesamt historisch, ja
geradezu museal wurde. Mit dem Tod Schillers erloschen die Innovationsimpulse
des Weimarer Klassizismus für immer, und das Projekt einer lebendigen Kunst-
und Kulturerneuerung aus dem Geist der griechischen Antike mündete in
Kunstgeschichte und Philologie: Im Jahre 1804 wurde der Nachlaß des großen
Klassizisten Asmus Jacob Carstens für die herzoglichen Sammlungen angekauft und
damit musealisiert; im Jahre 1805 gab Goethe das Sammelwerk Winckelmann und sein Jahrhundert heraus,
das das klassizistische Projekt durch die Methodenkoppelung von Edition und
Kunstgeschichtsschreibung gegen die eigene Absicht unwiderruflich
historisierte; im Jahre 1808 erschien der erste Band der von Goethe nachdrücklich
geförderten und zunächst von Carl Ludwig Fernow und Heinrich Meyer
herausgegebenen Winckelmann-Ausgabe. Der Klassizismus trat damit endgültig in
seine retrospektive Phase ein; das Jahrhundert Winckelmanns war zuende.
Charakteristisch für den defensiv-retrospektiven Charakter all dieser
Unternehmungen, charakteristisch aber auch für die strategische Dimension der
Goetheschen Einsamkeit als Abwehr der Zumutungen des Zeitgeists sind die Sätze,
mit denen Goethe im Jahre 1807 seinen Ministerkollegen Voigt für die Förderung
des editorischen Langfristvorhabens der Weimarer Winckelmann-Ausgabe zu
gewinnen suchte: „Ich kann in meiner gegenwärtigen Stille keine andern Plane
hegen als solche, die darauf hinausgehen, daß Weimar seinen alten literarischen
Ruf erhalten und von dieser Seite bedeutende Wirkungen äußern möge, zu einer
Zeit, da unsre Widersacher, besonders seit den letzten Unfällen, uns so gern
für vernichtet erklären möchten.“[32]
Wissenschaftsförderung also als standortorientierte Kulturpolitik, aber auch
als defensiv-retrospektive Abwehr innovativer Kulturentwicklungen im Zeichen
der Romantik, die an anderen Orten – zum Beispiel in Berlin oder Heidelberg –
bessere Entfaltungsmöglichkeiten besaßen. Dabei mußte dennoch das von Goethe
gewählte Mittel zur Sicherung der kulturellen Standortvorteile Weimars, die
Edition, den historisch-musealen Charakter der Kulturansprüche der Stadt nach
dem Tod Schillers ins Bewußtsein heben; schließlich sind auch die acht Bände
der Weimarer Winckelmann-Ausgabe, die in Goethes Bibliothek stehen, weitgehend
unaufgeschnitten geblieben, Goethe selbst hat also kaum in ihnen gelesen.
Die Tendenz zur Historisierung und zur Musealisierung
erfaßte nach 1805 auch Goethes eigene schriftstellerische und seine
Sammlungspraxis. Spätestens seit dem Oktober 1809, als er das erste Schema zu Dichtung und Wahrheit entwarf, war
Goethe als Schriftsteller – und dies bis an sein Lebensende – nicht zuletzt ein
Autobiograph, der sich im Rückblick auf das Erlebte und Geleistete und in
Abgrenzung von den seine Schreibsituation bestimmenden epochalen Tendenzen
seiner Identität versicherte und dabei zugleich seine eigene Existenz
konsequent historisierte. Die schriftstellerische Selbsthistorisierung aber
hob die Einsamkeit des Dichters nicht auf, sondern begründete und stabilisierte
sie im Medium der Selbstreflexion. Auch als Sammler schließlich bildete Goethe
nach 1805 ein historisierendes und musealisierendes Verhältnis zur Kunst aus:
Erst nach dem Tod Fernows 1808 baute er gezielt und systematisch seine
graphische Sammlung auf und unterwarf sie fortan einer kunsthistorischen
Strukturierung. Die Einsamkeit des Dichters in seiner Epoche und seine
fortschreitende Neigung zur Historisierung nicht nur seines Lebens, sondern
auch der Kunst stehen in einem Bedingungsverhältnis.
