Erschienen in Ausgabe: No 40 (6/2009) | Letzte Änderung: 30.08.11 |
Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen erläutert, wie die Familie mit der Alzheimer-Krankheit ihres Vaters Ernst Albrecht umgeht.
von Ursula von der Leyen
Focus: Aus eigener Erfahrung wissen Sie, was Angehörige von
Alzheimer-Patienten bewegt. Nun werben Sie für mehr Verständnis für die
Familien und einen offenen Umgang mit der Erkrankung. Warum?
Ursula von der Leyen: Wenn Menschen an Alzheimer denken,
haben sie meistens ein Horrorszenario im Kopf. Es ist die Vorstellung von
aggressiven, wirren alten Menschen, die durch die Gegend irren ein Zerrbild,
denn im Frühstadium stehen die Patienten über viele Jahre noch voll im Leben.
Am Anfang führt der langsame Verlust des Kurzzeit- und Namensgedächtnisses zu
Missverständnissen und peinlichen Situationen. Die Familien ziehen sich deshalb
gemeinsam mit dem Alzheimer-Kranken aus Scham und Unwissen zurück. Dabei
bräuchten sie gerade das Gegenteil: viele soziale Kontakte, Verständnis und
Unterstützung.
Focus: Warum haben die Menschen gerade vor
Demenzerkrankungen so große Scheu?
Ursula von der Leyen: Alzheimer gilt hierzulande noch als
Tabudiagnose. Die Medizin zeigt therapeutische Hilflosigkeit, in der
Pflegeversicherung haben wir erst in diesem Jahr die Demenz als besondere
Pflegeform berücksichtigt. Dabei erkranken jedes Jahr 250.000 Menschen neu an
einer Demenz. Von den 1,1 Millionen Betroffenen in Deutschland werden zwei
Drittel zu Hause von den Angehörigen versorgt. In jeder Familie verändert sich
damit das Zusammenleben einschneidend. Deshalb braucht es Eisbrecher für dieses
Thema. Ronald Reagans Krankheit hat die Forschung unglaublich stark
vorangetrieben. Ich selber habe es auch als Entlastung empfunden zu lesen, wie
Margaret Thatchers Tochter die Veränderungen bei ihrer Mutter schildert.
Focus: Fiel es Ihnen schwer, offen über die Erkrankung
Ihres Vaters zu sprechen?
Ursula von der Leyen: Der Entschluss dazu war natürlich
sehr schwierig. Es ist ein schmaler Grat des Abwägens zwischen Privatsphäre und
dem Werben um Schutz und Verständnis. Trotzdem sage ich heute, es war richtig.
Focus: Warum?
Ursula von der Leyen: Ich hätte sonst unentwegt versucht,
meinen Vater zu kontrollieren, um unangenehme Situationen zu vermeiden. Das wäre
aber gar nicht gegangen, denn er ist sehr gerne in Gesellschaft. Und diese
Kontaktmöglichkeiten helfen sehr. Jetzt kann er sich weiterhin unbeschwert in
der Stadt und in Niedersachsen bewegen, ohne Missverständnisse zu provozieren
und Gesprächspartner zu irritieren.
Focus: Irritieren?
Ursula von der Leyen: Nun, Alzheimer-Kranke können sich mit
jemandem unterhalten, den sie seit Jahrzehnten gut kennen, und am Ende des
Gesprächs sagen: "Es war schön, Sie kennen gelernt zu haben." Nur
Eingeweihte können so ein Kompliment sofort verstehen.
Focus: Ihr Vater hat sich bereits vor fast sechs Jahren
wegen Gedächtnisstörungen untersuchen lassen und die Diagnose Alzheimer
bekommen...
Ursula von der Leyen: ...und mit mir und meinen Brüdern in
aller Klarheit darüber gesprochen. Dazu gehörte ein hohes Maß an Offenheit.
Focus: Hat dies die Situation erleichtert?
Ursula von der Leyen: Ja, das hat unglaublich geholfen,
denn uns war damals noch gar nichts aufgefallen. Nach dem ersten Entsetzen über
die Diagnose konnten wir gemeinsam besprechen, wie es weitergehen soll.
Focus: Was waren die nächsten Schritte?
Ursula von der Leyen: Mein Vater ist verwitwet. Er sagte
deutlich, dass er nicht mehr alleine leben wollte. Da ich, anders als meine
Brüder, ohnehin in der Gegend wohnte, lag es nahe, dass wir mit unseren Kindern
zu ihm ziehen. Natürlich mussten wir erst klären, wo unsere gemeinsamen
Berührungspunkte liegen und wo die Privatsphäre jeweils beginnt. Beide Seiten
mussten zu Kompromissen bereit sein.
Focus: Hat sich Ihre Haltung gegenüber der Krankheit
verändert?
Ursula von der Leyen: Als ich von der Diagnose erfuhr,
hatte ich große Angst vor der Zukunft. Heute, nach mehr als fünf Jahren, bin
ich viel gelassener und pragmatischer geworden. Mich interessiert, wie wir
diesen Tag und die nächsten vier Wochen gut schaffen oder auch das nächste
halbe Jahr. Aber mich interessiert nicht, wie es in vier Jahren sein wird. Das
wird sich dann ergeben.
