Erschienen in Ausgabe: No. 36 (2/2009) | Letzte Änderung: 21.03.10 |
von Stefan Groß
Die
empiristische Philosophie von Gilles Deleuze ist in Deutschland
bislang wenig rezipiert worden. Immer wieder wurde diesem
postmetaphysischen Denker Obskurantismus und platter Nihilismus
seitens seiner Kritiker vorgeworfen. Deleuze setze alle begrifflichen
Regeln außer Kraft, stelle lediglich Spurenelemente, Verschiebungen,
Differentes an den Anfang seiner Spekulationen und deshalb kulminiere
sein Denken in einer Aufhebung der Philosophie als Wissenschaft.
Dieser Vorwurf mag sicherlich zu einem Teil berechtigt sein und auf
den späten Deleuze zutreffen, für den Deleuze von Differenz und
Wiederholung und Logik des Sinns ist dieser Vorwurf
unberechtigt, denn hier unternimmt er den Versuch einer kritischen
Destruktion sowohl des Transzendentalismus Kantischer Prägung als
auch des Empirismus von Hume. Anstelle von Transzendentalphilosophie
und Empirismus setzt er seinen transzendentalen Empirismus, der den
Kantischen Dualismus und den reinen Empirismus einer kritischen
Analyse unterzieht. Statt einer repräsentierenden Einheit, durch die
die lebensweltlichen Erscheinungen geordnet werden, setzt Deleuze die
Differenz, die er aus dem Bannkreis von Identität und Negation zu
befreien sucht. Die Lebenswelt, die Erkenntnis derselben, läßt sich
nicht unter eine synthetische Einheit subsumieren, sondern zeigt sich
als differentes Gebilde, das an die Stelle des Einen das All-Eine
setzt, da die moderne Alltagswelt die der Simulakren ist. In dieser
existiert kein universeller Code, sondern das „informelle Chaos“.
Die Umwelt oder Lebenswelt ist damit nicht gegeben, sondern befindet
sich in permanenter Verschiebung, in einem zeitlichen Werdensprozeß,
in einer ewigen Wiederkehr, sie hat es stets und ständig mit
veränderten Ereignisketten, mit sich verändernden Qualitäten und
Quantitäten zu tun; sie ist nicht monadisch erklärbar, sondern
nomadisch, transversal, unsystematisch strukturiert und erzeugt
permanent unerwartete Differenzen. In einer Philosophie der Differenz
kulminiert daher der „Sinn des Seienden“, sie ist die
transzendentale Voraussetzung um die Lebenswelt zu entschlüsseln, um
sie in ihrer Mannigfaltigkeit auszuloten. Die konstitutive Differenz
als „begriffloses Denken“ ist aber nicht nur die Voraussetzung
begrifflichen Denkens, sie konstruiert erst die Begriffe, wie Deleuze
in dem gemeinsam im Guattari verfaßten Werk Was ist Philosophie?
von 1991 postuliert.
Die konstituierende Funktion, die der Differenz als „Immanenz“
zugrunde liegt, führt unweigerlich zu einer Genealogie des Wissens,
zu einer Genesis des Begriffs, die unabschließbar ist. Die Frage,
die sich dabei stellt, ist: Was bringt das Immanenztheorem für das
Ich der modernen Lebenswelt? Was kann ein transzendenter Empirismus
leisten?
In einem 2008 bei diaphanes erschienenen schmalen Buch wird sich dem
Thema Deleuze wieder angenähert, auch dies geschieht nicht seitens
des deutschen-akademischen Diskurses, sondern von zwei Kennern der
französischen Tradition – Jean-Luc Nancy und René Schérer, zwei
Emeriti, die in Frankreich höchstes Ansehen genießen. Nancy (geb.
1940) und Scherér (geb. 1922) sind Zeitzeugen, Schérer lehrte wie
Deleuze an der Universität Paris 8 (Vincennes). Deleuze zu
verstehen, so wird auch hier wiederum deutlich, ist schwierig, seine
Texte entziehen sich dem Zugriff, sobald sich der Interpret ihnen
nähert. Ouvertüren zuGilles Deleuze – unter diesem
Titel liegen die sehr persönlich gehaltenen Versuche einer
Annäherung an die Thematik Deleuze vor. Während Nancy vom
Deleuze’schen Begriff der Falte ausgeht, um sich aus ganz anderer
Sicht diesem Denken zu nähern, analysiert Schérer Deleuze als
Lehrer, als einen, dem es primär um das Fragen geht, der Lernen als
einen unabschließbaren Prozeß versteht, der sich stets und ständig
konstituiert, zugleich auch wieder de- und reterritorialisiert. In
dieser Öffnung eines ewigen Lernprozesses, der bei Deleuze selbst
Ereignischarakter hat, sieht Schérer die gewaltige Kraft dieses
Denkens, das sich nicht im statischen Wissen zu verbergen sucht, sich
im Kognitiven einnistet, sondern permanent aus sich heraus treibt,
permanent auf dem Weg zum Wissen ist, das sich in seiner
Unendlichkeit ausfaltet, einfaltet und wieder von neuem anfängt. Mit
dieser Offenheit des Lernens verfängt sich Deleuze, so Schérer,
keineswegs in einem diffusen Lern- und Verstehensprozeß, sondern
stellt die unermüdliche Arbeit des Denkens heraus, die sich an der
Lebenswirklichkeit abarbeitet. Es sind die großen Fragen der
Existenz, die den Fragenden vorantreiben, die ihn im Strudel des
Fragens permanent zu neuen Öffnungen, Ereignissen und Rhizomen
führen. Das Leben erweist dann tieferen Sinn, wenn es in dieser
Offenheit steht, wenn es sein Wissen ständig auf neue Fragen hin
entwirft. „Denn das Problem des Denkens ist eben die Erfindung von
Gedanken, mehr als ihre Organisation in Propositionen und Urteilen,
die man über sie fällt. (59) […] Das Lernen folgt dem Weg der
Begegnungen und der Liebschaften – und nicht den Methoden einer
stets ohnmächtigen Pädagogik ohne Leidenschaft“ (62). Deleuzes
Philosophie war selbst ganz dieser Offenheit des Lernens
verpflichtet, auch und gerade dort, wo er sich der Geschichte der
Philosophie zuwandte. Für ihn galt es nicht die unendlich oft
gestellten Fragen der abendländischen Geistesgeschichte aus dem
Kontext ihrer geistigen Väter zu ergründen, sondern an den
Randstellen, an den Falten und an den Brüchen ihres Denkens
weiterzudenken, lernen als Differenzierung des Wissens, als
Weiterdenken oder zumindest Weiterfragen. Seine Schriften zu
berühmten Philosophen, sei es zu Spinoza, Kant, Nietzsche, Bergson
und Foucault sind dieser Offenheit des Lernprozesses gewidmet. All
diese Werke sind keine Biographien, sondern originäre Leistungen
eines weiterführenden Fragens. Die Offenheit des Denkens – dies
ist es, was wir von Deleuze lernen können, und wozu uns das Buch von
Nancy und Schérer eine schöne Anleitung gibt.
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