Im Falle des eigenen Werks bildete die Erarbeitung der
Gesamtausgabe die Entsprechung zur Neigung des späten Goethe zur Historisierung
und Musealisierung der Kunst. Am 21.2.1806 schloß Goethe die Redaktionsarbeiten
am ersten Band der geplanten Werkausgabe ab; die 13 Bände umfassende Ausgabe Goethe’s Werke erschien in zügiger Folge
in den Jahren 1806 bis 1810 bei Cotta.Daß Goethe die Ausgabe so rasch vorangetrieben hat, bildete nicht
zuletzt eine Konsequenz der weltpolitischen Lage. Nach dem Sieg der
napoleonischen Streitkräfte über das preußisch-sächsische Heer bei Jena und Auerstedt
im Oktober 1806 hat Goethe als Zuschauer des politischen Schiffbruchs alles
daran gesetzt, in einer großen editorischen Rettungsaktion sein literarisches
Lebenswerk in einen sicheren Hafen zu bringen; an Zelter schrieb er wenige
Wochen nach der Niederlage, die nicht zuletzt eine katastrophale Niederlage
seines Herzogs war: „Die Farbenlehre schreitet stark vor. Auch werden meine
Ideen und Grillen über die organische Natur nach und nach redigiert und so will
ich von meinem geistigen Dasein zu retten suchen was ich kann, da Niemand mehr weiß,
wie es mit dem Übrigen werden wird.“[33]Dies könnte als Motto über der produktiven
Einsamkeit seines Alters stehen: von seinem geistigen Dasein zu retten, was
gerettet werden konnte. Er tat damit dasjenige, was er nach dem Tod Schillers
zu tun sich vorgenommen hatte: das „Nächste“, und das Nächste war ihm nun
einmal das eigene Werk. So hat er denn in den politischen Turbulenzen der Jahre
nach der Niederlage Preußens alles daran gesetzt, im Medium seiner
Gesamtausgabe, während um ihn her alles zusammenbrach, „der Vergessenheit und
Vergänglichkeit zu entziehen was ich gedacht und allenfalls geleistet habe“;[34]
so schrieb er an Zelter im März 1807 in dem Brief, mit dem er diesem den ersten
Band seiner Werke übersandte.
Dabei überrascht die Konsequenz, mit der Goethe sich
parallel zur Arbeit an der Werkausgabe und auf der Höhe der politischen und
militärischen Konflikte aus allen öffentlichen Angelegenheiten zurückzog, dies
Geschäft geradezu fluchtartig und panisch seinen Ministerkollegen überließ und
sich statt dessen dem „Nächsten“, der pragmatischen Sicherung seiner Lebensverhältnisse
und seines Werks, widmete und sich im übrigen in sein „Innerstes“, den
Schutzraum der schöpferischen Einsamkeit, zurückzog. In dem selben Brief, in
dem er Zelter wenige Wochen nach der Schlacht von Jena und Auerstedt von
seinen Maßnahmen zur editorischen Rettung seines Werks unterrichtete, findet
sich der Satz: „Es war nicht Not mich der öffentlichen Angelegenheiten
anzunehmen, indem sie durch treffliche Männer genugsam besorgt wurden; und so
konnt’ ich in meiner Klause verharren und mein Innerstes bedenken.“[35]
Auch dies bezeichnet den spezifischen Charakter der Goetheschen Einsamkeit:
Während im Äußeren alles zusammenbricht, bedenkt und sichert er sein Innerstes.
Und während Zelter nach dem Zusammenbruch Preußens seine Realitätstüchtigkeit
unter großen persönlichen Opfern dem Magistrat der Stadt Berlin zur Verfügung
stellt, stellt Goethe sich in seiner „Klause“ gleichsam tot, als sei er der
Welt bereits abhanden gekommen, während er sich in Wahrheit doch nur dem ihm
Nächsten widmet; am 30. August 1807 schreibt er an Zelter, den Freund und sich
selbst nach dem ungleichen Brüderpaar Prometheus und Epimetheus aus seiner Pandora stilisierend: „Es ist wirklich
etwas prometheisches in Ihrer Art zu sein, das ich nur anstaunen und verehren
kann. Indessen Sie das kaum zu ertragende gefaßt und gelassen tragen und sich
Plane zu künftiger erfreulicher und schaffender Tätigkeit bilden, habe ich mich
wie ein schon über den Cocyt Abgeschiedener verhalten und an dem letheischen
Flusse wenigstens genippt.“[36]
Sich ganz auf das Innerste und Nächste zu konzentrieren, hieß in dieser Zeit
der kriegerischen Bedrohung eben auch, sich aus dem politischen Raum
zurückzuziehen.