Focus: Was stützt Ihre Zuversicht?
Ursula von der Leyen: Es hilft enorm, dass wir eine so
große Familie sind. Ich kann mich mit meinen Brüdern beraten, und sie kommen
regelmäßig zu uns. Mein Mann ist viel für meinen Vater da. Natürlich sind auch
die Kinder eine Riesenhilfe, auch weil sie die täglichen Aufs und Abs mit viel
Humor nehmen. Heikle Vorfälle mit dem Großvater, die mich zutiefst belasten,
finden die Kinder oft komisch. Und zum Schluss muss ich selber schmunzeln.
Focus: Wie kommen die Enkel mit ihrem Großvater zurecht?
Ursula von der Leyen: Sie freuen sich, dass er da ist, und
besuchen ihn gern, auch weil es in seinem Teil des Hauses wunderbare
Spielsachen und den großen Fernseher gibt. Dort kann man toll die
"Sportschau" sehen. Und zwar gemeinsam mit dem Großvater, der sie
auch leidenschaftlich gern guckt. Dann sitzen ein zehn- und ein 78-jähriger Fan
auf demselben Sofa.
Focus: Sie vermitteln den Eindruck, Ihrem Vater ginge es
gut.
Ursula von der Leyen: Er fühlt sich fit und ist zufrieden,
weil er seit einiger Zeit nicht mehr wahrnimmt, was Alzheimer in seiner ganzen
Konsequenz bedeutet. Dennoch nennt sein Arzt die gegenwärtige Phase die
schwierigste der Erkrankung.
Focus: Was meint er damit?
Ursula von der Leyen: Wenn der Patient noch sehr aktiv,
sehr kommunikativ ist, kann er dank seiner Intelligenz und Lebenserfahrung noch
viele Umgehungswege finden. Wörter, die fehlen, werden umschrieben. Nahe
Freunde oder völlig Fremde werden mit Ritualen oder Floskeln, die ja seit
Jahrzehnten eingeübt sind, gleichermaßen freundlich behandelt. Und es ist ein
wenig wie in der Pubertät, wo der Mensch auch immer seine Grenzen austestet.
Und da drohen Gefahren.
Focus: Welche?
Ursula von der Leyen: Sie betreffen den Straßenverkehr
ebenso wie Geldgeschäfte oder Medikamenteneinnahme.
Focus: Alzheimer-Patienten versuchen oft, Fehler zu
vertuschen. Damit wollen sie ihre Selbstständigkeit bewahren, sagen Experten.
Ursula von der Leyen: Und sie haben Recht aus ihrer
Situation gesehen. Wie muss es schwer und beängstigend sein, wenn Namen,
Menschen, Orte nicht mehr zueinandergehören! Demenzkranke können sich kaum noch
auf die Gefühle anderer einstellen, aber sie haben dennoch ein reiches
Innenleben, fühlen Trauer und Freude. Wir haben ein Forschungsprojekt
imFamilienministerium finanziert, das Pflegepersonal diese Zugangswege zu
Demenzpatienten zeigt. Jetzt erweitern wir diesen Ansatz für Angehörige. In der
Versorgungsforschung passiert allerdings viel zu wenig.
Focus: Wie gehen Sie mit der Belastung um, die die
Gemeinschaft mit dem Vater auslöst?
Ursula von der Leyen: Es hilft, dass wir viele in der
Familie sind. Und es hilft, dass mein Mann und ich unsere Berufe haben und so
immer wieder Abstand finden. Mein Vater hat eine Hilfe im Haushalt und gute
Freunde, die weiterhin treu für ihn da sind. Schließlich versuche ich über
Literatur oder Gespräche mit Ärzten, so viel wie möglich zu lernen, was anderen
in ähnlichen Situationen schon geholfen hat.
Focus: So viel Beistand würde man allen Menschen, die sich
um alzheimerkranke Angehörige kümmern, wünschen.
Ursula von der Leyen: Genau dies ist das Grundprinzip für
die Politik, Angehörige nicht allein zu lassen.Es beginnt bei umfassender
Beratung in Gedächtnisambulanzen oder Pflegestützpunkten. Dazu kommen
spezialisierte Arztpraxen, Pflegedienste und Tagesambulanzen. Außerdem müssen
die Familien Entlastung im Alltag bekommen. Wir schulen deshalb ehrenamtliche
Demenzbegleiter. Das sind Laien, die sich Zeit nehmen und bereit sind, sich auf
den Kranken einzulassen, mit ihm Puzzles zu legen, spazieren zu gehen und alte
Geschichten anzuhören. Abwechslung schützt die Angehörigen davor, im Hamsterrad
verrückt zu werden. Die Familien brauchen Hilfe!
Das Interview ist am 15. Dezember 2008
im "Focus" erschienen. Das Interview führte Regine Albers. Quelle:
FOCUS 51/2008 vom 15.12.2008. Mit freundlicher Genehmigung des "Focus".
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