Nach dieser Maxime hat er als für Wissenschaft, Kunst und
Theater zuständiger Minister nach 1805 konsequent gehandelt: Er hat seine Entscheidungen
nie im Rahmen politischer Struktur- und Rahmenüberlegungen getroffen, die
über einen Hinweis auf die gefährdeten Zeiten hinausgegangen wären, sondern
sich immer im Rahmen seiner Doppelstrategie der Einsamkeitsbewältigung auf die
pragmatische Erledigung des „Nächsten“ konzentriert. Er hat also in den Jahren
nach Schillers Tod und dann vor allem nach der Schlacht von Jena weniger als
Wissenschafts- und Kulturpolitiker operiert, der aktuelle Entscheidungen vor
dem Hintergrund langfristiger Strukturplanungen trifft, sondern als
wissenschaftlich und kulturell hochkompetenter Verwaltungsjurist, der die
aktuellen Probleme in den ihm anvertrauten Institutionen identifiziert und sie
zügig einer pragmatischen Lösung zuführt. Charakteristisch für die von Goethe
bewußt vorgenommene Abkoppelung der Wissenschaftsverwaltung von den
politischen Rahmenbedingungen in diesen Krisenjahren ist sein Briefwechsel mit
dem Ministerkollegen Christian Gottlob Voigt, mit dem er die Oberaufsicht über
das fürstliche Museum zu Jena teilte, zu dem das anatomische und das
naturhistorische Museum sowie das botanische Institut gehörten. Am 16. August
1806 teilt Voigt Goethe mit, dass er soeben das Abdankungspatent Franz II.
erhalten habe, der zehn Tage zuvor die deutsche Kaiserkrone niedergelegt hatte.
Voigt verbindet diese Nachricht mit ausführlichen Räsonnements über den
„Notstand der Zeit“ und die welthistorische Bedeutung dieses Ereignisses: „Das römische Kaiserwesen steht nun in der Reihe
der untergegangenen Reiche.“[37]
Goethe nun sagt zwar in seinem Antwortbrief vom 19. August „gehorsamsten Dank
für die Mitteilung Grund habender Neuigkeiten“, kommentiert das welthistorische
Ereignis selbst aber mit keinem Wort, sondern gibt sich mit der
ordnungsamtlichen Feststellung zufrieden, dass mit diesen Informationen dem
„Märchen produzierenden Talent der Jenenser“ ab jetzt der Boden entzogen sei.
Von dort geht er unmittelbar zu den anstehenden Geschäften über: der
Museumsabrechnung, einer Besprechung mit dem Historiker Heinrich Luden, der
Inventarisierung der mineralogischen und zoologischen Sammlung durch den
Museumskustos Johann Georg Lenz. Es ist also das „Nächste“, dem seine Sorge
gilt, und nicht das große Ganze, auf das Voigt in dieser Situation seinen Blick
richten muß. Goethe ist die Disproportion seiner Aufmerksamkeit auf die
„Museumsrechnung“ zum allgemeinen Interesse am Ende des Reichs natürlich
vollkommen bewußt, und es ist nun bemerkenswert, wie er seine briefliche
Umfokussierung vom politisch Größten aufs administrativ Nächste begründet: „Ich
möchte mit meinem Aufborgen, Abzahlen, etatsmäßigen Leisten und Amortisieren
Ew. Exzellenz nicht ungeschickt erscheinen. Es sind zwar nur Kleinigkeiten; es
ist aber nicht übel, wenn man selbst in ältern Jahren Kleinigkeiten noch so
behandelt, wie man das Große behandeln möchte und sollte.“[38]
Diese Botschaft ist eindeutig: Goethe erhebt in dieser Situation eines
welthistorischen Umbruchs die institutionelle Verantwortung für das „Nächste“,
die ihm anvertrauten wissenschaftlichen und künstlerischen Einrichtungen und
deren Mitarbeiter, zum politischen Handlungsmodell für „das Große“: die politische
Verantwortung für die Staaten und die konkrete Verantwortung für deren Bürger.
Hier gewinnt die Goethesche Einsamkeit, der Rückzug aufs „Nächste“ und ins
„Innerste“, ihre politische Dimension: nicht im Sinne eines apolitischen
Quietismus, sondern im Sinne eines politischen Handelns im Zeichen der
konkreten individuellen Verantwortung aller politischen Akteure für die ihnen
anvertrauten Institutionen und diejenigen, die in ihnen leben. So wie er sich
um das Museum kümmerte, so „sollten“sich die Regenten um das „Große“ der Staatenwelt kümmern: mit dem Blick
auf Bedeutung, Nutzen und Tradition der ihnen anvertrauten Institutionen und
mit Sorge für den einzelnen, für jene „Kleinigkeiten“, die so leicht unter die
Räder der welthistorischen Prozesse geraten.
Nach dieser Maxime hat Goethe in den Jahrzehnten nach
Schillers Tod unter den Bedingungen mannigfacher politischer und militärischer
Gefährdungen operiert: im Sinne der Erhaltung und Förderung des ihm anvertrauten
„Nächsten“ unter möglichster Ausklammerung aller Bedingungen, die die
weltpolitische Lage mit sich brachte, und aller Zumutungen, die der auf die
politischen Entwicklungen reagierende Zeitgeist an ihn richtete. Dabei half
Goethe die Rollenverteilung zwischen seinem Ministerfreund Voigt und ihm selbst
ganz außerordentlich: Er ließ Voigt, wie er ihm am 26. August 1806 schrieb,
„die wichtigsten Sorgen für Gegenwart und Zukunft“[39]
übernehmen, konnte sich damit das aktuelle politische Räsonnement ersparen und
heftete, in ständiger Abgrenzung des ihm anvertrauten Kleinen von dem sich
seinem Zugriff entziehenden Großen, seinen Blick auf das Nächste, also zum
Beispiel auf die Finanzierung der Jenenser wissenschaftlichen Sammlungen; über
deren Haushalt schrieb er wenige Wochen vor der Schlacht von Jena und Auerstedt
an Voigt: „Würde in dem Laufe des Jahres unsere Supellex [die Ausstattung]
etwas gar zu knapp, so wäre es immer noch Zeit, allenfalls ein paar hundert
Taler aufzunehmen. Soviel von diesen kleinen wissenschaftlichen Finanzen. Möge
im Großen alles gelingen, daß wir, wo nicht zu den Gewinnenden, doch wenigstens
nicht zu den Verlierenden gerechnet werden.“[40]
Es gelang aber im Großen keineswegs alles, und so gehörte denn schon wenige
Wochen später das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach entschieden zu den
Verlierenden. Und da tat nun Goethe bereits wenige Tage nach der verlorenen
Schlacht von Jena dasjenige, was zu tun er sich angewöhnt hatte: Er richtete
den Blick auf das ihm anvertraute Nächste. Während sich Voigt auf die Folgen
der Niederlage für das gesamte Herzogtum und damit auf gewaltige
Kontributionen einzurichten hatte, dachte Goethe an die seiner Aufsicht
unterstellten Jenenser naturwissenschaftlichen Sammlungenund deren finanzielle Sicherung in einer
Situation allgemeiner institutioneller Auflösung. Er sah, dass im allgemeinen
Chaos eingetreten war, was er in Friedenszeiten in seinem Brief an Voigt acht
Wochen zuvor bereits als Befürchtung ausgesprochen hatte: dass es im Haushalt
der Jenenser Sammlungen zu Engpässen kommen und die Nachbewilligung von „ein
paar hundert Talern“ notwendig werden könnte. Eine Woche nach der verlorenen
Schlacht, am 21. Oktober 1806, schrieb er deshalb an Voigt: „Möchten Ew.
Exzellenz nicht etwa 100 oder 200 Rtlr. auszahlen lassen, daß ich nur einen
kleinen Fond hätte, um für diesen Winter die jenaischen Dinge kümmerlich
durchzuführen?“[41]
In Initiativen wie dieser bewährte sich die Goethesche Doppelstrategie der
Lebensbewältigung, auf die er sich nach dem Tod Schillers einzurichten begonnen
hatte: Einsamkeit als produktive Lebensform jenseits der Ansprüche und
Prioritäten, die von der allgemeinen Lage und vom Zeitgeist vorgeschrieben
wurden, in Verbindung mit pragmatischer Tätigkeit im lokalen wie temporalen
Nahbereich im Sinne einer konkreten Verantwortung für dasjenige, was ihm
anvertraut war.
[1] Goethes
Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. I. Abtheilung, Bd.
36, Weimar 1893, S. 266. – Die Anmerkungen beschränken sich, wie es dem Charakter
einer philologischen Skizze gemäß ist, auf die Zitatnachweise. Es soll aber vermerkt
werden, dass diese Skizze wichtige Anregungen im Hinblick auf Goethes Haltung
zu den Zumutungen des Zeitgeists den aus dem Nachlaß veröffentlichten
Goethe-Texten Hans Blumenbergs verdankt; Hans Blumenberg: Goethe zum Beispiel.
In Verbindung mit Manfred Sommer hg. vom Hans Blumenberg-Archiv. Frankfurt am
Main und Leipzig 1999.
[2]
Arthur Henkel: Entsagung. Eine Studie
zu Goethes Altersroman. Tübingen 1954, S. 2. Zur gegenwärtigen Diskussion um
den Begriff der Entsagung bei Goethe vgl. den von Hans-Jochen Gamm verfaßten
Artikel „Entsagung“ im Goethe Handbuch. Hg. von Bernd Witte u.a. Bd. 4/1.
Stuttgart/Weimar 1998, S.268–270. Einen Artikel „Einsamkeit“ enthält das
Goethe Handbuch bezeichnenderweise nicht – im Unterschied zu seinem acht Jahrzehnte
älteren Vorläufer: Goethe-Handbuch. Hg. von Julius Zeitler. Bd. I. Stuttgart
1916, S. 464–466.
[3] Johann
Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe.
Bd. 20.1. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832.
München/Wien 1991, S. 98. (die Bände der Münchner Ausgabe werden im folgenden
mit der Sigle MA zitiert.)
[4] Ebd.,
S. 197.
[5] Ebd.,
S. 198.
[6] Ebd.,
S. 309.
[7] Ebd.,
S. 324.
[8] Ebd.,
S. 103.
[9] Ebd.,
S. 106.
[10] Ebd.,
S. 108.
[11] Ebd.,
S. 155f.
[12] Ebd.,
S. 183.
[13] Goethes
Briefwechsel mit Christian Gottlob Voigt. Bd. III. Unter Mitwirkung von Wolfgang
Huschke bearbeitet und hg. von Hans Tümmler. (Schriften der Goethe-Gesellschaft.
Bd. 55.) Weimar 1955, S. 145.
[14] Ebd.,
S. 179.
[15] Ebd.,
S. 230.
[16] Ebd.,
S. 249.
[17] Goethes
Briefwechsel mit Heinrich Meyer. Hg. von Max Hecker. Bd. 2. (Schriften der
Goethe-Gesellschaft. Bd. 34.) Weimar 1919, S. 370f.
[18] Wilhelm
und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hg. von Anna von Sydow. Bd. 6. Im
Kampf mit Hardenberg 1817-1819. Berlin 1913, S. 580.
[19] MA
20.1, S. 346; MA 9. Epoche der Wahlverwandtschaften 1807–1814, München/Wien
1987, S. 106.
[20] MA 9,
S. 134.
[21] Ebd.,
S. 176.
[22] Ebd.,
S. 401.
[23] Ebd.
[24] Ebd.,
S. 416.
[25] MA
20.1, S. 311.
[26] WA I,
Bd. 36 (wie Anm. 1), S. 391.
[27] MA 9,
S. 15.
[28] MA 9,
S. 134.
[29] Ebd.,
S. 286.
[30] MA
20.1, S. 211.
[31] So
Goethe am 17. März 1832 in seinem letzten Brief an Wilhelm von Humboldt;
Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander v. Humboldt. Hg. von Ludwig
Geiger. Berlin 1909, S. 287.
[32] Goethes
Briefwechsel mit Voigt (wie Anm. 11), S. 161.
[33] MA
20.1, S. 142.
[34] Ebd.,
S. 143.
[35] Ebd.,
S. 142.
[36] Ebd.,
S. 162f.
[37] Goethes
Briefwechsel mit Voigt (wie Anm. 11), S. 121.
[38] Ebd.,
S. 122.
[39] Ebd.,
S. 125.
[40] Ebd.,
S. 125f.
[41] Ebd.,
S. 137.
Mit freundlicher Genehmigung der Akademie der Wissenschaften und der Künste Mainz
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